Wie Sprachen Geburt, Tod und Auferstehung erleben

Vom Lebenszyklus der Sprachen

Sprachen entstehen, verändern sich und "sterben" - doch was bedeutet das eigentlich genau? © Gii / iStock.com

Sprachen befinden sich in einem kontinuierlichen Wandel – manche entstehen neu, andere sterben gar aus. Doch wann ist eine „tote“ Sprache wirklich tot? Und wie entsteht eine Neue? Was bestimmt, welche Sprache überlebt oder vielleicht sogar aufersteht? Die Entwicklung der Sprachen ist um einiges dynamischer und überraschender als man glaubt.

Wie sich Sprache entwickeln und warum, erforschen Linguisten der Universität Heidelberg. Sie untersuchen die komplexe Dynamik von Stillstand und Bewegung, von Werden und Vergehen, denen die Sprachentwicklung unterliegt. Sie berichten, was sie darüber herausgefunden haben, warum das Lateinische gar keine „tote“ Sprache ist und wie man sogar eine Sprache zum Leben erwecken kann.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Warum eine tote Sprache nicht wirklich tot ist

Geburt und Tod

Über die Zahl der heute auf dem Erdball gesprochenen Sprachen gibt es weit voneinander abweichende Schätzungen. Nimmt man einen Mittelwert, mögen es etwa 6.000 sein. Doch ihre Zahl verringert sich derzeit schnell. Man vermutet, dass im 21. Jahrhundert, vor allem aufgrund der fortschreitenden Globalisierung, mindestens die Hälfte aller Sprachen weltweit sterben wird. Dem werden nur wenige Neuzugänge gegenüberstehen.

Weltweit gibt es rund 6.000 verschiedene Sprachen. Doch einige davon sind heute vom Aussterben bedroht. © Qvasimodo/ iStock.com

Hinkende Metaphern

Intuitiv meinen wir zu wissen, was der „Tod“ und die „Geburt“ von Sprachen bedeuten – zwei Metaphern, die Sprachen als Organismen begreifen. Allerdings hinkt der Vergleich der sozialen Institution Sprache mit dem Leben etwa eines Menschen. Unter Geburt und Tod verstehen wir scharfe Zäsuren, die die Spanne eines Lebens begrenzen: Lebendig ist das, was geboren und nicht gestorben ist.

Aber wie und wann wird eine Sprache geboren? Schon Wilhelm von Humboldt (1767–1835) stellte fest, „dass man wohl noch keine Sprache jenseits der Grenzlinie vollständigerer grammatischer Gestaltung gefunden, keine in dem flutenden Werden ihrer Formen überrascht hat“. Sprachen gibt es nicht in embryonalen oder kindlichen Zuständen, sie sind immer schon erwachsen, wenn wir auf sie schauen. Deshalb können sie auch nicht eigentlich „geboren“ werden.

Tot, aber noch existierend

Der französische Linguist Claude Hagège sagt zum Bild der toten Sprache: „Zu leben und zu existieren sind zwei verschiedenen Vorstellungen. Eine Sprache, die als tot bezeichnet wird, ist nichts anderes als eine Sprache, die nicht mehr gesprochen wird“, so der Sprachforscher. „Aber wir haben kein Recht, ihren Tod mit dem eines Tieres oder einer Pflanze gleichzusetzen. Hier gelangen die Metaphern an ihre Grenzen. Denn eine tote Sprache existiert weiter.“

Dennoch hat es sich eingebürgert, eine Sprache als tot zu bezeichnen, wenn sie nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben wird. Als Muttersprache ist sie spätestens mit ihrem letzten Sprecher gestorben. Eine folgende Generation kann dann zwar noch Kenntnisse dieser Sprache haben, sie vielleicht auch noch verstehen, aber nicht mehr sprechen.

Das ist aktuell zum Beispiel beim aramäischen Mlahsô und bei vielen arabischen Dialekten in der Türkei der Fall. Sterben auch hier die letzten Generationen, ist es nur noch möglich, die Sprachen in Tonbandaufzeichnungen zu erhalten. Für die semitischen Sprachen und Dialekte ist dies gelungen:

Im Heidelberger Tonarchiv des Seminars für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients sind umfassende Aufnahmen aus zwanzig Ländern digital erfasst und der Nachwelt zugänglich.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Wie sterben Sprachen?

