Die verblüffende Intelligenz von Krähen und anderen Rabenvögeln

Genies der Lüfte

Rabenvögel wie Krähen sind intelligenter als lange Zeit geglaubt. Sie könnten sogar den cleveren Schimpansen den Rang ablaufen. © Alexas Fotos / pixabay

Von wegen Spatzenhirn: Krähen gehören zu den intelligentesten Tieren des Planeten. Sie meistern abstrakte Denkaufgaben, können die Absichten von Artgenossen einschätzen und haben sogar ein Grundverständnis von Physik. Immer wieder überraschen die cleveren Vögel Forscher mit ihren kognitiven Spitzenleistungen.

Die Intelligenz der Krähen ist besonders deshalb erstaunlich, weil sie nicht einmal eine Großhirnrinde besitzen. Dieses Hirnareal gilt gemeinhin als Sitz der Intelligenz – zumindest bei uns Menschen und anderen Säugetieren. Im Laufe der Evolution hat sich die Intelligenz bei Rabenvögeln offenbar auf anderen Wegen entwickelt. Das Ergebnis spricht für sich: Mittlerweile stellen einige Wissenschaftler die kognitiven Fähigkeiten von Rabenvögeln auf eine Stufe mit denen von Schimpansen.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Warum wir die Tiere fürchterlich und faszinierend zugleich finden

Der Ruf von Rabenvögeln

Im Mittelalter galt die Sichtung eines Raben als schlechtes Omen. © Ogio / Pixabay

Die Geschichte wirft zum Teil ein sehr düsteres Bild auf Raben und Krähen. Ihren schlechten Ruf bekamen die schwarzen Unglücksboten im Laufe des Mittelalters: Weil die Hinrichtungsstätten für die aasfressenden Tiere eine willkommene Speisetafel darstellten, waren sie bald als Galgenvögel und böses Omen verschrien. Bis heute sorgen Krähen und Raben bei so manchem für Unbehagen. Schließlich lebt ihre düstere Mystifizierung in vielen Büchern und Filmen aus dem Fantasy-Bereich weiter.

Unvergessen ist für Viele auch ihr Auftritt in Alfred Hitchcocks Tier-Schocker „Die Vögel“: Wenn sich auf einem Gerüst hinter der ahnungslosen Protagonistin nach und nach dutzende der schwarzgefiederten Tiere niederlassen inszeniert der Meisterregisseur die neugierigen Vögel als unheimliche Bedrohung – und lässt sie kurz darauf als wütenden Schwarm eine Gruppe Schulkinder attackieren.

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Die Mär vom schlauen Vogel?

Allmählich kommt die wahre Natur der Rabenvögel wieder zum Vorschein. Ihre Weisheit wurde schon in den nordischen Sagen um Göttervater Odin angedeutet. Dieser konnte auf den weisen Rat von seinen zwei Raben Hugin und Munin vertrauen, die für die beiden Grundpfeiler der Intelligenz stehen: das Denken und das Gedächtnis.

Und tatsächlich gestehen sich Wissenschaftler heute ein: Die unscheinbaren Vögel sind lange Zeit verkannte Genies, die es sogar mit der Intelligenz von Menschenaffen aufnehmen können. In vielen Belangen sind uns die geflügelten Genies damit ähnlicher als bisher angenommen.

Ein Unterschied der keiner ist

Ob nun Rabe oder Krähe, spielt bei der Frage nach der Intelligenz keine Rolle. Die beiden bilden gemeinsam die Gattung Corvus, zu der insgesamt 42 verschiedene Unterarten von der Dohle über die „Nebelkrähe“ bis zum Kolkraben gehören. Die Einteilung in Raben und Krähen ist nicht taxonomisch, also artbestimmend: Große Vögel werden Raben genannt, die kleineren heißen Krähen. Zusammen mit Hähern, Elstern und Dohlen bilden sie die Familie der Rabenvögel.

In Wissenschaftskreisen erfahren die Rabenvögel in letzter Zeit eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Denn den Forschern ist mittlerweile klar geworden, dass sie bei der Suche nach tierischen Intelligenzbestien Jahrzehnte lang die Vögel weitgehend außer Acht gelassen haben. Zu Unrecht, wie die gefiederten Genies immer wieder in verblüffenden Experimenten beweisen.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Bei der Bewertung von Cleverness sind Wissenschaftler noch immer uneins

Intelligenz ist Definitionssache

Der Mensch ist zu geistigen Spitzenleistungen in der Lage. Doch auch viele Tiere sind erstaunlich clever. © Pixologicstudio_iStock.com

Wir Menschen sehen uns als Krone der Schöpfung. Unser Anrecht auf diesen Titel verdanken wir vor allem der unvergleichlichen Leistung unseres Gehirns. Dank des hochentwickelten Denkorgans sind wir zum Beispiel in der Lage, unvorhergesehene Probleme kreativ zu lösen, unsere Zukunft zu planen und ein tieferes Verständnis von uns und unserer Umwelt zu erlangen. All diese Aspekte werten wir als Zeichen unserer überlegenen Intelligenz.

