Asiatische Muntjaks breiten sich in Europa aus

Kleiner Hirsch, großes Problem

Niedlich, aber inzwischen eine Plage: Eingeschleppte Zwergmuntjaks breiten sich in Europa aus © Sasastro/ CC-by-sa 2.0

Von fünf auf über 50.000: Wer an invasive Arten denkt, dem fallen Hirsche wohl nicht als Erstes ein. Doch der Chinesische Muntjak belehrt uns eines Besseren: Er hat sich in Großbritannien bereits rasant ausgebreitet und ist dort zur echten Plage geworden. Das droht sich nun in Kontinentaleuropa zu wiederholen.

Er ist klein, hat aber Appetit auf alles Mögliche. Taucht er aus seiner Deckung auf, stiftet er Verwirrung oder löst Unfälle aus: der Chinesische Muntjak, eine Zwerghirschart, die sich nicht nur im Reich der Mitte wohlfühlt. Als der Muntjak vor über hundert Jahren in England ausgesetzt wurde, war er ein Exot. Inzwischen gilt er dort als Plage. Und mittlerweile hat er in Kontinentaleuropa seinen ersten Brückenkopf erobert, von dem aus der Durchmarsch weitergeht.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016

Wie sich die Muntjaks über Großbritannien ausgebreitet haben

Rasanter Siegeszug

Der Chinesische Muntjak, auch Zwergmuntjak genannt, ist mit 50 Zentimeter Schulterhöhe die kleinste Muntjakart aus der Familie der Hirsche. Muntjaks leben von Natur aus in Asien. Im 19. Jahrhundert waren wenige Einzeltiere von China nach England exportiert und dort in Zoos und Tierschauen gezeigt worden. Im Londoner Zoo vermehrten sich die Tiere.

Die ersten britischen Muntjaks gelangten aus dem Zoo von Bedford in die Freiheit. Hier ein Zwerghirsch in eimem Zoo. © Big_ashb/ CC-by-sa 2.0

Drastische Zunahme

1901 dann wurden aus einem Park in Bedfordshire, der vom Zoo Tiere übernommen hatte, die ersten elf Muntjaks in die Freiheit entlassen – die Gründerpopulation in Britanniens freier Wildbahn. Weitere später freigelassene Tiere gehörten ebenfalls zur Linie des Londoner Zoos. Forscher schätzen die Zahl der Chinesischen Muntjaks im Vereinigten Königreich heute konservativ auf 52.000. Zum Vergleich: Die Bestände in China und Taiwan sollen sich auf etwa 118.000 Tiere belaufen. Die Spezies hat laut Weltnaturschutzunion IUCN den Status „gering gefährdet“.

Die Art breitet sich auf den britischen Inseln derzeit jährlich um einen Kilometer nordwärts aus und hat inzwischen die Grenze zu Schottland erreicht, erfolgreich Wales und Englands Südwesten erobert und kommt neuerdings sogar in Irland vor. Die Abschüsse durch Jäger stiegen derweil zwischen 1961 und 2009 um mehr als das Siebzehnfache.

Spurensuche im Genom

Forscher um Marianne Freeman von der Queen’s University in Belfast wollten wissen, wie groß die Ursprungspopulation in England war. Damit sollte die Frage geklärt werden, ob Hirscharten zur erfolgreichen invasiven Art werden können, wenn nur wenige Einzeltiere die Erstpopulation bilden. Für ihre Studie entnahmen die Forscher 176 britischen Muntjaks DNA-Proben und analysierten die Mikrosatelliten aller Tiere – kurze, sich wiederholende Abschnitte der DNA.

Muntjak, ertappt in einem englischen Waldgebiet. © Evelyn Simak/ CC-by-sa 2.0

Sie entdeckten acht sogenannte mitochondriale D-Loop-Sequenzen. Dahinter verbergen sich Varianten einer Sequenz aus DNA-Bausteinen auf ein und demselben Chromosom. Unter den acht Sequenzen wurden keine ungleichgewichtigen Verbindungen gefunden. Die genetische Distanz zwischen den untersuchten Muntjaks war damit verschwindend gering. Zum Vergleich wurden Genproben der taiwanesischen Unterart Muntiacus reevesi micurus herangezogen.

Am Anfang stand nur eine Handvoll Weibchen

Im „Journal of Zoology“ legte das fünfköpfige Team nun seine Erkenntnisse vor. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die ganze Invasion auf ein einziges Gründungsereignis unter Einbezug einer kleinen Zahl von Weibchen zurückgeführt werden kann“, schreiben die Forscher. Konkret sollen vier oder fünf Muntjak-Weibchen die Gründermütter der heutigen Population sein.