Verdrängt und ausgerottet

Vom „Sterben“ bedroht sind insbesondere Sprachen mit niedrigem Prestige. Die US-Sprachwissenschaftlerin Nancy Dorian schreibt etwa zur Verdrängung des Gälischen durch das Englische: Als sich Englisch von der Spitze der sozialen Hierarchie her hineindrängte und sich steig nach unten hin ausbreitete, zog sich das Gälische an die Basis der sozialen Hierarchie zurück und wurde allmählich zum Merkmal der Armen.“ Bei den schriftlosen semitischen Sprachen der arabischen Halbinsel, wie Śheri und Mehri, verhält es sich ganz ähnlich.

Das Sumerische koexistierte in Mesopotamien zunächst mit dem Akkadischen, wurde dann aber ganz verdrängt. © historisch

Koexistenz und Verdrängung

Doch auch weitverbreitete und prestigereiche Sprachen können unter den Druck noch stärkerer Konkurrenz geraten: Das Aramäische verdrängte im ersten Jahrtausend vor Christus alle anderen Sprachen im Nahen Osten – Hebräisch, Phönizisch, Assyrisch, Babylonisch und Hethitisch –, um dann selbst mit der Ausbreitung des Islams dem Arabischen zu weichen.

Mitunter existieren während eines solchen Verdrängungsprozesses zwei Sprachen sehr lange friedlich nebeneinander. In Mesopotamien trat offenbar um 2800 vor Christus das Akkadische neben das dominierende Sumerische, das etwa 800 Jahre später aus dem Alltagsgebrauch verschwand und nur noch in der Schrift als Kult-, Literatur- und Gelehrtensprache weiterlebte. Der früheste dokumentierte Sprachtod scheint somit ein sanfter gewesen zu sein.

Gleiches gilt für das Lateinische auf dem Balkan: Die seit dem Frühmittelalter voranschreitende Slawisierung der romanischen Gebiete nördlich von Griechenland und Albanien verlief überwiegend friedlich. Südlich und westlich der Donau gibt es noch heute Reste mit dem Rumänischen verwandter Mundarten; der dalmatische Zweig des Balkanromanischen überlebte immerhin bis 1898.

Krieg und Vertreibung

Externe Faktoren wie Krieg und Vertreibung können den Untergang einer gefährdeten Sprache dramatisch beschleunigen, indem Sprecher getötet oder in die Diaspora getrieben werden, wo ihre kleinen Sprachgemeinschaften zerfallen. Ein regelrechter Genozid hat 1915 in der Osttürkei zum Untergang zahlreicher aramäischer Dialekte geführt. Im Dorf Mlahsô aber gab es einige Überlebende, sodass zumindest der dortige Dialekt von dem deutschen Semitisten Otto Jastrow noch beschrieben werden konnte, bevor der letzte Sprecher im Jahre 1999 starb.

Einen langsamen Tod erleiden auch die jüdisch-aramäischen Dialekte des Irak, nachdem alle Juden im Jahre 1951 das Land verlassen mussten. Heute gibt es keine jungen Sprecher dieser Dialekte mehr in Israel.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Kultur, Politik und Minderheiten

Die Kleinen leiden mehr

Auch anhaltender kulturpolitischer Druck kann Sprachen zusetzen. Ein Beispiel ist Frankreich. Hier hat die lange praktizierte zentralistische Sprachpolitik viele einst verbreitete Regionalsprachen, wie Bretonisch oder Okzitanisch, stark in die Defensive gedrängt.

Heute gibt es in der Bretagne wieder zweisprachige Straßenschilder, doch im 18. Jahrhundert sollte diese Regionalsprache unterdrückt weren. © gemeinfrei

Zwischen Zwang und Toleranz

Der französische Bischof und Politiker Henri Grégoire präsentierte 1794 einen Bericht, in dem er für eine Unterdrückung der Regionaldialekte zur Rettung des Französischen plädierte. Dieser Plan bekam Gesetzeskraft bekam und sollte auf rabiate Weise das von nur zwölf Prozent der Bevölkerung Frankreichs gesprochene (Pariser) Französisch als alleinige Sprache durchsetzen sollte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg rückte man von diesem Ziel ab. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992 hat Frankreich zwar 1999 unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert.

