Was bestimmt unsere sexuelle Orientierung?

Homo, bi oder hetero?

Die sexuelle Orientierung von Menschen unterscheidet sich – aber warum? © Max Brucelle/iStock.com

Lange galt die Homosexualität als krankhafte Anomalie, als psychische Störung oder schlicht als kriminell. Heute aber ist klar, dass sie eine natürliche Variante unserer sexuellen Orientierung ist – und dass ihre Wurzeln bis ins Tierreich reichen. Doch was bestimmt, ob wir homo-, hetero-, oder bisexuell sind? Sind es die Hormone, die Gene oder doch etwas ganz anderes?

Unsere sexuelle Orientierung ist eines unserer fundamentalen Persönlichkeitsmerkmale. Denn sie beeinflusst unser Sexualverhalten und unsere Beziehungen – und damit einen wichtigen Teil unseres Lebens. Doch was bestimmt, ob wir uns eher von Frauen, von Männern oder von beiden angezogen fühlen, ist bis heute rätselhaft. Forscher haben gerade erst angefangen, die komplexen Wurzeln der sexuellen Orientierung zu entschlüsseln. Immerhin: Einige spannende Erkenntnisse gibt es bereits.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Die sexuelle Orientierung und ihre Varianten

Rätselhafte Anziehung

Lange schien das menschliche Sexualverhalten ebenso klar wie eindimensional: Zu einem Mann gehört eine Frau, beide bekommen Kinder und fertig. Noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein galt die Heterosexualität als die sexuelle Norm – alles andere galt als widernatürlich oder krank. Erst in den 1970er Jahren wurde Homosexualität offiziell aus dem Katalog psychischer Erkrankungen und Störungen, dem sogenannten DSM, herausgenommen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO strich Homosexualität sogar erst 1990 aus ihrem Katalog.

Ob wir eher Männer oder Frauen anziehend finden, bestimmt unsere sexuelle Orientierung. © Marija Radovic/iStock.com

Komplexes Zusammenspiel

Heute ist klar, dass unsere sexuelle Orientierung nicht so simpel schwarz-weiß gestrickt ist – und dass Homosexualität und Bisexualität zur natürlichen Bandbreite menschlichen Verhaltens gehören. Welche sexuelle Orientierung ein Mensch hat, wird durch ein komplexes Zusammenspiel von Faktoren bestimmt. Sie beeinflussen, ob wir uns eher von einem Mann oder einer Frau sexuell angezogen und erregt fühlen, welches Geschlecht in unseren Fantasien auftaucht und auch, mit wem wir Sex haben.

Dieses komplexe Zusammenspiel von Empfinden, unwillkürlichen Reaktionen und Handeln macht es nicht unbedingt leichter, die sexuelle Orientierung zu definieren – und sie zu erforschen. Die Schwierigkeiten beginnen schon bei der Einordnung: Ob jemand heterosexuell, homosexuell oder auch bisexuell ist, kann letztlich nur er selbst ermessen. Forscher sind deshalb größtenteils auf die Selbsteinschätzung der Teilnehmer angewiesen.

Wie hoch ist der Anteil?

Das gilt auch für Studien zum Anteil homosexueller Frauen und Männer an der Bevölkerung. Der berühmte Sexualforscher Alfred Kinsey ging in den 1940ern noch von mindestens zehn Prozent homosexuellen Männern und Frauen aus. Heute gilt dies aber als zu hoch gegriffen. Moderne Erhebungen kommen eher auf Anteile von weniger als 1,5 Prozent lesbischer Frauen und bis zu 3,5 Prozent schwuler Männer. Als bisexuell bezeichnen sich meist nur rund ein Prozent der Teilnehmer.

Anteile verschiedener Varianten der sexuellen Orientierung in Großbritannien 2012. Die Daten entsprechen der Selbsteinschätzung der Befragten. © Office for National Statistics /OGL

Im Umkehrschluss bedeutet dies: Rund 95 Prozent der Menschen sind heterosexuell, rund fünf Prozent sind es nicht. Ähnliche Anteile finden sich dabei in nahezu allen Kulturen – ob Naturvolk oder Stadtbewohner. „Es gibt bisher keine überzeugenden Belege dafür, dass sich die Rate der gleichgeschlechtlichen Anziehung im Laufe der Zeit oder der geografischen Position stark verändert hat“, sagt Michael Bailey von der Northwestern University.

Gegensätze oder Kontinuum?

Ist unsere sexuelle Orientierung ein Entweder-Oder oder sind die Übergänge fließend? Diese Frage erscheint auf den ersten Blick wenig relevant, doch bei der Suche nach den Ursachen für Homo- und Heterosexualität kann sie wertvolle Hinweise liefern: „Eine zweigipflige Verteilung würde implizieren, dass die sexuelle Orientierung schon in frühem Alter festgelegt ist“, erklären die britischen Psychobiologen Glenn Wilson und Qazi Rahman. Sind dagegen Zwischenformen häufig, könnte dies eher darauf hindeuten, dass soziale Einflüsse, Lernerfahrungen oder die Lebensweise entscheidend sind.