Was genau Intelligenz ist, bleibt jedoch Ansichtssache. Denn bis heute gibt es keine einheitlich anerkannte Definition dafür. Der deutsche Psychologie William Stern beschrieb Intelligenz Anfang des 20. Jahrhunderts als „die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“. Weil diese Definition dem US-Psychologen Edwin Boring zu schwammig war, schlug er im Jahr 1923 die eher pragmatische Alternative vor: „Intelligenz ist, was ein Intelligenztest misst“.

Schlauberger auch im Tierreich

Mittlerweile existieren zahlreiche deutlich komplexere Modelle. So unterscheidet Howard Gardner gar sieben bis zehn eigenständige Intelligenzdimensionen wie sprachliche Intelligenz, logisch-mathematische Intelligenz und räumliche Intelligenz. Dass auch manche Tiere ein „intelligentes“ Verhalten zeigen, wurde ihnen in Fachkreisen lange Zeit nicht zugestanden, weil es lediglich eine vermenschlichende Interpretation sei.

Doch intelligente Eigenschaften wie die Fähigkeit, gelerntes Wissen auf unbekannte Problemstellungen anzuwenden, finden sich zumindest ansatzweise auch im Tierreich wieder – und zwar nicht nur bei Menschenaffen, denen wir als unseren nächsten Verwandten schon länger eine gewisse Cleverness zugetraut haben. Auch Delfine, Papageien und eben Rabenvögel tummeln sich auf den Top-Plätzen im tierischen Intelligenzranking.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Was steckt drin im Kopf der Rabenvögel?

Etwas fehlt im Vogelhirn

Schach spielen sie noch nicht. Aber Krähen meistern schon andere anspruchsvolle Gedächtnisaufgaben. © 10Vitamine / CC-by-sa-3.0

Dass Vögel zu intelligenten Handlungen fähig sind, wurde viele Jahre lang aber weitgehend ignoriert. Denn ihnen fehlt ein entscheidendes biologisches Merkmal, das Wissenschaftler als Sitz der Intelligenz identifiziert haben: die Großhirnrinde. Dieser erst bei Säugetieren voll ausgebildete Hirnteil gilt als „Arbeitsspeicher“ und als Sitz höherer Denkfunktionen.

Aber offensichtlich nicht im Vogelgehirn. Dieses ist viel kleiner als ein vergleichbar schweres Säugetiergehirn, hat dafür aber bis zu zwei Mal so viele Neuronen. Dabei ist besonders das Großhirn sehr dicht mit Gehirnzellen gepackt, also der Hirnteil, dem bei Vögeln die evolutionsgeschichtlich junge Großhirnrinde fehlt. Trotz Abwesenheit des Neocortex lösen Krähen in Experimenten aber problemlos Memory-Spiele. Ihr Arbeitsgedächtnis muss sich also woanders befinden als bei uns.

Dauerfeuer im Großhirn

Einen ersten Anhaltspunkt für den Ort des „geistigen Notizblocks“ im Vogelgehirn fanden Lena Veit und ihre Kollegen von der Universität Tübingen. Sie zeigten Rabenkrähen für einen kurzen Moment Bilder auf einem Monitor und maßen die Gehirnaktivität der Vögel. Dabei stellten sie fest, dass Nervenzellen in einem Bereich des Großhirns auch dann noch weiter feuerten, wenn das Bild schon wieder verschwunden war.

Wenn solch eine anhaltende Aktivität registriert wurde, fanden die Krähen auch das richtige Motiv in der kurz darauf gezeigten Auswahl von vier Bildern wieder. Bei Krähen, die falsch tippten, war auch die Intensität des Neuronenfeuerwerks im Endhirn nicht mehr so stark. Vermutlich bilden also bestimmte Bereiche im Endhirn den Arbeitsspeicher des Vogels und halten eine Information für kurze Zeit durch ein Dauerfeuer der Gehirnzellen im Gedächtnis.

Vogelgehirne sind in der Regel kleiner und leichter als Säugetierhirne. Dafür haben sie mehr Gehirnzellen, vor allem im Großhirn (engl.: Forebrain). © Pavel Nemec, Charles University, Prag

Klein aber kompakt

Generell ist die Gehirnstruktur bei Vögeln besonders kompakt. So haben Forscher um Seweryn Olkowicz der Charles Universität in Prag festgestellt, dass in einem Starengehirn etwa 483 Millionen Nervenzellen enthalten sind, während es in einem vergleichbar schweren Rattenhirn nur 200 Millionen sind.