Hingegen versuchten die Römer der Antike zu keiner Zeit, die in den eroberten Provinzen angetroffenen Regionalsprachen durch das Lateinische zu ersetzen. Im Osten blieb ohnehin die Weltsprache Griechisch dominant, im Westen gaben Etrusker, Italiker, Gallier und Germanen ihre Sprachen freiwillig zugunsten des angeseheneren Lateinischen auf. Nur Inselkeltisch, Baskisch und Albanisch, alle in unwegsamem Gelände beheimatet, haben diesem zivilisatorischen Sog dauerhaft widerstanden.

Die Sprache der Sorben ist bereits gespalten - ein erster Schritt zum Niedergang © Józef Burszta /CC-by-sa 3.0

Kleinere sind besonders gefährdet

Aber das sind seltene Ausnahmen. In der Regel leiden kleinere Sprachen unter der Nachbarschaft einer wichtigen überregionalen Verkehrs- und Kultursprache. Häufig schrumpfen dann ihre ursprünglich geschlossenen Verbreitungsgebiete und zerfallen in dialektal auseinanderstrebende Inseln, was ihren Niedergang weiter beschleunigt.

Selbst das seit 1945 sprachenpolitisch gut gestellte Sorbische in Sachsen und Brandenburg ist mittlerweile fast völlig in das stark bedrohte Niedersorbische und das stabilere Obersorbische gespalten, da es im Übergangsgebiet kaum noch Sprecher gibt. Das ehemals kompakte Sprachkontinuum des Friesischen ist heute in drei untereinander nicht mehr verständliche Idiome zerfallen: das vitale Westfriesische in den Niederlanden, das fast verschwundene Ostfriesische im Saterland und das als „ernsthaft gefährdet“ eingestufte Nordfriesische.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Vom Seitenzweig zur Bildungssprache

Totes Latein?

Das Lateinische ist heute so etwas wie der Inbegriff einer toten Sprache. Doch abgesehen von regionalen Gebietsverlusten wie in Britannien, Nordafrika und auf dem Balkan, ist diese Sprache keine der klassischen „Sprachtode“ gestorben – im Gegenteil: Die zu eigenen Sprachen ausdifferenzierten Dialekte des Volkslateins der Antike und des frühen Mittelalters werden bis heute in ungebrochener Kontinuität gesprochen, derzeit weltweit von circa 800 Millionen Muttersprachlern.

Diese Inschriften auf dem Lapis niger, einer Stele auf dem Forum romanum, gelten als ältestes Zeugnis der latainischen Sprache. Sie stammen aus der Zeit um 600 vor Christus. © Sailko/ CC-by-sa 3.0

Ein bloßer Seitenzweig

Das klassische Latein wiederum, das gemeinhin als „tot“ bezeichnet wird, repräsentiert gar nicht die gesprochene Sprache seiner Entstehungszeit im ersten vorchristlichen Jahrhundert – vielmehr ist es ein Seitenzweig der lateinischen Sprachgeschichte. Klassisches Latein zeichnet sich durch die reiche Verwendung von Partizipial-Konstruktionen sowie die ausladenden, sich zum Ende elegant rundenden Satzperioden mit zahlreichen Nebensätzen aus. Diese jedoch waren in der Sprache des Volkes zu keiner Zeit beliebt.

Der Ausbau des Lateins zu einer gebildeten Hoch- und Schriftsprache ist einer dünnen Schicht von literarisch ambitionierten Römern wie Cicero und Caesar zu verdanken, die sich um die Entwicklung einer der griechischen ebenbürtigen Kunstprosa bemühten. Das Ergebnis unterschied sich merklich sowohl vom gesprochenen Umgangs- als auch vom schriftlichen Gebrauchslatein, blieb aber noch für alle verständlich.

Von der Volkssprache abgekoppelt

Spätere Prosaiker entwickelten diese leicht artifizielle Varietät zunächst noch etwas weiter; eine Rückbindung an die sich verändernde Volkssprache blieb aber aus. Schließlich erhob Quintilian, der erste staatlich bestallte Rhetoriklehrer Roms, das zu seiner Zeit schon 150 Jahre alte Latein Ciceros zum maßgeblichen Stilideal. Damit leitete er dessen Siegeszug in den Schulen des Römischen Reiches und später ganz Europas ein.