Tatsächlich zeigen Studien: Die sexuelle Orientierung ähnelt eher einer einseitig erhöhten U-Kurve als einer Glockenkurve. Konkret bedeutet dies, dass beide Extreme – Hetero- und Homosexualität – häufiger vorkommen als bisexuelle Zwischenformen. Das spricht dagegen, dass die sexuelle Orientierung des Menschen ein Kontinuum mit fließenden Übergängen bildet. Allerdings gibt es dabei Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Bei Frauen kommt Bisexualität und auch ein Wechsel der sexuellen Orientierung im Verlauf des Lebens etwas häufiger vor als bei Männern.

Die noch von Kinsey und seinen Kollegen vertretene Theorie, dass fast jeder Mensch „ein bisschen bi“ ist, trifft demnach wahrscheinlich nicht zu. Zwar gibt es Menschen, die sich als bisexuell erleben und definieren, sie sind aber eine kleine Minderheit – nicht die Regel.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Die Rolle psychosozialer Faktoren

Frühe Prägung?

„Was hab ich bloß falsch gemacht?“ – diese Frage stellen sich manche Eltern von schwulen und lesbischen Jugendlichen heute noch. Kein Wunder: Lange galt die Homosexualität als sozial und psychisch bedingt. Psychologen und Ärzte gaben wahlweise den Eltern, dem sozialen Umfeld oder gar homosexuellen Verführern die Schuld an der abweichenden sexuellen Orientierung. Bis heute gibt es, vor allem in christlich-fundamentalistischen Kreisen, Versuche, schwule und lesbische Menschen umzuerziehen – in der Regel vergeblich.

Für Sigmund Freud war Homosexualität eine psychisch bedingte Anomalie. © US Library of Congres/ Max Halberstadt

Ödipus, Penisneid und Co

Einer der ersten, der psychosoziale Ursachen der Homosexualität postulierte, war Sigmund Freud. Für ihn war die Sache klar: Homosexualität hat ihren Ursprung in der frühen Kindheit. Seiner Ansicht nach spielte eine mangelnde Auflösung des Ödipus-Komplexes dabei eine Schlüsselrolle: Hatten Jungen einen sehr strengen oder abwesenden Vater und eine überfürsorgliche Mutter, dann könne dies später eine „anomale“ Neigung zum eigenen Geschlecht auslösen, so seine Theorie.

Andere Psychologen und Psychoanalytiker sahen in der männlichen Homosexualität ein Steckenbleiben in der sogenannten „analen“ Phase – und damit ebenfalls eine psychologische Entwicklungsstörung. Auch eine Kastrationsangst durch Sex mit einer Frau wurde als mögliche Ursache diskutiert.

Bei den Erklärungen für die weibliche Homosexualität taten sich Freud und seine Zeitgenossen schon deutlich schwerer. Einer Hypothese nach sorgt ein übersteigerter Penisneid dafür, dass Mädchen sich mit Brüdern oder dem Vater identifizieren und daher wie diese Frauen als Sexualpartner bevorzugen. Einer anderen Theorie nach führen Missbrauchserfahrungen dazu, dass Mädchen später Männer meiden.

„Absolut nichts gefunden“

Heute ist klar: Diese Annahmen sind falsch. „Alle Versuche, psychosoziale Faktoren in der Entwicklung der sexuellen Orientierung zu finden, haben absolut nichts zutage gefördert“, betonen die Psychobiologen Glenn Wilson und Qazi Rahman. So gibt es beispielsweise keine Hinweise darauf, dass Jungen mit fehlendem oder überstrengem Vater später häufiger homosexuell sind als andere. Und lesbische Frauen haben nicht signifikant häufiger einen Missbrauch erlebt als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossinnen.

Freispruch für die Väter: Ihr Verhalten oder Erziehungsstil ist nicht der Auslöser von Homosexualität. © Monkey business/ iStock.com

„Es gibt keinen substanziellen Beleg dafür, dass die Art der Erziehung oder Erfahrungen der frühen Kindheit irgendeine Rolle für die Entwicklung der heterosexuellen oder homosexuellen Orientierung spielen“, konstatierte daher unter anderem das Royal College of Psychiatrists – die Standesorganisation der britischen Psychiater.

Kein unbeschriebenes Blatt

Hinzu kommt: Lange galten Kinder als „unbeschriebenes Blatt“ – als Wesen, die erst nach ihrer Geburt durch Erfahrungen, Lernen und kulturelle Einflüsse ihre Persönlichkeiten und Fähigkeiten entwickeln. Inzwischen jedoch belegen Studien, dass ein Großteil unseres Verhaltens, unserer Anfälligkeiten und Neigungen bereits durch unsere Gene und durch Einflüsse im Mutterleib geprägt werden.