Möglicherweise sind die dichten Gehirne der Vögel ein „Nebenprodukt“ des Evolutionsdrucks, der für ihre Flugfähigkeit einen extrem komprimierten und leichten Körperbau abverlangt. Doch zum Fliegen würde auch ein weniger neuronenreiches Gehirn genügen, zumal die hohe Anzahl an Gehirnzellen teuer durch einen erhöhten Energiebedarf erkauft wird. Es muss also andere Gründe für die Entwicklung der überdurchschnittlichen Intelligenz der Rabenvögel geben.

Krähen zeigen auch ohne Großhirnrinde außerordentlich intelligentes Verhalten. Das sehen viele Wissenschaftler als Beleg dafür, dass die Entstehung von Intelligenz nicht an eine bestimmte Hirnregion gebunden ist, sondern auf verschiedenen Wegen zu Tage treten kann. Ein Faktor, der wahrscheinlich maßgeblich zu der Cleverness der Vögel beigetragen hat, ist deren ausgeprägtes Sozialverhalten.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Soziale Gefüge als Wegbereiter zu intelligentem Verhalten

Raben unter sich

Über laute Rufe warnen Krähen ihre Artgenossen vor nahenden Feinden. © Sepand Bakhtiari / CC-by-sa-4.0

Krähen leben in einem komplexen sozialen Gefüge mit ihren Artgenossen. Sie tummeln sich oft in Schwärmen von hunderten Tieren und besetzen gemeinsam ein Brutgebiet. Dort arbeiten sie eng zusammen: Wenn zum Beispiel ein Feind im Revier auftaucht, weiß es nach kurzer Zeit die ganze Rabennachbarschaft: Sobald der erste Vogel den ungebetenen Gast entdeckt, ertönt ein Warnruf und wird von Baum zu Baum weitergetragen.

Die Kommunikation unter den Krähen ist dabei erstaunlich differenziert. Sie haben unterschiedliche Alarmsignale für Katzen, Habichte und Menschen. Über 250 verschiedene Laute haben Wissenschaftler in der „Krähensprache“ identifiziert. Zudem nutzen die gesprächigen Tiere zwei verschiedene „Dialekte“: Einen lauten für Unterhaltungen innerhalb der Gruppe, und einen leisen für Privatgespräche innerhalb der Familie. Eine vergleichbar komplexe Kommunikation gibt es nur sonst nur bei hochentwickelten Säugetieren.

Das Wissen der anderen

Das Zusammenleben mit Artgenossen hat jedoch nicht nur Vorteile. Denn spätestens beim Futter hört die Freundschaft auf. Unter dem ständigen Wettbewerbsdruck, seinen Nachbarn beim Aufspüren von Walnüssen und anderen Leckerbissen immer eine Schnabellänge voraus zu sein, hat sich bei Rabenvögeln womöglich eine Fähigkeit entwickelt, die unter Kognitionsforschern als „Theory of mind“ bekannt ist: das Hineinversetzen in den Gegenüber und das Abschätzen dessen Gedanken und Absichten.

Diese Fähigkeit der Perspektivübernahme entwickelt sich bei Menschenkindern im zweiten Lebensjahr. Lange galt sie als Domäne des menschlichen Geistes. Tiere, so glaubte man, seien zu diesem Hineinversetzen in Andere nicht fähig. Inzwischen allerdings belegen Experimente, dass Hunde und auch einige Vögel dies beherrschen.

Deutliche Hinweise für diese hohe Form der Intelligenz zeigen sich beispielsweise beim einzigartigen Futterversteck-Verhalten der Rabenvögel. Die Tiere sind Meister der Nahrungsverstecke. Dabei merken sich Eichelhäher nicht nur über 30.000 verschiedene Verstecke. Krähen beherrschen beim Anlegen ihrer Geheimvorräte auch die große Kunst der Täuschung und scheinen sich dafür in ihr Gegenüber hineinversetzen zu können, wie verschiedene Experimente nahelegen.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Was wissen Krähen über ihr Gegenüber?

Ich sehe was, was du nicht siehst

Raben und Krähen legen gern Futterverstecke an - am liebsten, wenn kein Artgenosse zusieht. © Alexas_Fotos / pixabay

Aus der Beobachtung von Krähen können wir einiges über ihr Verhalten und ihre „Sicht der Dinge“ lernen. Besonders interessant wird es, wenn einer der Rabenvögel im Beisein seiner Artgenossen ein Futterversteck anlegen will.