Cicero gilt als der Vater des klassischen Lateins © Freud / CC-by-sa 3.0

Das „beste“ Latein war damit weitgehend petrifiziert und den Einflüssen der sich natürlich entwickelnden Alltagssprache endgültig entzogen. Im Grunde war das konsequent, denn elitäre Abgrenzung gehörte von Beginn an zum Genom dieser Prosa. Dem heute als „tot“ bezeichneten klassischen Latein war demnach nie ein Leben als Kommunikationsmedium breiter Schichten zugedacht. Schon deshalb kann es nicht im linguistischen Sinne gestorben sein. Vielmehr verdankt es gerade der Abkopplung vom fluiden Volkslatein seine Dauerhaftigkeit als Bildungssprache.

Warum Arabisch nicht auch tot ist

Ein derartiges Fortleben als „klassische“ Kult- und Gelehrtensprachen war oder ist auch anderen im alltäglichen Gebrauch nicht mehr lebendigen Sprachen mit sehr hohem Prestige beschieden: beispielsweise unter den semitischen Sprachen dem Altsyrischen, dem klassischen Arabisch und dem klassischen Mandäisch, in Europa dem Altkirchenslawischen, in Asien dem klassischen Chinesisch und dem Sanskrit.

Aber es gibt Unterschiede: Latein pflegt man als „tot“ zu bezeichnen, weil seine Tochtersprachen verschriftlicht wurden, eigene Literaturen hervorgebracht und in den meisten kulturellen und gelehrten Kontexten die Funktionen des Lateinischen übernommen haben. Das Hocharabische hingegen gilt als „lebendig“. Denn sein Prestige als klassische und heilige Sprache hat bis heute verhindert, dass seine als „arabische Dialekte“ bezeichneten, längst stark diversifizierten Tochtersprachen verschriftlicht wurden. Die Sprecher dieser Tochtersprachen sind nach wie vor auf das Hocharabische als gemeinsames Schriftmedium angewiesen.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Viele Sprachen leben in anderem Gewand weiter

Wandel statt Tod

Paradoxerweise gelten das Lateinische und andere zu klassischem Nachleben gelangte Sprachzustände als „tot“, während wohl niemand das Urgermanische, das Alt- oder das Mittelhochdeutsche so bezeichnen würde. Denn diese waren allesamt nur ephemere Zwischenstadien der kontinuierlichen Entwicklung vom Indogermanischen zum heutigen Deutschen. Diese Attribuierung wäre demnach nicht sinnvoller, als wollte man behaupten, der Teenager, der ein heute noch lebender Mensch vor Jahrzehnten war, sei tot.

Das französische Wort für Schaufel – marre – geht letzlich auf eine sumerische Wurzel zurück © pixabay

Wandel statt Tod

Das gilt erst recht für Einzelphänomene wie Wörter oder Morpheme. Seit über 2.000 Jahren benutzt man in Italien in ungebrochener Kontinuität von Lautung, Morphologie und Semantik die Form „dico“ – ich sage. Und das lateinische Wort „necare“ – töten – hat sich zwar lautlich und semantisch zu französisch „noyer“ – ertränken – verschoben. Aber man würde diese Entwicklung sicher nicht mit Begriffen wie Tod und Geburt beschreiben.

Nicht einmal ausgestorbene Sprachen ohne klassisches Nachleben sind in jeder Hinsicht tot: Oft leben sie als Substrat in Wortschatz, Morphologie und Syntax einer anderen Sprache weiter. Das sumerische Wort „mar“ – Schaufel, Spaten – hat es über akkadisch „marrum“ sowie aramäisch und lateinisch „marra“ geschafft, bis heute in den romanischen Sprachen zu überleben: als französisch „marre“ und italienisch „marra“.

Sprachkontakt als Katalysator

Die Sprachen, auf die das Lateinische in den römischen Provinzen traf, wirkten als Katalysatoren der dialektalen Ausdifferenzierung und trugen so zur Entwicklung der romanischen Einzelsprachen bei: Das untergehende Festlandkeltische beeinflusste vermutlich die Aussprache und den Wortschatz des nachrückenden Lateinischen in einer Weise, die Merkmale des späteren Französischen erklären könnte, etwa den Lautwandel von lateinisch [u:] zu [y:], der sich gerade in den einst gallischsprachigen Gebieten vollzog.

Es gibt wohl kaum eine sterbende Sprache, die keine Spuren in der sie verdrängenden Sprache hinterlässt. Substrate sind potenzielle Keimzellen einer Herausbildung von Dialekten. In ihnen erscheinen Sprachtod und Sprachgeburt als zwei Seiten derselben Medaille.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Mythen der Sprachentstehung

Göttliche Sprachschöpfer

Aber wie entsteht Sprache überhaupt? Und wie die einzelnen Sprachen? Seit alters her ranken sich um dieses Thema Mythen und Theorien.