Das vielleicht überzeugendste Beispiel dafür liefern Fälle von männlichen Säuglingen, bei denen durch Unfall oder Operationsfehler der Penis zerstört wurde. Bis zum Jahr 2000 entschieden Mediziner in solchen Fällen meist, die Kinder komplett zu Mädchen umzuoperieren – das sei für die Betroffenen schonender, so glaubte man damals. Daher wurden diese Kinder von ihren Eltern als Mädchen aufgezogen und auch von ihrem Umfeld entsprechend wahrgenommen.

Doch als diese Kinder erwachsen wurden, passte ihre sexuelle Orientierung nicht zu ihrer weiblichen Prägung: In den meisten Fällen fühlten sie sich zu Frauen hingezogen. „Dieses Ergebnis ist genau das, was man bei einer biologischen Ursache für die sexuelle Orientierung erwarten würde – und das Gegenteil dessen, was eine soziopsychologische Prägung hervorbringen würde“, sagt US-Psychologe Michael Bailey.

Die Ansicht, dass homosexuelle Menschen irgendwie durch ihr Umfeld „dazu gemacht“ wurden, gilt heute in Fachkreisen als weitgehend widerlegt. Das bedeutet auch: Sexuelle Orientierung ist keine Frage der Entscheidung. Wir suchen uns nicht aus, von wem wir uns sexuell angezogen fühlen. Die Wahl besteht nur darin, ob wir dieser Anziehung stattgeben oder nicht.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Schwule Männer und ihre Geschwisterfolge

Der Bruder-Effekt

Ein seltsames Phänomen ist seit Jahrzehnten bekannt: Schwule Männer haben häufig ältere Brüder. Im Vergleich zu ihren heterosexuellen Geschlechtsgenossen sind sie seltener Einzelkinder und auch seltener der erstgeborene Sohn. Schon in den 1950er Jahren machte diese Auffälligkeit Forscher stutzig.

Hat ein Junge ältere Brüder, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst schwul wird. © Romrodinka/iStock.com

Je mehr große Brüder…

Wie ist dieser seltsame Effekt zu erklären? Um der Sache auf die Spur zu kommen, haben Mediziner seither genauer untersucht, was es mit der Geschwisterfolge und der Homosexualität auf sich hat. In mehreren Studien mit homosexuellen Männern und Frauen prüften sie, an welcher Position der Geschwisterfolge diese standen. Für die bisher größte Studie dieser Art werteten Ray Blanchard von der University of Toronto und sein Team im Jahr 2011 14 Einzelstudien mit zusammen mehr als 7.000 Teilnehmern aus.

Und tatsächlich: Die schon zuvor beobachtete Auffälligkeit bestätigte sich. Schwule Männer sind in ihrer Familie signifikant häufiger die jüngeren Brüder. Je mehr ältere Brüder ein Mann hat, desto wahrscheinlicher ist es demnach, dass er homosexuell ist. Mit jedem älteren Bruder erhöht sich die Chance um rund 33 Prozent, wie Blanchard ausrechnete.

Verantwortlich für 28 Prozent

Geht man von einem normalen Schwulenanteil unter Männern von rund zwei Prozent aus, sind unter Männern mit zwei älteren auf 3,5 Prozent schwul, Männer mit vier Brüdern sogar zu sechs Prozent. Für ältere Schwestern dagegen gilt dies nicht – sie haben keinerlei Einfluss auf die sexuelle Orientierung ihrer kleinen Brüder. Auch bei lesbischen Frauen haben Forscher bisher keine Hinweise auf einen Effekt der Geschwisterfolge finden können.

„Dieser Große-Bruder-Effekt ist einer der konsistentesten und am besten belegten Funde auf dem Gebiet der männlichen sexuellen Orientierung „, sagt der US-Psychologe Michael Bailey. „Der Effekt ist nicht nur groß, er ist auch fast mit Sicherheit kausal.“ Insgesamt könnten rund 28 Prozent aller schwulen Männer ihre Homosexualität diesem Effekt verdanken, so die Schätzung der Forscher.

Hat der Bruder-Effekt psychosoziale oder biologische Wurzeln? © dimafoto/ iStock.com

Doch psychosozial?

Aber wie? Auf welche Weise kann die Geschwisterfolge die sexuelle Orientierung beeinflussen? Spielen hier womöglich doch psychosoziale Faktoren eine Rolle? Eine Möglichkeit wäre, dass die Interaktion mit den älteren Brüdern auf irgendeine Weise die Hinwendung zum eigenen Geschlecht fördert. Eine andere könnte sein, dass Mütter mit vielen Jungs ihre Nesthäkchen eher wie ein Mädchen behandeln und daher deren Verhalten prägen.

Allerdings haben sich trotz jahrzehntelanger Suche für keine dieser psychosozialen Hypothesen Belege gefunden. Stattdessen zeigen Studien, dass dieser Bruder-Effekt nur bei biologischen Brüdern auftritt, nicht aber bei adoptierten. „Der entscheidende Faktor scheint die Zahl der älteren Brüder zu sein, die von der gleichen Mutter geboren wurden – egal ob man mit ihnen zusammen aufgewachsen ist oder nicht“, sagt Bailey.

