Was Gravitationswellen über kosmische Phänomene verraten

Wenn die Raumzeit Wellen schlägt

Gravitationswellen
Gravitationswellen verraten viel über die Objekte und Ereignisse, die sie verursachen. © peterschreiber.media/ Getty images

Wenn Neutronensterne miteinander kollidieren, erschüttern sie die Raumzeit – es entstehen Gravitationswellen. Diese Schwingungen liefern wertvolle Informationen über die Beschaffenheit von Neutronensternen, könnten aber auch bei der Aufklärung exotischer Materiezustände oder der rätselhaften Fast Radiobursts helfen.

Im Oktober 2017 detektierten die Gravitationswellen-Observatorien in den USA und Italien erstmals Raumzeit-Erschütterungen einer kosmischen Kollision, bei der nicht Schwarze Löcher, sondern Neutronensterne miteinander verschmolzen. Einer der Wissenschaftler, die sich schon länger mit Neutronensternen und den von ihnen verursachten Phänomenen beschäftigt, ist der theoretische Physiker Luciano Rezzolla von der Goethe-Universität Frankfurt.

Gravitationswellen aus der Verschmelzung von Sternenresten

Die Neutronenstern-Kollision

Der 16. Oktober 2017 hätte ein Tag des vollkommenen Triumphs für den theoretischen
Astrophysiker Luciano Rezzolla von der Goethe-Universität Frankfurt sein können. Denn an diesem Tag gaben Forschende des US-Gravitationswellenobservatoriums LIGO und des europäischen Detektors Virgo bekannt, dass sie erneut Gravitationswellen – gewaltige Erschütterungen des Raum-Zeit-Gefüges – aus der Tiefe des Weltalls aufgezeichnet hatten.

Neutronensternkollision
Im Oktober 2017 detektierten die Observatorien LIGO und Virgo erstmals die Gravitationswellen einer Neutronensternkollision.© NSF/LIGO/ Sonoma State University, A. Simonnet

Raumzeit-Erschütterung der anderen Art

Im Unterschied zu den zuvor aufgezeichneten Gravitationswellen ging dieses Ereignis jedoch nicht auf zwei verschmelzende Schwarze Löcher zurück. Stattdessen empfingen die Gravitationswellen-Observatorien im Oktober 2017 erstmals die Raumzeit-Erschütterungen von zwei kollidierenden Neutronensternen. Diese entstehen ebenfalls bei der Supernova massereicher Sterne und sind nach Schwarzen Löchern die wahrscheinlich kompaktesten Objekte im Universum.

In Neutronensternen ist die Masse unserer Sonne auf eine Kugel vom Durchmesser einer Großstadt zusammengepresst. Unter dem enormen Druck der komprimierten Masse werden selbst Atome und Atomkerne aufgelöst und ihr Inneres besteht hauptsächlich aus Neutronen. Wenn in einem Doppelsternsystem beide Partner zu Neutronensternen werden oder ein Neutronenstern bei der Supernova seines Vorgängersterns aus der Bahn geschleudert wird, können sich zwei Neutronensterne begegnen.

Wenn Sternenreste kollidieren

Kommen sich die beiden Neutronensterne – mit der passenden Geschwindigkeit – zu nahe, beginnen sie einen tödlichen Tanz: Sie umkreisen einander in einer sich immer enger ziehenden Spirale, an deren Ende beide Partner miteinander kollidieren und verschmelzen. Dabei entsteht zunächst eine Art „Mega-Neutronenstern“ bevor dieser zu einem Schwarzen Loch kollabiert. Bei diesem Ereignis wird Energie in Form von Gravitationswellen frei. Diese Erschütterungen der Raumzeit sind dann selbst Millionen Lichtjahre entfernt auf der Erde noch messbar.

Gravitationswellen-SImulation
Simulation der Gravitationswellen, die von zwei verschmelzenden Neutronensternen ausgesendet
werden.© L. Rezzolla, B. Giacomazzo, M. Koppitz, GU/AEI/Zuse

Schon im Jahr 2010 hatten Luciano Rezzolla und andere Forschende solche Gravitationswellen von verschmelzenden Neutronensternen in aufwendigen theoretischen Berechnungen prognostiziert. Basis dafür war Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, auf deren Grundlage Einstein schon vor mehr als 100 Jahren die Existenz von Gravitationswellen postuliert hatte. Mit dem Ereignis vom 16. Oktober 2017 gab es endlich Messdaten, die diese theoretischen Modelle bestätigten.