Der Bibel nach erweckte Gott Adam nicht nur zum Leben, er gab ihm auch die Sprache. © Michelangelo

Vom Paradies zum Turm zu Babel

In der semitischen Welt erschafft Gott den Menschen im Paradies mit seiner Sprache, jedoch mit einem unvollständigen Wortschatz. Im ersten Buch Mose des Alten Testaments ist dazu zu lesen: „Da nun Gott, der Herr, von der Erde gebildet hatte alle Tiere des Feldes und alle Vögel unter dem Himmel, so führte er sie dem Menschen vor, zu sehen, wie er jedes nennen würde. Und alle belebten Wesen sollten den Namen behalten, den ihnen der Mensch beilegte.“

Ähnlich ist bei den gnostischen Mandäern aus der Zeit des Alten Testaments. Bei ihnen wird Adam in der Lichtwelt erschaffen und bekommt von dort seine Sprache: „Ehe ein Mensch vorhanden war, existierten Glanz, Licht und Ehre, und der Glaube erschien, nachdem man Adam geschaffen hat, und er zu reden anfing“, heißt es beim mandäischen Erzähler Scheich Sālem Čoheylī. „Dann, auf Gottes Befehl hin, sollte man Adam, den ersten Mann, (aus der Lichtwelt) auf die Erde herabbringen.“

Die Entstehung mehrerer Sprachen wird in der Bibel der Überheblichkeit der Menschen zugeschrieben, die einen Turm bis in den Himmel bauen wollten. Durch die Verwirrung der Sprache beendete Gott den Bau des Turmes.

Der Turm zu Babel - und damit die menschliche Hybris - soll der Bibel nach zur Entstehung verschiedener Sprachen geführt haben © Lucas van Valckenborgh

„Vollkommene Zuordnung“

Die Sprachreflexion der Griechen und Römer kennt einen mythischen Sprachschöpfer, der die Wörter den Dingen in vollkommener Weise zugeordnet habe. Platon nennt ihn „Demiurg“ (Baumeister) und Varro „rex“ (König). Nach der antiken Vorstellung stehen die Wörter zu den Dingen, die sie bezeichnen, in einem Verhältnis der „Richtigkeit“, deren Quelle aber im Dunkeln liegt.

Wir Sprecher dürfen die Zeichen unserer Sprache daher nicht eigenmächtig ändern, wenn wir einander verstehen wollen, und doch sehen wir sie sich wandeln. Ein autoritativer Sprachschöpfer muss also sein Werk in die Zeit gestellt haben.

Der römische Dichter Lukrez, der im 1. Jahrhundert vor Christus lebte, unterläuft dieses Konstrukt allerdings mit einer rationalistischen Fundamentalkritik: Wie hätte ein Einzelner seine Erfindung bei allen anderen durchsetzen können? In welchem Medium hätte er ihnen Nutzen und Gebrauch der Sprache erklären sollen? Hätten die neu erfundenen Wörter den Sprachunkundigen nicht wie bloße Geräusche vorkommen müssen?

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Wie Sprachen entstehen

Trennung und Mischung

Wie der Mensch ursprünglich zur Sprache gekommen ist, bleibt anthropologische Spekulation. Denn heute entstehen einzelne Sprachen immer aus anderen Sprachen und Dialekten, in der Regel durch Sprachwandel.

Sprachen können durch allmähliche Verschiebungen entstehen - quasi schleichend. © arthobbit/ iStock.com

Wie aus Übergängen Grenzen werden

Wie man sich das im Großen vorstellen könnte, hat 1872 der deutsche Philologe Johannes Schmidt so beschrieben: Man denke sich, auf einer schiefen Ebene angeordnet, eine Reihe untereinander kontinuierlich verständlicher Varietäten A bis X einer Sprache. Wenn nun aber eine davon ein Übergewicht bekommt, durch politische, religiöse, soziale oder sonstige Verhältnisse, dann verdrängt sie ihre Nachbarn. Dies aber führt dazu, dass nun ursprünglich nicht benachbarte Sprachformen aneinandergrenzen. Aus den stetigen Übergänge der schiefen Eben werden so klar abgegrenzte Stufen.