Immunreaktion im Mutterleib

Was aber ist dann die Erklärung für den Großen-Bruder-Effekt? Blanchards Idee: Möglicherweise spielt eine Immunreaktion der Mutter für diesen Effekt eine Rolle. Wie er erklärt, produzieren männliche Föten ein geschlechtsspezifisches Protein, das sogenannte H-Y-Antigen. Weil diese Antigene im Körper von Frauen normalerweise nicht präsent sind, empfindet das mütterliche Immunsystem sie als fremd – und löst eine entsprechende Immunreaktion aus.

Eine Immunreaktion im Mutterleib könnte für den Bruder-Effekt verantwortlich sein. © Janula/iStock.com

Eine solche Abwehrreaktion auf das eigene Ungeborene ist weniger exotisch als es zunächst klingt. Denn sie steckt auch hinter der Rhesus-Inkompatibilität – einer für Mutter und Kind bedrohlichen Schwangerschaftskomplikation. Sie tritt bei Schwangeren mit Rhesus-Faktor negativ auf, wenn ihre Kinder Rhesus Faktor positiv haben. Das Immunsystem der Mutter produziert dann Antikörper gegen das Blut des Kindes – und dies mit jeder Schwangerschaft mehr.

Männliches Antigen als Auslöser?

Beim Großen-Bruder-Effekt könnte es ähnlich sein, wenn auch mit subtileren Folgen. „Das H-Y-Antigen spielt fast mit Sicherheit eine Rolle für die sexuelle Differenzierung des Gehirns, denn seine Rezeptoren sind auf der Oberfläche der Neuronen präsent“, erklären die Psychobiologen Glenn Wilson und Qazi Rahman.

Fangen die mütterlichen Antikörper die H-Y-Antigene weg und verhindern so das Andocken, dann könnte dies die Entwicklung von Hirnzentren verändern, die für das spätere Sexualverhalten wichtig sind. Bei Mäusen haben Forscher bereits erste Indizien für solche Effekte nachgewiesen. Doch beim Menschen stehen entsprechende Studien noch aus.

Aber selbst wenn die Mechanismen hinter dem Großer-Bruder-Effekt aufgeklärt werden, bleiben mehrere Fragen offen: Warum werden nicht alle jüngeren Brüder schwul? Und was ist mit der großen Mehrheit der Homosexuellen, die ihre sexuelle Orientierung nicht mit dem Bruder-Effekt erklären können?

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Welche Rolle spielen Testosteron und Co?

Die Hormone

Es scheint naheliegend: Wenn unsere sexuelle Orientierung biologische Wurzeln hat, dann müssten die Hormone eine Rolle spielen. Denn sie beeinflussen nicht nur viele unserer Stimmungen und Reaktionen, sie prägen auch unser Geschlecht. Im Mutterleib entscheidet letztlich erst die Präsenz und Dosierung der Geschlechtshormone, ob sich aus einem Embryo ein Junge oder ein Mädchen entwickelt. Und nach der Pubertät sind es vor allem Testosteron und Östrogen, die das Wachstum von Bart oder Busen steuern.

Spielt das männliche Geschlechtshormon Testosteron für die sexuelle Orientierung eine Rolle? © HG: Huntstock/iStock.com

Was verrät der Hormonspiegel?

Doch mischen diese Hormone auch bei unserer sexuellen Orientierung mit? Diese Frage haben Forscher schon in den 1980er Jahren untersucht, indem sie Blutproben von homosexuellen und heterosexuellen Frauen und Männern auf ihren Hormongehalt hin analysierten. Das Ergebnis: Entgegen den Erwartungen unterschieden sich schwule und heterosexuelle Männer weder im Testosteron- noch im Östrogengehalt. Die einfache Vorstellung, das schwule Männer einfach zu wenig Testosteron produzieren und daher „weiblichere“ Männer sind, war damit weitgehend vom Tisch.

Weniger eindeutig sieht es dagegen – mal wieder – beim weiblichen Geschlecht aus: Hier haben Wissenschaftler tatsächlich hormonelle Unterschiede zwischen homo- und heterosexuellen Frauen gefunden. In den meisten Studien hatten lesbische Frauen leicht höhere Testosteronwerte. Allerdings: Wegen des weiblichen Zyklus schwanken bei Frauen die Hormonwerte stärker als bei Männern. Und nicht alle Studien haben weitere Einflussfaktoren wie Körpergröße und Gewicht berücksichtigt. Inzwischen gehen Forscher davon aus, dass die Geschlechtshormone im Erwachsenalter für die sexuelle Orientierung kaum eine Rolle spielen.