Wenn eine Krähe beispielsweise beim Verstecken einer Nuss beobachtet wird, versucht sie dem Blick des potenziellen Plünderers zu entschwinden und legt sogar leere Scheinverstecke an. Erst wenn der Artgenosse diese neugierig inspiziert, nutzt die Krähe den unbeobachteten Moment, um ihr richtiges Versteck anzulegen. Und auch die spionierenden Krähen tricksen und täuschen: Statt gebannt auf den Versteck-Vorgang zu starren, tun sie betont unbeteiligt und stelzen „uninteressiert“ auf und ab.

Dieses Verhalten setzt voraus, dass Krähen verstehen, wann sie von einem Artgenossen gesehen werden – eine Fähigkeit, die das Hineinversetzen in andere bedingt. Die versteckende Krähe unterscheidet sogar ihre Artgenossen: Wenn ein Vogel in die Nähe des Futterverstecks kommt, der beim Anlegen nicht zugesehen hat, bleibt die Krähe gelassen. Doch sobald sich ein potenzieller Mitwisser nähert, schnappt sie sich lieber schnell das Futter und verscharrt es an einem neuen Ort.

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Im Kopf des Gegners

Neben dem ständigen Konkurrenzkampf unter Artgenossen mussten sich viele Krähenvögel wie Raben im Laufe der Evolution auch gegen größere gefährliche Raubtiere behaupten. Denn als leidenschaftlicher Aasfresser muss ein Rabe sehr gut einschätzen können, wie dreist er beim Plündern eines frisch erlegten Beutetiers sein darf, ohne ihr eigenes Leben zu gefährden. Dieses Abwägen beherrschen die Vögel ziemlich problemlos.

Wölfe sind wertvolle "Mitarbeiter" für Raben: Die Vögel klauen sich oft einen Großteil der erlegten Beute. © Titleist46

Bis zu 90 Prozent eines Kadavers ergattern die Raben. Besonders gerne scheinen sie mit Wölfen „zusammen“ zu arbeiten. Sie führen die Räuber zum Teil sogar durch lautes Rufen zu einem geschwächten Beutetier – um sich nach getaner Arbeit der Wölfe großzügig am geöffneten Buffet zu bedienen. Eine Studie von John Vucetich der Michigan State University wirft sogar die Frage auf, ob das Rudel-Jagen der Wölfe zum Teil als Abwehrmaßnahme gegen die gierigen Rabenvögel entstanden ist.

Ihrer geistige Überlegenheit scheinen sich die Raben durchaus bewusst zu sein. Wenn beispielsweise ein Wolf einen Teil der Beute als Vorrat vergräbt, bemühen sich die Krähen nicht mal, ihr Interesse zu verbergen. Sie schauen ganz offensichtlich und unverhohlen zu. Und sobald der Wolf fort ist, graben sie das Fleisch aus und schlagen sich den Bauch voll.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Warum Rabenvögel den Menschenaffen Konkurrenz machen

Krähen und die Kunst des Werkzeugbaus

Diese Neukaledonische Krähe nutzt einen Ast als Werkzeug. © Mick Sibley

Die Herstellung und flexible Nutzung von Werkzeugen gilt als ein klassisches Indiz für intelligentes Verhalten. Nur dank dieser Entwicklung haben wir uns vor über zwei Millionen Jahren trotz fehlender Klauen und Reißzähne zum gefürchtetsten Jäger des Planeten erhoben.

Dass viele Tiere Material aus ihrer Umgebung als Werkzeug benutzen ist bekannt: Otter verwenden Steine als Muschelöffner ein und auch Schmutzgeier nutzen sie zum Knacken von Straußeneiern. Doch diese Handlungen basieren meist auf angeborenem, instinktivem Verhalten. Anders ist es bei Schimpansen und Bonobos. Die Menschenaffen setzen verschiedene Materialien flexibel ein und stellen auch eigenen Werkzeuge her. Lange Zeit waren Menschenaffen jedoch die einzigen Tiere, denen man die Herstellung von eigenen Werkzeugen zugebilligt hatte.

Bettys Fleischhaken

Vögel fielen uns allenfalls durch ihre zum Teil herausragende „Schnabelfertigkeit“ beim Nestbau auf. Aber Vertreter der Rabenvögel nutzen ihre Geschicklichkeit gepaart mit einer unbestreitbaren Cleverness tatsächlich auch zum gezielten Einsatz einfacher Werkzeuge. In Experimenten beschränkten sie sich dabei nicht bloß auf das Verwenden eines Stöckchens, mit dem sie ohne zu Zögern Fleischstücke aus unzugänglichen Kästen bugsieren.