Die Forscher schlussfolgern daraus, dass selbst kleinste Freilassungsaktionen zu einer unumkehrbaren und kostenträchtigen invasionsartigen Ausbreitung der Spezies führen können – auch wenn die genetische Vielfalt der ausgesetzten Tiere sehr gering ist.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016

Der "Flaschenhals" ist nicht immer ein Problem

Ein paar Pioniere genügen

Artenschutz-Biologen sind in der Vergangenheit davon ausgegangen, dass ein hohes Maß an Erbgutvielfalt und eine ganze Reihe von Aussetzungen oder Einwanderungsschüben zwingend nötig sind, damit sich eine eingewanderte oder neu eingeführte Art auf Dauer etablieren kann.

Andernfalls drohe ein genetischer „Flaschenhalseffekt“, so dachte man: Populationen gehen dann auf wenige Gründer- oder Pionierindividuen zurück und können daher zum Beispiel anfälliger für Krankheiten sein. Ein Beispiel für den Effekt sind Afrikas Geparde oder Europas Wisente – beides Arten, die einmal am Rande der Ausrottung standen, aber dem Artentod entgangen sind.

Ebenfalls ein erfolgreicher Invasor mit nur kleinen Anfangs-Populationen: das aus Nordamerika nach Europa eingeschleppte Grauhörnchen. © Sannse/ CC-by-sa 3.0

Algen, Hörnchen und Hirsche

Aber das ist offensichtlich nicht immer so: Beispiele für invasive Arten, die mit einer kleinen Zahl von Pionier-Individuen Neuland eroberten, machten Forscher bereits einige aus, so die „Killeralge“ Caulerpa taxifolia im Mittelmeer. Auch wurde schon nachgewiesen, dass die Freilassung eines einzigen Paares von Grauhörnchen mit mehr als 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zur Gründung einer neuen Population führt.

Im Reich der Hirsche beschränkt sich das Invasoren-Problem längst nicht mehr auf Muntjaks. Ein Viertel aller weltweiten Hirscharten wurde vom Menschen außerhalb der ursprünglichen Verbreitungsgebiete ausgesetzt. Ein Beispiel ist der von Natur aus in Ostasien heimische Sikahirsch, der heute auch in Europa, Australien, Neuseeland, den USA und selbst in Marokko und auf Madagaskar vorkommt.

„Wachsamkeit ist geboten“

Die britischen Muntjak-Forscher um Marianne Freeman sehen ihre Erkenntnisse zu den britischen Muntjaks auch als Warnung vor der Gefahr, dass schädlichen invasiven Arten eine kleine Gründerpopulation genügen kann, um neues Terrain zu erobern. „Selbst bei kleinen Freisetzungsaktionen von Arten wie dem Muntjak ist Wachsamkeit geboten“, warnen die Forscher. Andernfalls könne es zu irreversiblen biologischen Invasionen kommen, ganz gleich wie klein der ursprüngliche Genpool sei.

Zugleich sehen sie aber auch bessere Chancen für Wiederansiedlungen lokal ausgestorbener Arten. Oft genügten schon wenige Individuen, um einer Spezies eine neue Chance zu geben, heißt es in der Studie. Erfolgsbeispiele seien der Sattelvogel in Neuseeland, der Alpensteinbock und in China der Davidshirsch, der in freier Wildbahn zwischenzeitlich ausgestorben war.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016

Muntjaks als Schädlinge?

Vermehrung mit Folgen

Die Zwergmuntjaks profitieren davon, dass sie sich – anders als andere Hirscharten – das ganze Jahr über vermehren und schon mit 36 Wochen geschlechtsreif werden. Bereits nach zwei Monaten sind die Kitze entwöhnt. Die Lebenserwartung in freier Wildbahn beträgt zudem bis zu zwölf Jahre. Die Vielzahl von Generationen seit ihrer ersten Freilassung in England macht damit den ursprünglichen genetischen „Flaschenhalseffekt“ vergessen.

Muntjak-Kitze wachsen schnell heran und werden schon mit 36 Wochen geschlechtsreif. © Packa/ CC-by-sa 3.0

Den Zwerghirschen kommt zudem das atlantische, vom Golfstrom geprägte Klima Großbritanniens sehr entgegen: Die aus den Subtropen stammenden Tiere brauchen milde Winter, die es dort in der Regel gibt. Zudem fressen sie liebend gern Wintergetreide, was zumindest in Westeuropa breitflächig angebaut wird.