Zwei Gendefekte und ihre Folgen

Anders sieht dies jedoch mit der Hormonversorgung im Mutterleib aus: Es gibt gleich mehrere Indizien dafür, dass die Menge an pränatalem Testosteron die sexuelle Orientierung beeinflussen kann. Einen Hinweis liefern zwei Gendefekte: Bei der sogenannten kongenitalen adrenalen Hyperplasie (CAH) produzieren die Hormondrüsen des Fötus statt des Stresshormons Cortisol das männliche Geschlechtshormon. Als Folge bekommen genetisch weibliche Ungeborene viel zu viel Testosteron. Die Folge: Als Erwachsene sind deutlich mehr dieser Frauen lesbisch als es dem Durchschnitt entspricht.

Und auch den umgekehrten Fall gibt es: Bei Menschen mit einer Kompletten Androgenresistenz (CAIS) ist der Rezeptor für das männliche Geschlechtshormon wegen eines Gendefekts deaktiviert. Als Folge reagieren die Zellen und Gewebe des Ungeborenen nicht auf Testosteron – und genetisch männliche Föten entwickeln sich als Mädchen. Fast alle CAIS-Patienten fühlen sich später zu Männern hingezogen – bezogen auf ihr genetisches Geschlecht sind sie homosexuell.

Das Längenverhältnis von Zeigefinger zu Ringfinger erlaubt Rückschlüsse auf die pränatale Testosteron-Dosis. © Pixels/ pixabay

Das Geheimnis der Fingerlänge

Buchstäblich auf der Hand liegt ein weiteres Indiz für einen pränatalen hormonellen Einfluss: die Länge unserer Finger. Typischerweise ist bei Männern der Ringfinger etwas länger als der Zeigefinger. Bei Frauen ist es meist umgekehrt oder beide Finger sind gleich lang. Forscher haben herausgefunden, dass dieses sogenannte 2D:4D-Verhältnis durch die Testosteronwerte im Mutterleib bestimmt wird. Je mehr Testosteron der Fötus bekommt, desto ausgeprägter ist der Fingerlängen-Unterschied.

Das Interessante daran: An den Fingerlängen lässt sich häufig die sexuelle Orientierung ablesen – zumindest bei Frauen. Studien zeigen, dass lesbische Frauen im Schnitt eher ein „männliches“ 2D:4D-Verhältnis besitzen. Ihre Ringfinger sind demnach ähnlich wie bei den meisten Männern länger als ihre Zeigefinger. Bei homo- und heterosexuellen Männern sind die Befunde allerdings weniger eindeutig. Einige Wissenschaftler fanden gar keine Unterschiede, andere beobachteten bei schwulen Männern sogar „hypermännliche“ 2D:4D-Verhältnisse.

Nicht nur Testosteron?

Testosteron ist jedoch möglicherweise nicht das einzige Hormon, das schon im Mutterleib die Weichen stellt. Auch das Gelbkörperhormon Progesteron könnte eine Rolle spielen, wie eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie ergab. June Reinisch von der Indiana University und ihre Kollegen hatten dafür 17 Männer und 17 Frauen untersucht, die zwischen 1959 und 1961 am Universitätsklinikum Kopenhagen geboren worden waren. Ihre Besonderheit: Alle 34 Probanden waren im Mutterleib erhöhten Progesteron-Dosen ausgesetzt, weil ihre Mütter damals ein Hormonpräparat gegen eine drohende Fehlgeburt bekommen hatten.

Neben Testosteron könnte auch das Progesteron vorgeburtliche Einflüsse haben. © janula/ iStock.com

Die Frage war nun: Hatte die pränatale Progesteron-Schwemme die sexuelle Orientierung dieser Personen beeinflusst? Die Auswertung ergab: „Verglichen mit nicht-exponierten Personen identifizierten sich weniger dieser Männer und Frauen als heterosexuell“, berichten die Forscher. „Sie berichteten zudem vermehrt über gleichgeschlechtliche Anziehung und entsprechende Sexualkontakte.“ Nach Ansicht von Reinisch und ihren Kollegen spricht dies dafür, dass auch das Progesteron am komplexen Gefüge unserer sexuellen Orientierung mitmischen könnte.

Zusammenfassend bedeutet dies: Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass die Hormonwerte im Mutterleib eine wichtige Rolle für unsere sexuelle Orientierung spielen. Welche Mechanismen jedoch dabei greifen und welche Hormone welche Wirkung nach sich ziehen, ist bisher weitgehend ungeklärt.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Familien, Zwillinge und Genorte

Eine Frage der Veranlagung?

Wenn es um die biologischen Wurzeln der sexuellen Orientierung geht, steht eine Frage ganz oben: Könnten Gene dafür verantwortlich sein? Immerhin prägt unser Erbgut nicht nur unser Aussehen und unsere Gesundheit, auch viele Persönlichkeitsmerkmale und möglicherweise sogar Teile unseres Verhaltens könnten eine genetische Wurzel haben.