Ein kleiner Schatten dämpfte Rezzollas Freude allerdings: Nur zwei Wochen vor jenem 16. Oktober war sein aufwendiger Forschungsantrag gescheitert, mit dessen Hilfe er ein großes Projekt zur Neutronensternforschung hätte starten können. Der Grund: Die Gutachterinnen und Gutachter hielten es für extrem unwahrscheinlich, dass man in naher Zukunft die Gravitationswellen kollidierender Neutronensterne würde messen können. „Recht unglücklich“, findet Rezzolla – hätten die Verfasser des Gutachtens nur ein wenig mehr Optimismus an den Tag gelegt!

Gravitation, Quark-Gluon-Plasma und Einstein

Kosmische Ursuppe und Bettlaken-Raumzeit

Neutronensternkollisionen sind ein wichtiger Schlüssel, um zu verstehen, wie sich Materie unter extremen Bedingungen verhält und wie die schweren Elemente entstanden sind, aus denen unsere Welt besteht. Womöglich wird in solchen Kollisionen Materie so sehr verdichtet, dass sie sich in ihre elementaren Bestandteile auflöst.

Quark-Gluon-Plasma
In den normalen Kernbausteinen wie Neutronen sind Quarks (farbig) jeweils zu dritt durch die starke Kernkraft verbunden. Im Quark-Gluon-Plasma liegen die Quarks frei vor. © CERN

Auf der Spur der kosmischen „Ursuppe“

Dies zeigen zum Beispiel die Simulationsrechnungen des Astrophysikers Luciano Rezzolla, die er mithilfe von Supercomputern macht: Auf seinem Bildschirm entfalten die kosmischen Katastrophen eine lebendige, bunte Ästhetik aus Wirbeln oder vielförmigen Sphären in Gelb-, Orange- und Rottönen. „Was man sieht, ist Mathematik“, erklärt Rezzolla, „es ist nur eine andere Darstellungsweise als Zahlenreihen.“

Mit diesen Simulationen konnte Rezzolla zeigen, dass Gravitationswellen aus einer bestimmten Kollisionsphase sogar Hinweise auf eine Elementarteilchen-„Suppe“ liefern könnten, ein sogenanntes Quark-Gluon-Plasma. Dieses tritt nur unter extremsten Bedingungen auf, wie sie direkt nach dem Urknall herrschten oder bei besonders energiereichen Kollisionen in Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider (LHC) bei Genf erzeugt werden. In einem solchen Quark-Gluon-Plasma sind selbst die Kernbausteine Neutron und Proton zerfallen und ihre Komponenten, Quarks und Gluonen, liegen frei vor.

Zur Erforschung von Neutronensternen haben Rezzolla und seine Kollegen von der Goethe-Universität, der TU Darmstadt, dem GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung und der Universität Gießen vor zwei Jahren den Forschungscluster ELEMENTS ins Leben gerufen. Sie wollen wissen: Wie sieht das Innere von Neutronensternen aus? In welchem Zustand befindet sich die Materie während der Kollision? Liegt sie als Plasma der Elementarteilchen vor? Sind die Kollisionen Voraussetzung für die Entstehung schwerer Elemente wie Gold oder Platin?

Die Basis ist Einstein

Zur Beantwortung dieser Fragen wollen Rezzolla und sein Team beitragen. Sie setzen dazu bei der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins an, die dieser bereits 1915 vorstellte. „Die Allgemeine Relativitätstheorie ist eine schöne Theorie“, findet Rezzolla. „Sie ist mathematisch schön, und sie ist schön, weil sie die Wirkung der Gravitation nur unter einer einzigen Annahme erklärt: Es gibt eine obere Grenze der Ausbreitungsgeschwindigkeit, Licht hat also eine Maximalgeschwindigkeit.“

Diese Annahme erscheint dem Physiker schlüssig, denn „sonst würde man erwarten, dass Dinge sich augenblicklich verändern können. Wir Menschen wären dann wohl eher geisterhafte Erscheinungen, die ständig überall erscheinen könnten.“ Weniger intuitiv zu erfassen sind allerdings einige der Folgen von Einsteins Theorie: dass Raum und Zeit nicht voneinander zu trennen sind und dass Massen diese Raumzeit verformen.