Sie stellen sogar spontan eigenes Werkzeug für ihre Bedürfnisse her, wie das Video von Krähe Betty beweist. Die hatte 2002 selbst Alex Kacelnik und seine Kollegen von der University of Oxford überrascht. Die Forscher hatten Betty und ihrem Bruder Abel im Rahmen eines Experiments einen Fleisch-Snack kredenzt. Die Leckerbissen waren in kleinen Eimern mit Henkel platziert, die jedoch in tiefen Plexiglaszylinder standen, sodass die Krähen nicht mit den Schnäbeln herankamen.

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Schlauer als gedacht

Die Wissenschaftler wollten eigentlich herausfinden, wie gut Krähen den Nutzen von Werkzeugen für eine bestimmte Aufgabe einschätzen können. Dazu hatten sie den Geschwistern verschieden stark gebogene Drähte bereitgelegt, von denen aber nur einer einen richtigen Haken am Ende formte.

Abel erfüllte sofort die Erwartungen des Teams und schnappte sich den richtigen Draht, um damit nach dem Futter zu angeln. Seiner Schwester blieben nur die unbrauchbaren Drähte. Doch die Forscher hatten die Intelligenz der Neukaledonischen Krähe unterschätzt: Obwohl sie noch nie zuvor mit Metalldraht in Kontakt gekommen war und ihre Artgenossen in der Natur nicht mit dem Material Metall vertraut sind, bog sie sich einen der übrigen Drähte kurzerhand selbst mit dem Schnabel zurecht.

Die Schimpansen der Lüfte

Auf dem Gebiet der Werkzeugherstellung seien die Krähen damit sogar den Schimpansen überlegen, kommentieren die Forscher die Leistung von Betty. Kombinationsgabe und Weitsichtigkeit demonstrieren Krähen auch wiederholt in Experimenten mit mehrstufigen Rätseln. Das „Puzzle“, was Alex Taylor von der Auckland University für seine Krähe entworfen hat, gehört sicherlich zu den kniffligsten Herausforderungen, denen eine Krähe je ausgesetzt war.

Um an das verlockende Fleischstück in einem Plexiglaskasten zu kommen, muss der 007 genannte Testvogel eine Sequenz von acht Schritten in der richtigen Reihenfolge abarbeiten, wie ein Video der BBC zeigt. Dass Krähen einen Stock zum herausbugsieren von Futter aus einer vergitterten Box nutzen ist eine Sache. Aber dass 007 einen kurzen Stock benutzt, um an kleine Steine zu gelangen, die er wiederum zur Beschaffung eines langen Stockes benötigt – das ist eine wahre gedankliche Meisterleistung.

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Die Krähe muss für diese Leistung nicht nur zu der Schlussfolgerung in der Lage sein, dass ein Werkzeug auch zur Beschaffung von anderem Werkzeug taugt. Sie muss auch einen komplexen Plan abarbeiten, ohne unterwegs ihr eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren – nämlich das Fleisch in der Plexiglasbox. Weil eine derartige Intelligenz mit der von Menschenaffen in einer Liga spielt, gelten Krähen seither auch als die „Schimpansen der Lüfte“.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Was weiß die Krähe von morgen?

Ein Blick in die Zukunft

Krähenvögel können nicht nur Werkzeuge nutzen, sondern auch in begrenztem Maße die Zukunft planen. © ZoonarRF / iStock.com

Krähen besitzen viele faszinierende Gaben, die sie von den meisten anderen Tieren abheben: Unter anderem sind sie in der Lage, ihre eigene Zukunft zu planen – zumindest in begrenztem Maße. Das vorausschauende Denken zeigt sich zum Beispiel in folgendem Versuch:

An einer Sitzstange hängt eine lange Schnur, an deren Ende ein Stück Salami gebunden ist – gut sichtbar, aber nicht direkt zu erreichen. Raben, die in dieses Szenario gesetzt wurden, kamen fast ausnahmslos auf die richtige Idee: Sie zogen die Schnur mit dem Schnabel hoch, klemmten sie unter dem Fuß fest, um dann ihren Schnabel umzupositionieren und die Schnur ein weiteres Stück raufzuziehen – und so weiter.

Für einen Vogel ist allein diese für ihn unnatürliche Beschaffungstechnik schon beachtlich. Aber noch bemerkenswerter ist, was passierte, als die Forscher die Raben von der Stange aufscheuchten nachdem sie ihre Belohnung ergattert hatten: Statt an der angebundenen Salami festzuhalten, ließen die Vögel die Wurststücke sofort beim Abflug los. Die Raben konnten sich wohl vorstellen, was passiert wäre, wenn sie das festgebundene Fleisch in der Klaue behalten hätten – auch wenn sie so eine Situation niemals zuvor selbst erlebt hatten.