Gibt es eine familiäre Häufung? © artistico/ iStock.com

Familiäre Häufung

Eine klassische Methode, um eine genetische Veranlagung aufzuspüren, ist der Blick ins Familienalbum: Häuft sich das gesuchte Merkmal – in diesem Fall die Homosexualität – möglicherweise in bestimmten Familien? Tatsächlich scheint dies bei der sexuellen Orientierung der Fall zu sein: Bei schwulen oder bisexuellen Männern ist die Wahrscheinlichkeit doppelt bis fünffach höher, dass auch einer ihrer Brüder homosexuell ist, wie Studien belegen. Ähnliche, wenn auch geringere Häufungen gibt es bei lesbischen Frauen und ihren Schwestern.

Doch damit allein ist noch nicht bewiesen, dass genetische Faktoren dahinterstecken. Denn theoretisch könnte auch das Umfeld der gemeinsam Heranwachsenden für diese Häufung verantwortlich sein. An diesem Punkt kommt ein weiteres Werkzeug der Genetiker ins Spiel: Zwillingsstudien.

Zwillinge als Testfall

Weil eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, zweieiige aber nicht, können sie helfen, den Anteil der Veranlagung näher einzugrenzen. Generell sind Zwillinge im Mutterleib und meist auch beim Heranwachsen fast den gleichen Umweltbedingungen ausgesetzt. Wären diese Faktoren für die familiär gehäufte Homosexualität entscheidend, müsste diese bei ein- und zweieiigen Zwillingspaaren etwa gleich oft beide Geschwister betreffen.

Bei eineiigen Zwillingen sind häufiger beide Geschwister homosexuell. © Ramzihachicho/ iStock.com

Doch das ist nicht der Fall, wie unter anderem Michael Bailey und seine Kollegen in Zwillingsstudien feststellten. Bei den eineiigen Zwillingen waren in rund 30 Prozent der Fälle beide Geschwister homosexuell. Bei den zweieiigen waren es nur etwa acht Prozent. Seither haben verschiedene Forscher solche Studien mit jeweils mehreren tausend Zwillingspaaren wiederholt – und alle kamen zum gleichen Ergebnis: Bei eineiigen Zwillingen ist es deutlich wahrscheinlicher, dass beide Geschwister homosexuell sind.

Damit scheint klar, dass die sexuelle Orientierung auch durch genetische Faktoren beeinflusst wird – jedenfalls zum Teil. „Das Ausmaß des genetischen Einflusses ist unseren Schätzungen nach aber eher moderat „, sagt Bailey. Er und seine Kollegen schätzen, dass rund ein Drittel der Variationen in der sexuellen Orientierung auf genetische Unterschiede zurückgehen könnte.

Doch wo stecken diese Gene?

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Die Suche nach dem "Schwulengen"

Fahndung im Erbgut

Xq28 ist eine Region an der Spitze des X-Chromosoms © Koya79/ iStock.com

Erste Hinweise auf mögliche „Schwulen-Gene“ entdeckte der US-Genetiker Dean Hamer bereits 1993. Er hatte die DNA von 38 schwulen Brüderpaaren nach Genabschnitten durchsucht, die beide Männer gemeinsam hatten und die bei ihnen häufiger auftraten als bei ihren heterosexuellen Geschwistern. Dabei stieß er auf eine auffällige Genregion an der Spitze des X-Chromosoms: Xq28. Rund 67 Prozent der schwulen Brüder trugen in dieser Region übereinstimmende Genvarianten, bei ihren heterosexuellen Geschwistern waren es nur 22 Prozent.

Seither haben weitere, umfangreichere Studien Hamers Fund bestätigt, darunter auch eine von Michael Bailey. Er und sein Team fanden im Jahr 2014 ebenfalls Übereinstimmungen bei Xq28, sowie in einem DNA-Abschnitt auf dem achten Chromosom. „Es ist zwar ermutigend, dass die bisher größte Studie dieser Art diese Funde repliziert hat, aber der Fall ist noch lange nicht abgeschlossen“, sag Bailey. Denn längst nicht alle späteren Fahndungen im Erbgut konnten diese Ergebnisse reproduzieren.

Und noch zwei Kandidaten

Hinzu kommt: Xq28 und 8q12 sind nicht die einzigen heißen Kandidaten. Im Jahr 2016 entdeckten Forscher um Alan Sanders von der University of Chicago zwei weitere auffällige Genorte – und konnten sie sogar bis auf zwei Gene eingrenzen. Sie hatten die DNA-Proben von 1.077 homosexuellen und 1.231 heterosexuellen Männern einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS) unterzogen. Dabei verglichen sie das Erbgut bis auf die Ebene einzelner Genbuchstaben – der sogenannten Single Nucleotid Polymorphisms (SNP).

Auf Chromosom 13 und Chromosom 14 haben die Forscher jeweils eine potenziell relevante Genregion entdeckt. © NIH

Das Ergebnis: Sowohl auf Chromosom 13 als auch auf Chromosom 14 liegen Gene die sich zwischen schwulen und heterosexuellen Männern unterscheiden. Eines dieser Gene, SLITRK6, ist unter anderem im Hypothalamus aktiv, einer Hirnregion, die für Gefühle und Verhalten wichtig ist und in der es Strukturen gibt, die sich bei Menschen verschiedener sexueller Orientierung unterscheiden. Das zweite Gen, TSHR, enthält den Bauplan für eine Andockstelle der Schilddrüsenhormone.