Schäden für Natur und Landwirtschaft

Die Ausbreitung der Muntjaks hat auf der Insel längst zu erheblichen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden geführt. Die Forscher führen als Beispiele Kollisionen der Zwerghirsche mit Autos an – geschätzt 15.000 pro Jahr. Die Muntjaks übertragen zudem, wie manche andere Wildtiere, die Erreger von Rinder-Tuberkulose und Maul-und-Klauenseuche. Dazu kommen Ernteschäden bei Bauern und der Rückgang der Bodenvegetation in Wäldern.

Muntjaks fressen vor allem Laub, aber auch Rinde, Früchte und sogar Vogelgelege. © Alfonsopazphoto /CC-by-sa 3.0

Der Bodenvegetation und Waldverjüngung schaden die Zwergmuntjaks nach dem heutigen Stand der Forschung aber erst nachhaltig, wenn die Populationsdichte 25 und mehr Individuen je Quadratkilometer erreicht. Werden die einzelgängerischen, sich meist im Dickicht verbergenden Muntjaks jedoch nicht bejagt, können sie Populationsdichten von 20 bis 120 Tieren je Quadratkilometer erreichen.

Muntjaks sind eher Laub-Äser als Grasfresser. Zu ihrer Kost zählen neben Blättern, Trieben, Samen, Rinden aber auch Blumen, Früchte – vor allem Brombeeren – und sogar die Gelege bodenbrütender Vögel. In Großbritannien sollen Muntjaks laut Untersuchungen für den lokalen Rückgang von Nachtigallen, Drosseln und Gartengrasmücken mitverantwortlich sein.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016

Wenig Nischen-Konkurrenz und wenig Feinde

Außenseiter-Vorteile

In Großbritannien entwickelt sich der Muntjak inzwischen zur häufigsten Hirschart. Mit Rothirsch und Reh ist zwar eine Koexistenz möglich. In Südostengland wurde allerdings bei anderen Untersuchungen festgestellt, dass mit der verstärkten Präsenz von Muntjaks die Zahl, das durchschnittliches Gewicht und die Fruchtbarkeit von Rehen deutlich zurückgingen.

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Weniger wählerisch als Rehe

Einer der Gründe könnte in einem Konkurrenzvorteil der Zwerghirsche liegen: Ein von invasiven Arten ausgehendes Risiko ist, dass diese ökologische Nischen besetzen, die von verwandten Arten bislang gemieden wurden. Beim Muntjak ist dies der Fall: Die kleinen Hirsche eroberten in Großbritannien auch vom Menschen stark veränderte Lebensräume.

Nicht nur Wald, auch Parks und Gärten sind ihnen als Lebensraum recht. Das verleiht den Muntjaks einen Vorteil gegenüber den scheueren Rehen und heimischen Hirschen. Bei der Bevölkerung sei das Problem kaum bekannt, sagt der Biologe Jim Provan von der Queen’s University Belfast. Die Forschung stehe am Anfang.

Kaum natürliche Feinde

„Unbekannt“ antwortet der Evolutionsgenetiker auch auf die Frage nach natürlichen Feinden des Muntjaks in Großbritannien. Angenommen wird, dass sich Füchse zuweilen an den Kitzen vergreifen. In ihrer Ursprungsheimat Asien haben die verschiedenen Muntjakarten in Tiger, Rothund, Krokodil und Python wesentlich beeindruckendere Feinde.

Ob die Art sich in Schottland behaupten werde, sei schwer zu sagen, sagt Provan, „es gibt aber einige Nachweise.“ Das Auftauchen der Zwerghirsche in Irlands freier Wildbahn führt er zumindest teilweise auf Tiere zurück, die aus Parks oder privaten Haltungen ausgebrochen seien. Illegale Auswilderungen könnten mitverantwortlich sein. „Die Leute scheuen sich darüber zu reden“, berichtet er – „mit Blick auf die rechtlichen Folgen“.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016

Die Zwerghirsche breiten sich auch auf dem Kontinent aus

Muntjaks auch bei uns?

Inzwischen haben die Muntjaks nicht nur Großbritannien für sich erobert, sie breiten sich auch auf dem europäischen Kontinent aus. In Frankreich gibt es bisher zwar nur in der Bretagne eine sehr kleine Population von Muntiacus reevesi und über deren Verbleib und Größe fehlen gesicherten Angaben.