Eichelhäher legen gerne Nahrungsvorräte für schlechte Zeiten an. © Oldiefan / pixabay

Luxuszimmer oder billige Absteige

Die Voraussicht der Rabenvögel reicht sogar noch weiter, wie das „Frühstückszimmer-Experiment“ nahelegt. In diesem Versuch führten Nicola Clayton von der University of Cambridge und ihr Team Eichelhäher jeden Morgen entweder in ein „Luxuszimmer“ mit reichlich Nahrung oder in eine „billige Absteige“ ohne Futter. Am Abend war nur ein dritter Raum mit Pinienkernen geöffnet.

Nach ein paar Tagen, in denen die Vögel den regelmäßigen Wechsel zwischen den Räumen kennengelernt hatten, öffneten die Forscher am Abend alle drei Räume gleichzeitig. In den beiden Frühstücksräumen hatten sie Sandboxen aufgestellt, in denen die Häher die Pinienkerne aus dem dritten Raum vergraben konnten.

Das Verblüffende: Beim Vergraben ihrer Vorräte legten die Eichelhäher in der billigen Absteige etwa drei Mal mehr Nahrungsverstecke an als im Luxuszimmer. Offenbar planten die Vögel für den nächsten Tag voraus, an dem sie wahrscheinlich wieder nur in die billige Absteige ohne Frühstück gelassen würden. Für die Wissenschaftler ist dieses Verhalten ein klares Zeichen von Intelligenz und der Voraussicht der Vögel.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Was verstehen Krähen von Abstraktion und Auftrieb?

Die hohe Schule der Intelligenz

Krähen können sich in andere Lebewesen hineinversetzen, bauen ihr eigenes Werkzeug und planen sogar ihre Zukunft. Und trotzdem ist dieses Sammelsurium an intelligenten Fähigkeiten noch längst nicht vollständig. So beweist ein ganz besonderes Memoryspiel von Anna Smirnova von der Lomonossow-Universität in Moskau und ihren Kollegen, dass Krähen auch zu abstraktem Denken in der Lage sind.

In einer Eingewöhnungsphase machten die Wissenschaftler die Vögel zunächst mit dem Spielprinzip und dem Konzept von Gleichheit vertraut. Dazu zeigten sie den Krähen zum Beispiel ein Bild mit zwei gleichgroßen Kreisen und gaben ihnen zur Auswahl ein identisches Bild, sowie eines mit zwei verschieden großen Kreisen. Wählten die Krähen das identische Bild, bekamen sie eine Futter-Belohnung.

Beispielbilder aus einem Versuch zum abstrakten Denken von Krähen. Zu dem Anzeigebild in der Mitte muss die passende Option A oder B zugeordnet werden. © Anna Smirnova, Lomonosov Universität, Moskau

Größe, Form und Farbe

In einer späteren Phase des Tests gab es dann Bilder, zwischen denen keine direkte Übereinstimmung mehr vorhanden war, sondern nur noch ein abstrakter Zusammenhang bestand. Beispielsweise zeigten die Wissenschaftler der Krähe ein Bild mit zwei gleichgroßen Kreisen, das zu einem Bild mit zwei gleichgroßen Quadraten zugeordnet werden sollte, nicht aber zu einem Bild mit zwei unterschiedlich großen Quadraten.

Neben der Größe als abstraktem Zusammenhang wurden auch Form und Farbe der Symbole als verbindende Eigenschaft getestet. In den Versuchen lagen die Krähen im Durchschnitt zu 61 bis 77 Prozent richtig, je nach Aufgabenstellung. Diese hohe Trefferquote hatten sie ohne voriges Training zum Erkennen abstrakter Zusammenhänge erzielt, betonen die Forscher. Damit demonstrieren die Rabenvögel eine weitere Facette der Intelligenz, die sonst nur Menschenaffen und uns Menschen zu eigen ist.

Der Archimedes-Vogel

Je mehr wir über Raben und Krähen lernen, desto größer scheinen die Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Vogel. Die wohl ungewöhnlichste kognitive Leistung der Rabenvögel hatte schon der griechische Dichter Äsop in der Antike beschrieben. In einer Fabel erzählte er von einer Krähe, die Steine in einen Krug mit Wasser legt, um zum Trinken an das kühle Nass heranzukommen.

Heute haben Forscher wie Sarah Jelbert von der Auckland University in Neuseeland diese Beobachtung vielfach durch Experimente bestätigt und sind sich ziemlich sicher: Krähen haben tatsächlich ein fundamentales Grundverständnis von Physik – genauer gesagt von dem Archimedischen Prinzip, also der Lehre von Wasserverdrängung und Auftrieb. In Experimenten haben Wissenschaftler den Krähen wassergefüllte Plexiglasgefäße vorgesetzt, deren Wasserstand gerade so tief war, dass sich ein auf der Oberfläche schwimmendes Leckerchen außerhalb der Schnabelreichweite befand.