Komplex und multifaktoriell

Zusammenfassend scheint damit klar, dass die sexuelle Orientierung zwar durchaus eine genetische Komponente hat. Diese ist aber weitaus komplexer als zunächst angenommen – und nicht einmal ansatzweise aufgeklärt. „Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es eindeutige Schwulen- oder Lesbengene gibt“, meint Tuck Ngun von der University of California in Los Angeles. „Stattdessen vermuten wir, dass ein ganzes Netzwerk von Genen hinter der sexuellen Anziehung steckt – und das dieses Netzwerk uns dazu veranlagt, eher Männer, Frauen oder aber beide sexuell attraktiv zu finden.“

Um die Verwirrung komplett zu machen, könnten neben der DNA auch epigenetische Faktoren eine Rolle spielen – Anlagerungen an der DNA, die das Ablesen der Gene blockieren können. Das Muster dieser Anlagerungen kann vererbt werden, sich aber auch durch Einflüsse im Mutterleib und während des Lebens verändern. Im Jahr 2015 haben Ngun und sein Team bereits erste Hinweise darauf gefunden, dass sich auch das Epigenom von homosexuellen und heterosexuellen Menschen in einigen Punkten unterscheidet. Doch auch hier stehen die Forscher gerade erst am Anfang.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018

Evolutionäre Sackgasse – oder gute Strategie?

Paradox der Evolution

Pinguine tun es, Delfine und auch Menschenaffen: Homosexualität ist keineswegs eine Domäne nur des Menschen. Verschiedene Spielarten gleichgeschlechtlicher Sexualität kommen auch im Tierreich vor – und das überraschend häufig. Schon mehr als 1.500 Tierarten haben Forscher bei homosexuellem Verhalten „ertappt“. Die Spanne reicht von wirbellosen Insekten über Vögel bis hin zu Säugetieren.

Kehlstreifpinguin (Pygoscelis antarctica) bei der Jungenaufzucht. © NOAA

Die Geschichte von Roy und Silo

Das vielleicht bekannteste Beispiel sind die Kehlstreifpinguine Roy und Silo. Wer im Jahr 1998 den New Yorker Zoo besuchte, dem erschienen diese beiden Pinguine auf den ersten Blick eher unspektakulär: Sie fraßen, tauschten zärtliche Rufe aus und waren insgesamt unzertrennlich. Wie für Pinguinpaare üblich, paarten sie sich schließlich und bauten ein gemeinsames Nest.

Das Besondere aber: Roy und Silo waren beide Männchen – was sie nicht weiter zu stören schien. Weil sie selbst keine Eier legen konnten, holten sie sich einfach einen rundlichen Stein als Ersatzei ins Nest. Später erbarmten sich die Tierpfleger und legten den beiden eifrig brütenden Pinguinen das verwaiste Ei eines anderen Paares ins Nest. Als das Küken nach 34 Tagen schlüpfte, erwiesen sich Roy und Silo als aufopferungsvolle und erfolgreiche Väter: Sie wärmten es und fütterten es mit herausgewürgtem Futter

Nur ein Symptom der Gefangenschaft?

Inzwischen ist klar, dass Roy und Silo kein Einzelfall sind. Auch in anderen Tiergärten haben Biologen seither gleichgeschlechtliche Pinguinpaare beobachtet. Doch gehört dies zum natürlichen Verhaltensspektrum dieser Vögel? Immerhin leben Roy, Silo und die anderen nicht wild, sondern in Gefangenschaft – und damit nicht unter natürlichen Bedingungen. Auch viele andere Beobachtungen von homosexuellem Verhalten bei Tieren stammen aus Zoos und Tierparks.

Einige Forscher vermuten daher, dass zumindest ein Teil dieser gleichgeschlechtlichen Paarungen eine Reaktion auf das Leben in Gefangenschaft sind. Der erhöhte Stress und manchmal auch ein Mangel an passenden Partnern des anderen Geschlechts könnte die Tiere sozusagen zu Not-Partnerschaften zusammenbringen. Dazu würde passen, das auch domestizierte Tierarten wie Schafe und Rinder häufiger homosexuelles Verhalten zeigen als ihre wilden Verwandten.

Bei Trauerschwänen gibt es auch in freier Wildbahn manchmal Männerpaare © Pixel/ CC-by-sa 3.0

Termiten und Trauerschwäne

Doch das kann nicht erklären, warum einige Tierarten auch in freier Wildbahn homosexuelle Beziehungen eingehen. Beispiele dafür gibt es bei Fischen, Reptilien, Meeressäugern, Vögeln, Affen und auch bei Insekten: Bei japanischen Termiten finden sich manchmal junge Männchen zusammen und bauen gemeinsam ein Nest wie Forscher vor kurzem entdeckten. Mangels Nachwuchs können diese „schwulen“ Termiten zwar keine neue Kolonie gründen, ihr Männerbund verschafft ihnen aber gegenüber „Single-Männchen“ einen Überlebensvorteil.