Raumzeitkrümmung
Albert Einstein belegte mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, dass große Massen die Raumzeit krümmen, hier am Beispiel der Erde dargestellt. © traffic_analyzer/ Getty images

Warum Newton bei der Gravitation irrte

Daraus folgt auch: Gravitation rührt nicht von der gegenseitigen Anziehung von Massen her – eine Theorie, die Isaac Newton im 17. Jahrhundert entwickelte und die 250 Jahre lang nahezu alle beobachtbaren Bewegungsphänomene glänzend erklärte. Erst als Astronomen die Umlaufbahn des Merkurs exakt vermaßen, bekam Newtons Theorie erste Risse: Die Umlaufbahn weicht wenig, aber deutlich von der Bahn ab, der er den Newton’schen Prinzipien zufolge eigentlich folgen sollte.

Einsteins Theorie dagegen kann dieses Phänomen erklären. Denn laut Einstein führt die Verformung der Raumzeit dazu, dass sich Massen entlang der Kurven dieser gekrümmten Raumzeit bewegen. Rezzolla vergleicht die Raumzeit mit einem Bettlaken: Legt man eine Bowlingkugel darauf, so drückt die Kugel das Laken zu einem Trichter ein, sie krümmt das Raumzeit-Bettlaken. Eine Murmel am Rand des Bettlaken-Trichters würde der Krümmung des Trichters folgen und deshalb auf die Bowlingkugel zurollen. Was Newton als Anziehung durch die Masse der Bowlingkugel interpretiert hatte, führt Einstein auf die Krümmung der Raumzeit (also den Trichter) zurück.

Doch nicht nur Massen, auch Licht und Zeit unterliegen dem Einfluss der Gravitation. Zur Veranschaulichung von Gravitationswellen tauscht man das Bettlaken am besten gegen ein Gummituch oder ein Gartentrampolin aus: Wird die Bowlingkugel in Bewegung gesetzt, so gerät das Tuch in Schwingung, und je größer die Masse der Kugel und ihre Geschwindigkeitsänderung ist, desto stärker werden die Gravitationswellen.

Im Weltall lösen daher Doppelsysteme zweier Neutronensterne oder zweier Schwarzer Löcher, die sich immer schneller umkreisen, besonders markante Gravitationswellen aus, die wiederum etwas über deren Masse und Bewegung verraten.

Können Neutronensterne auch die Fast Radiobursts erklären?

Radioblitze aus dem All

Weil sich Gravitationswellen dank sensitiverer Detektoren immer besser messen lassen und auch die Reihweite der Detektion wächst, könnten sie in Zukunft auch ein weiteres kosmisches Phänomen klären helfen: Fast Radio Bursts (FRB). Dabei handelt es sich um extrem kurze, aber intensive Pulse kosmischer Radiostrahlung. Sie setzen in wenigen Millisekunden so viel Energie frei wie unsere Sonne an einem ganzen Tag.

Parkes-Radioteleskop
Das Parkes-Radioteleskop in Australien war das erste, das einen Fast Radioburst auffing. © CSIRO /CC-by-sa 3.0

Ein Gespräch in der Kaffeepause

Nach einer Theorie des Frankfurter Astrophysikers Luciano Rezzolla könnten auch bei diesem Phänomen Neutronensterne und Schwarze Löcher eine entscheidende Rolle spielen. Ausgangspunkt dieser Geschichte war eine Kaffeepause während eines Astronomie-Kongresses 2014, zu dem Rezzollas Kollege Heino Falcke von der Universität Nijmegen ihn eingeladen hatte. Kurz zuvor hatten Rezzolla und Falcke zusammen mit dem Bonner Astronomen Michael Kramer den Grundstein für die weltweite Event-Horizon-Kollaboration gelegt, der im Jahr 2019 das erste Foto eines Schwarzen Lochs gelang.

In jener Kaffeepause im Jahr 2014 ging es jedoch um die Fast Radio Bursts. Davon habe er noch nie gehört, meinte Rezzolla damals, als Falcke ihn darauf ansprach. Es handele sich, so erklärte dieser, um kurze, einmalige Signale, die zuweilen von den riesigen Schüsseln der Radioteleskope empfangen würden, in einem engen Frequenzbereich. Dass die höheren Frequenzen des Signals etwas früher einträfen als die niedrigeren, deute auf eine Herkunft außerhalb unserer Milchstraße hin.