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Kein Bedarf an kleinen Steinen

Wie ihre Vorbilder aus der Fabel von Äsop kamen die Vögel auf die Idee, Steine in das Gefäß zu werfen. Als Folge stieg der Wasserspiegel und sie kamen schließlich an die Nahrung heran. Dabei wählten Krähen ganz gezielt größere und schwerere Steine für ihr Unterfangen aus, als wüssten sie um das Grundprinzip des Auftriebs Bescheid. Wenn die Forscher ihnen beispielsweise „falsche“ Steine aus Styropor unterjubelten, ließen sie diese sofort nach dem Anheben links liegen und benutzten nur die echten Steine.

Wenn ihnen die Leckerei in einem sandgefüllten Zylinder präsentiert wurde, versuchten sie hingegen gar nicht erst, die Füllhöhe durch Einwerfen von Steinen zu verändern. Sie erkannten offenbar sofort, dass diese Technik dort keinen Erfolg bringt. Offenbar können Krähen also die physikalischen Eigenschaften verschiedener Stoffe unterscheiden und haben eine erstaunlich gute Vorstellung von Wasserverdrängung, die mit dem Kenntnisstand von fünf- bis siebenjährigen Kindern vergleichbar ist.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Die amüsante Nebenwirkung von Intelligenz

Ein bisschen Spaß muss sein

Manchmal sieht man Krähen ihr schelmisches Verhalten nahezu an. © Michael Palmer / CC-by-sa 4.0

Auf einer Parkbank liegt eine zurückgelassene Brötchentüte. Eine Krähe landet auf der Sitzfläche und beäugt misstrauisch die Lage. Vorsichtig hüpft sie auf die Tüte zu und streckt den Kopf langsam nach einem großen Krümel aus. Dann springt sie plötzlich zurück – vielleicht ist die Tüte ja doch gefährlich oder verbirgt einen lauernden Räuber. Als keine Reaktion aus Richtung der Tüte erfolgt, zieht die Krähe ihr Vorhaben durch, schnappt sich den Krümel und fliegt eilig davon.

Neugierde ist der Treibstoff für die Evolution von Intelligenz: Nur wer neue Dinge ausprobiert, kann Entdeckungen machen und bisher Unbekanntes erlernen. Bei Raben und Krähen sieht man den ständigen Widerstreit zwischen dem tierischen Fluchtverhalten und dem unbändigen Drang, alles genau untersuchen zu wollen, so wie das obige Beispiel veranschaulicht. Und meist überwiegt die Neugierde.

Loopings und Wildschweinrodeo

Intelligente Tiere müssen verrückte Dinge tun, so lautet die Überzeugung des Verhaltensforschers Bernd Heinrich von der University of Vermont. Und für Rabenvögel scheint dies in besonderem Maße zuzutreffen. Die kessen Luftakrobaten schlagen Loopings auf dem Nachhauseweg, rollen sich im Winter schneebedecke Hänge hinunter oder vergnügen sich beim Wildschweinrodeo auf dem Rücken der vielleicht weniger vergnügten Keiler.

Dass Jungtiere einen ausgeprägten Spieltrieb zeigen, ist ganz normal und gehört zum Lernprozess dazu. Aber wenn erwachsene Tiere derartiges Verhalten an den Tag legen, machen sie das wahrscheinlich einfach aus Spaß, vermutet der Forscher. Einen evolutionären Vorteil haben sie von derartigen Handlungen jedenfalls nicht.

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Flexibilität fördert Intelligenz

Die Späße der Rabenvögel sind ein Ausdruck ihres abwechslungsreichen Lebens. Aber nicht nur bei der Gestaltung ihrer „Freizeit“ sind die Vögel äußerst flexibel. Auch der Speiseplan von Rabenvögel ist abwechslungsreich und umfasst neben Aas auch Insekten, Regenwürmer, kleine Wirbeltiere, sowie Früchte, Nüsse und Mais.

Die ökologische Strategie der Raben ist Flexibilität – und diese bedarf einer gewissen Intelligenz und Lernfähigkeit, wie Forscher argumentieren. Ein Koala beispielsweise, der sich ausschließlich von Bambus ernährt, muss nicht viel nachdenken, um an sein Futter zu kommen. Das macht sein Leben einfacher, aber auch eingeschränkt.