Frankreich, Niederlande und Belgien – die Muntjaks breiten sich weiter aus. © Galhampshire/ CC-by-sa 2.0

Doch in den Niederlanden gab es bereits Ende der 1990er Jahre erste Sichtungen in freier Wildbahn, zunächst in der Veluwe, Hollands größtem Waldgebiet, und im Raum Achterhoek, beides Gegenden in der Provinz Gelderland im zentralen Osten des Landes. Von dort ging es südwärts. In der Provinz Nordbrabant an der Grenze zu Belgien hat sich inzwischen eine Population von etwa 50 bis 100 Tieren etabliert und entfaltet weiteren Ausbreitungsdrang.

In Belgien schon etabliert

Vinciane Schockert von der der Forschungsstelle für Tiergeographie der Universität Lüttich und ihre Kolleginnen haben 2013 eine alarmierende Studie zur Ausbreitung der Muntjaks vorgelegt. „Die Möglichkeit, dass von der kleinen isolierten Population in den Niederlanden eine künftige Expansion ausgeht, gibt Grund zu der Sorge, dass weite Teile Kontinentaleuropas kolonisiert werden“, berichten die Forscherinnen.

Mit allen damit verbundenen negativen Folgen. So werden aus Belgien bereits erste Verkehrsunfälle mit Muntjaks gemeldet. Die Tiere sind aus den Niederlanden eingewandert oder aus belgischen Tierparks durch undichte Zäune ausgebüxt. Die belgischen Forscherinnen machen auch Jäger verantwortlich, Muntjaks freizulassen – für anschließende Trophäenjagden.

Sie halten eine natürliche Ausdehnung der holländischen Population nach Belgien für unausweichlich. In den Wäldern der belgischen Provinzen Antwerpen und Limburg werden die Zwerghirsche bereits regelmäßig gesichtet. „Sie tolerieren Störungen durch den Menschen, passen sich an Verkehr und Leute an“, berichten die Forscher. Sie bezeichnen alle Regionen Belgiens außer den Ardennen als „optimal“, um von Muntjaks besiedelt zu werden.

In Deutschland gibt es Muntjaks bisher nur in Zoos und Wildparks, hier im Zoo Augsburg. Aber das kann sich bald ändern. © Rufus46/ CC-by-sa 3.0

Als nächstes am Niederrhein und im Münsterland

Auf lange Sicht könnten Tiere aus Holland oder Belgien auch nach Deutschland einwandern und in grenznahen Regionen wie dem Niederrhein oder dem Münsterland auftauchen. Für wahrscheinlicher hält Schockert es aber, dass Chinesische Muntjaks sich in Deutschland erfolgreich ansiedeln, sobald eine kleine Zahl von Tieren aus Parks oder Privathaltungen entkommt oder absichtlich freigelassen wird. Gleiches gilt für Tieflagen in der Schweiz und Österreich mit milderen Wintern.

Entscheidend sei das Klima. Die Zwerghirsche sind von Natur aus trockene Winter gewohnt. Schockert berichtet auf Nachfrage, in Südengland habe es während besonders harter Winter unter den dortigen Populationen eine hohe Sterblichkeit gegeben. Wie sich der Klimawandel auf die Überlebenschancen der Art in Europa auswirkt, sei offen. „Wenn uns das regnerische Sommer und Winter bringt, wird dies für das Muntjak sicher nicht optimal sein“, sagt die 41jährige Zoologin. Trockenere Sommer und mildere Winter aber kämen den Zwerghirschen zupass.

„Ausrotten geht nicht mehr“

Die Forscherinnen geben in ihrer Studie zu bedenken: „Es gibt bislang kein Beispiel einer erfolgreichen lokalen Muntjak-Ausrottung.“ Jeder Versuch sei ressourcenintensiv. Effektiv seien nur Drückjagden, bei denen viele Jäger zu Fuß im Einsatz sind. Fallenjagden seien tabu, weil denen auch andere Tiere zum Opfer fallen.

Die Forscherinnen raten deshalb, Muntjaks in Zoos, Tierparks und Privathaltungen zu sterilisieren und zu registrieren, damit sich das britische Szenario nicht auf dem europäischen Kontinent wiederholt. Noch könnte das gegen die anpassungsfähigen Invasoren helfen.

Kai Althoetmar
Stand: 08.07.2016