Ähnlich könnte es bei wilden Trauerschwänen sein: Bei diesen Vögeln finden sich ebenfalls manchmal zwei Männchen zusammen, bauen ein Nest und klauen sich dann von Nachbarpaaren ein Ei zum Bebrüten. „Weil diese Männerpaare zusammen stärker und größer sind als ein Paar aus Männchen und Weibchen, sind sie bei Nestbau und Brut sehr erfolgreich“, erklärt Petter Boeckman vom Naturkundemuseum in Oslo. „Einen gleichgeschlechtlichen Partner zu haben, kann sich daher für sie durchaus auszahlen.“

Bisexuelle Bonobos

Grundsätzlich bisexuell scheinen dagegen die Bonobos zu sein. Diese uns eng verwandten Menschenaffen sind ohnehin dafür bekannt, dass sie Sex in nahezu jeder Lebenslage praktizieren: zur Beschwichtigung, um sich Unterstützung zu sichern oder um Konflikte zu lösen. Nach dem Motto „make love not war“ ist der Sex bei ihnen der Kitt im sozialen Gefüge. Dabei scheinen die Affendamen und -herren in Bezug auf das Geschlecht ihres jeweiligen Partners wenig wählerisch zu sein.

Bonobos beim Sex. Bei diesen Menschenaffen ist rund die Hälfte der sexuellen Aktivität gleichgeschlechtlich. © Rob Bixby/CC-by-sa 2.0

Wie Biologen beobachtet haben, ist rund die Hälfte der sexuellen Aktivität bei Bonobos gleichgeschlechtlich. Im Regenwald des Kongo laden die Damen dabei ihre Artgenossinnen mit unmissverständlichen Hüftbewegungen zum Techtelmechtel ein. Für junge Bonobo-Mädchen ist der Sex mit älteren Weibchen sogar eine Art Initiation ins Erwachsenenleben: Sie verlassen typischerweise ihre alte Familie und schließen sich einer neuen Gruppe an. Dort verschaffen sie sich ihren Platz in der sozialen Rangordnung durch ausdauernde Fellpflege – und Sex mit den alteingesessenen Weibchen.

Ein Darwinsches Paradox

All diese Beispiele sprechen dafür, dass homosexuelle und bisexuelle Neigungen in der Natur zwar nicht die Regel sind, aber durchaus häufig vorkommen. Das allerdings weckt die Frage nach dem Warum. Denn rein evolutionär gesehen sind gleichgeschlechtliche Paarungen eine Sackgasse: Weil sie keine Nachkommen hervorbringen, tragen sie nicht zum Fortbestand der Art bei. Gleichzeitig müssten damit auch alle genetischen Anlagen für eine Homosexualität im Laufe der Zeit aussterben.

Eine mögliche Erklärung bietet der Onkel- und Tanten-Effekt: Weil homosexuelle Tiere keine eigenen biologischen Nachkommen haben, haben sie Zeit und Ressourcen, um sich um den Nachwuchs ihrer engsten Verwandten zu kümmern. Als Tanten oder Onkel können sie die Familien ihrer Geschwister unterstützen und so deren Überleben und Reproduktionserfolg verbessern, so eine der gängigsten Theorien. Tatsächlich ergab eine Studie bei einem Naturvolk auf Samoa, dass die dortigen Fa’afafine – relativ feminine homosexuelle Männer – häufiger bei der Versorgung und Erziehung ihrer Nichten und Neffen helfen.

In eine ähnliche Richtung, aber mit stärkerem Fokus auf die Genetik, geht eine weitere Hypothese: Die Gene, die beispielsweise bei Männern eine Homosexualität fördern, könnten nah verwandten Frauen Fortpflanzungsvorteile bringen. Das Prinzip dahinter kann man sich ähnlich vorstellen wie bei der Sichelzelle-Anämie: Wer zwei Allele dieser Genvariante trägt, erkrankt schwer. Wer aber nur ein Allel trägt, bleibt gesund und ist gegen Malaria geschützt – ein klarer Evolutionsvorteil.

Bisher allerdings gibt es kaum Belege für diese Hypothese. Zwar haben italienische Forscher in einer Studie tatsächlich Hinweise auf eine höhere Fortpflanzungsrate von Frauen mit homosexuellen Brüdern oder Onkeln gefunden. Ob dies aber tatsächlich auf diesen Effekt zurückgeht, lässt sich nicht beweisen – und auch reproduziert werden konnte diese Studie bisher nicht.

Warum homosexuelle Neigungen existieren, bleibt daher vorerst eines der großen Rätsel der Natur.

Nadja Podbregar
Stand: 29.06.2018