Krähen hingegen nutzen alle möglichen Nahrungsquellen und erschließen sich immer neue Wege, um an Futter zu gelangen. Dabei sind sie zum Beispiel beim Plündern der Speisereste von uns Menschen ganz vorne mit dabei und verdrängen vielerorts die Tauben als Stadtvogel Nummer Eins.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017

Ein schwieriges Verhältnis

Krähe und Mensch

Unter anderen dank ihrer überragenden Intelligenz haben sich Rabenvögel auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis ausgebreitet. Zum Menschen und unseren Städten haben sie über die Jahre ein ganz besonderes Verhältnis entwickelt. Da Krähen Allesfresser sind, fühlen sie sich unseren Siedlungen sichtlich wohl und haben den Lebensraum „Großstadtdschungel“ längst für sich entdeckt. Eine nicht immer einfache Koexistenz.

Drahtbügel im Krähennest

Ein Beispiel für die Tücken der Krähennachbarschaft zeigt sich in der japanischen Hauptstadt Tokio. Dort haben die schwarzen Vögel längst die Funktion von Verkehrsampeln durchschaut: Sie werfen Walnüsse vor fahrende Autos und sammeln die geknackten Leckereien nur bei der Fußgänger-Grünphase ein.

Japanische Krähen bauen ihre Nester oft aus stibitzten Drahtbügeln. © Götz / CC-by-sa 3.0

Die in Tokio ansässigen Krähen haben aber auch ein neues Nestbaumaterial für sich entdeckt. In Japan hängen die meisten Menschen ihre Wäsche zum Trocknen auf Drahtbügeln auf. Diese Bügel aus Metalldraht passen den Krähen perfekt in den Schnabel. Sie haben genau die geeignete Dicke, um daraus Nester zurechtzubiegen. Der Diebstahl von Kleiderbügeln allein ist jedoch nicht das Hauptproblem.

Denn das droht erst, wenn ein Krähenpaar ihr Drahtnest an einem Strommast aufbaut und so einen Kurzschluss provoziert. Damit haben die Vögel schon mehrfach für großflächige Stromausfälle gesorgt, sodass Tokio bereits ein „Sondereinsatzkommando“ aufgestellt hat. Die Eingreiftruppe fährt täglich auf Patrouille, um derartige Nistversuche rechtzeitig zu entdecken und zu unterbinden.

Wo sich ein Krähenschwarm niederlässt, ist es mit der Ruhe erst einmal vorbei. © Foto: Jonn Leffmann / CC-by-sa 3.0

Gemeinsam gegen die Krächzer

Auch in Deutschland gibt es immer öfter Ärger mit den Krähen. In Meitingen bei Augsburg ist der Schlosspark nicht nur vom Kot der Vögel verunstaltet, das laute Krächzen hat die meisten Ruhe suchenden Menschen aus der ehemaligen Erholungsoase vertrieben. Und in der nahe gelegenen Schule kann während der Nistzeit nur bei geschlossenem Fenster unterrichtet werden, so laut ist das Gekrächze der Rabenvögel – die trotz ihrer heiseren Stimme zu den Singvögeln gehören.

In Meitingen hat man wie in vielen anderen Städten den Kampf gegen die unliebsamen Parkbesucher aufgenommen. Täglich lässt Falkner Leo Mandlsperger seine Falken durch den Park gleiten, damit die Krähen ihre Nester nicht dort, sondern in einem abgelegenen Waldstück am Stadtrand errichten. Nur wenn er täglich im Park auftaucht, hat die Strategie Erfolg. Schon wenn die Krähen nur das Auto sehen, wissen sie Bescheid, dass Unheil droht.

Gemeinsam leben und lernen

Das Umsiedeln von Krähenschwärmen gleicht einem Kampf gegen Windmühlen. Einfachere Abschreckmaßnahmen wie das Aufhängen von Heliumballons in den Bäumen haben nur kurzzeitige Wirkung auf die schlauen Vögel. Wenn sie merken, dass ihnen keine Gefahr droht, lassen sie sich durch derartige Vogelscheuchen nicht stören.

Das haben auch Landwirte bemerkt, die ihre Aussaat lange Zeit verzweifelt mit scharfer Munition und Gift gegen hungrige Saatkrähen verteidigt haben. Vor etwa 70 Jahren waren die Krähen in Deutschland deshalb nahezu ausgerottet. Mittlerweile stehen die Vögel wie alle Singvögel unter Vollschutz und haben sich wieder gut erholt.

Um geeignete Mittel und Wege zum Zusammenleben von Rabe und Mensch zu finden, müssen wir lernen, die Vögel richtig zu verstehen. Die letzten Jahre der Verhaltensforschung mit Rabenvögeln haben deutlich gemacht, dass wir hier noch viel nachzuholen haben. Sicher hält die Zukunft noch einige spannende Entdeckungen über die Fähigkeiten der „Schimpansen der Lüfte“ bereit.

Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017