Artefakte aus der Mikrowelle

Erstmals waren die Fast Radiobursts im Jahr 2007 dem Briten Duncan Lorimer aufgefallen. Anders als andere Astronomen interpretierte er sie als echte Signale und nicht etwa als technische Empfangsstörungen. Lorimers Theorie geriet allerdings etwas in Misskredit, als sich herausstellte, dass eine Reihe der im australischen Parkes-Radioteleskop gemessenen Signale nicht aus dem All, sondern von Mikrowellenöfen des Besucherzentrums stammten, in denen das Mittagessen für die Gäste aufgewärmt wurde.

Da jedoch Fast Radiobursts auch bei geschlossenem Besucherzentrum des Parkes-Radioteleskops sowie in anderen Radioteleskopen empfangen wurden, blieb die Frage, woher sie stammten.

Kollabierende Neutronensterne als Urheber?

Rezzolla hatte dazu eine Theorie: Es sind Neutronensterne, die zu Schwarzen Löchern kollabieren. „Die Erklärung ist wie folgt“, erklärt der Astrophysiker: „Ein Schwarzes Loch kann kein Magnetfeld haben. Daher reißen die Magnetfeldlinien beim Kollaps des Neutronensterns zum Schwarzen Loch ab und breiten sich als Radiowellen im Weltraum aus. Weil der Kollaps eines Neutronensterns nur ein paar Millisekunden dauert, entsteht nur ein kurzes, einmaliges Signal.“

Neutronensternverschmelzung
Millisekunden vor der Verschmelzung zweier Neutronensterne zu einem Schwarzen Loch geraten die Magnetfelder (weiße Linien) der Neutronensterne durcheinander. Sekundenbruchteile später lösen sie sich vom Schwarzen Loch und verursachen einen Gammastrahlenblitz (Blitzar). © L. Rezzolla, M. Koppitz, GU/AEI/Zuse

Kurz zuvor hatte Rezzolla genau für dieses Szenario Modellrechnungen durchgeführt, um das Schicksal des Magnetfelds eines kollabierenden Neutronensterns zu untersuchen. Nach ihrem Treffen arbeiteten er und Falcke die Details aus und verfassten einen wissenschaftlichen Aufsatz dazu, was kaum eine Woche dauerte.

Erheblich mehr Zeit nahm die Suche nach dem Namen für das Phänomen in Anspruch, denn die beiden konnten sich nicht einigen – bis drei Wochen später Rezzolla mit seiner Frau im Auto fuhr. »Fahr langsamer, da ist ein Blitzer«, warnte sie vor einer Radarfalle. Damit hatte das wissenschaftliche Kind einen Namen: Blitzar – ein einmaliger »Blitzer« entsprechend dem periodisch blinkenden Pulsar.

Bislang unwiderlegt

Die Blitzar-Theorie gilt seitdem als eine von einer Reihe möglicher Erklärungen für FRBs. Der Kollaps magnetischer Neutronensterne könnte zumindest die Radioblitze erklären, die nur einmalig auftreten. Andere Fast Radiobursts stammen dagegen aus Quellen, die ganze Serien dieser Radiopulse abgeben. Bei ihnen und auch bei einigen Einzelblitzen stehen unter anderem Magnetare als Urheber im Verdacht – schnellrotierende Neutronensterne mit extrem starken Magnetfeldern.

„Bisher konnte die Blitzar-Theorie nicht widerlegt werden“, freut sich Rezzolla. „Es ist auch klar: Wenn Neutronensterne mit einem Magnetfeld langsamer werden und die Schwerkraft überhandnimmt, kollabieren sie zu einem Schwarzen Loch, zum Beispiel direkt nach einer Neutronensternkollision. Dabei wird ein Radiowellensignal ausgesendet, da gibt es gar keinen Zweifel.“

Theorien erwachsen aus der Verknüpfung

Auf die Theorie der Blitzare ist Rezzolla deshalb so stolz, weil sie sozusagen ganz nebenbei entwickelt wurde. „So entstehen Ideen: indem vorhandene Informationen und Erkenntnisse miteinander verknüpft werden“, ist er Physiker überzeugt. „Das hat auch Einstein nicht anders gemacht, der die von Carl Friedrich Gauß, Bernhard Riemann und weiteren Mathematikern entwickelte Differentialgeometrie zur Erklärung der Gravitation nutzte.“

So bleibt nur zu hoffen, dass Rezzolla und seine Kolleginnen und Kollegen noch in vielen weiteren anregenden Kaffeepausen Erklärungen für Geheimnisse unseres Universums finden.