Im Kleinen vollzieht sich dieser Prozess über Lautverschiebungen und Neuerungen in Morphologie, Syntax und Semantik. Sie führen zu unterschiedlichen, zunächst aber noch gegenseitig verständlichen Sprachen. Die Tochtersprachen des Vulgärlateinischen haben sich so aus einem Dialektkontinuum herausgebildet – anfangs, bis ins Mittelalter hinein, noch überdacht vom klassischen Schriftstandard. Italienisch, Französisch, Spanisch und andere mehr wurden aber bald als regelrechte Sprachen empfunden und nicht mehr als neulateinische Dialekte.

Anders ist dies beim Aramäischen, dessen moderne Varianten heute von christlichen und jüdischen Minderheiten im Nahen und Mittleren Osten und der Türkei gesprochen werden. Bei ihnen spricht man bis heute von den „neuaramäischen Dialekten“, obwohl sie sich voneinander viel stärker unterscheiden als die romanischen Sprachen. Die Veränderungen im Laufe der Zeit haben heute die die Verständigung zwischen den Aramäern im Osten und Westen unmöglich gemacht.

Die deutsche Kolonialzeit hat in Namibia nicht nur deutsche Ortsnamen hinterlassen, sondern schuf auch eine Pidginsprache. © queakyMarmot/ CC-by-sa 2.0

Pidgin als Folge der Besetzung

Einen ganz anderen Weg der Sprachentstehung nehmen sogenannte Pidgin- und Kreolsprachen. Pidgins entstehen, wenn Sprecher verschiedener Sprachen eine Fremdsprache unvollkommen erlernen, um sich gegenseitig verständigen zu können. Das älteste bekannte Pidgin basiert auf dem Arabischen und wurde im elften Jahrhundert in Mauretanien gesprochen. Auch das Deutsche hat auf Papua-Neuguinea und in Namibia Pidgins hervorgebracht, die heute aber alle vom Aussterben bedroht sind.

Aufschlussreich ist auch das Beispiel des Arabischen in Juba, der Hauptstadt des Südsudan. Für die Eroberung des Südsudan hatte die osmanisch-ägyptische Armee im 19. Jahrhundert Sprecher verschiedener sudanesischer Sprachen zwangsrekrutiert. Die Sprache des Befehlshabers war ein ägyptisch-arabischer Dialekt, auf dessen Basis nun das Pidgin entstand, mit dem die neuen Rekruten sich auf einfache Weise verständigen konnten.

Dieses Pidgin wird nach dem osmanischen Wort für „Offizier“ deshalb auch Bimbaschi-Arabisch genannt. Nach dem Ende des Feldzugs blieben die Soldaten in Juba und verständigten sich nicht nur weiterhin mit dem neu entstandenen Pidgin, sondern brachten es auch den Frauen bei, die sie dort heirateten. Noch war diese Sprache ein Pidgin, das von niemandem als Muttersprache gesprochen wurde.

Englisch als Kreolsprache?

Das ändert sich jedoch mit der nächsten Generation, die keine andere Sprache mehr beherrscht. Sobald ein Pidgin zur Muttersprache geworden ist, wird es Kreol genannt und beginnt nun eine eigenständige Entwicklung. Der britische Linguist Bruce Ingham ist der Ansicht, dass auch das moderne Englisch im Prinzip eine Kreolsprache ist: „Sie entsprang aus der Interaktion zwischen dominanten romanisch-sprechenden Normannen und den germanischsprachigen Angelsachsen“, erklärt er.

Seiner Meinung nach könnte das moderne Persisch auf ähnliche Weise durch den Kontakt der persischen Bevölkerung mit einer arabischen Herrscherelite entstanden sein. Die Theorie des niederländischen Sprachwissenschaftlers Cornelis Versteegh, dass auch die modernen arabischen Dialekte aus Pidgins entstanden seien, wird allerdings von den meisten Arabisten abgelehnt.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017

Wie Hebräisch und Manx von den Toten zurückkehrten

Wiederauferstehung

Der Tod einer Sprache ist nicht das Ende ihrer Existenz. Deshalb kann man sie lernen, erforschen, zu bestimmten Zwecken benutzen und unter besonders günstigen Umständen sogar im vollen Sinne reanimieren.

Eliezer Ben-Jehuda gilt als der Vater des Neuhebräischen. © Historisch

„Nur ein frommer Wunsch“

Die in der Welt der Sprachen bisher einzige erfolgreiche Wiederbelebung einer antiken Sprache, nämlich des Hebräischen, begann im 19. Jahrhundert. Damals forderten einige jüdische Sprachwissenschaftler, besonders Eliezer Ben-Jehuda, die Einführung des Hebräischen als Umgangssprache mindestens in den Jerusalemer Talmudschulen. Diese Aufforderung wurde zwar begrüßt, aber eher als frommer Wunsch betrachtet.

Doch der Wunsch ging in Erfüllung – unter anderem begünstigt durch die Auswanderung Ben-Jehudas nach Palästina, seine konsequente Verwendung des Hebräischen in der eigenen Familie und die Veröffentlichung seines Gesamtwörterbuchs der hebräischen Sprache. Hinzu kam die Tatsache, dass immer mehr Juden mit ganz unterschiedlichen Muttersprachen nach Palästina einwanderten, die sich nur auf Hebräisch verständigen konnten

Dies führte dazu, dass die Forderung nach Wiedereinführung des Hebräischen immer mehr Anhänger fand. Es gab aber auch zahlreiche Gegner, die der Meinung waren, dass man „wissenschaftliche Disziplinen nicht in hebräischer Sprache lehren könne“. Zum Kampf um die hebräische Sprache kam es in den Jahren 1913/14, als am Technion in Haifa das Deutsche als Unterrichtssprache beschlossen wurde.

Heute ist Neuhebräisch (Ivrit) neben Arabisch die Amtssprache Israels © gemeinfrei

Von der toten Sprache zur Staatssprache

Proteste aus der gesamten jüdischen Welt führten schließlich dazu, dass der Beschluss revidiert wurde und bei der Gründung des Staates Israel die neue Staatssprache bereits Tausende von Muttersprachlern hatte. Die hebräische Sprache konnte sich aber auch deshalb durchsetzen, weil sie, auch nach ihrem Ende eine ganze philosophische Literatur mit einer ungemein reichhaltigen Terminologie für alle Begriffe der älteren Philosophie geschaffen hatte. Dadurch konnte sie sich auch allen Erfordernissen der modernen wissenschaftlichen Terminologie anpassen.

Zahlreiche Schulen und Kindergärten, in denen mit einer neuen Methode „Hebräisch in hebräischer Sprache“ (Ivrit b-Ivrit) gelehrt wurde, trugen sicher ebenso zum Erfolg bei. Doch der Siegeszug des Hebräischen hat auch eine Kehrseite: So wurden durch ihn zahlreiche Sprachen und Dialekte des Judentums verdrängt, darunter das traditionsreiche Ladino und viele jüdische Dialekte des Aramäischen.

Die Isle of Man vor der Nordwestküste Englands ist die Heimat einer speziellen Form des Gälischen. © NASA/ Chris Hadfield

Manx-Gälisch als „Lazarus“

Ein weiteres Beispiel für die versuchte Reanimation einer Sprache ist das Manx-Gälische, das ehemals auf der Isle of Man gesprochen wurde, bis es am 27. Dezember 1974 mit dem letzten verbliebenen Muttersprachler starb. Noch zu Lebzeiten der letzten Sprecher wurde es mit dem Ziel dokumentiert, es nach seinem absehbaren Tod zügig wiederzubeleben.

So waren dieselben Sprachwissenschaftler, die die Sterbebegleiter des alten Manx gewesen waren, auch die Geburtshelfer des neuen. Sprachpflegerische Bemühungen, vor allem Unterricht in Kindergärten und Schulen, haben dazu geführt, dass heute wieder zwei Prozent der Bevölkerung der Isle of Man angeben, Kenntnisse des Manx zu haben, unter ihnen erste neue Muttersprachler.

Kurioserweise erklärte die UNESCO Manx im Jahr 2009 dennoch für ausgestorben. Viele Sprecher protestierten, eine Schulklasse schrieb: „Wenn unsere Sprache ausgestorben ist, in welcher Sprache schreiben wir denn hier?“ Die UNESCO beugte sich der Evidenz und änderte den Status von Manx – in „stark bedroht“. Die Wiederauferstehung von den Toten bedeutet eben für Sprachen, anders als für Menschen, nur ein vorläufiges Heilsversprechen.

Werner Arnold und Gerrit Kloss, Universität Heidelberg / Ruperto Carola
Stand: 10.03.2017