Wie Forscher verkohlte Schriftrollen aus Herculaneum wieder lesbar machen

Die Bibliothek des Philodemus

Papyrus-Fragment
2.000 Jahre alt und völlig verkohlt: Fragment eines Papyrus aus Herculaneum. © Kilian Fleischer

Vor fast 2.000 Jahren wurde eine ganze Bibliothek beim Ausbruch des Vesuv verschüttet, ein Großteil der Schriftrollen des antiken Philosophen Philodomus verkohlte. Aber mit modernster Technik versuchen Wissenschaftler, zumindest Teile dieser alten Schriften nun wieder lesbar zu machen – mit ersten Erfolgen.

„Es ist ein gigantisches Kreuzworträtsel“. „Es gleicht dem Versuch, ein verbranntes Stück Blätterteigrolle möglichst ohne Beschädigung wieder zu entrollen“ – so beschreiben Wissenschaftler den Versuch, stark verkohlte und oft noch zusammengerollte Papyri aus Herculaneum zu entziffern. Das fragile Material ist schwarzbraun verfärbt und lässt mit bloßem Auge keinerlei Text mehr erkennen.

Doch der Altphilologe Kilian Fleischer von der Universität Würzburg hat es sich zum Ziel gemacht, die 2.000 Jahre alten griechischen Texte zu entziffern. Er verwendet modernste Hightech-Methoden, um das verschüttete Erbe des Philodemus zu lesen.

Ein Schatz begraben unter Asche und Gestein

Philodems Erbe

„Es ist äußerst aufwendig und mühsam, aber die neu gewonnenen Erkenntnisse entschädigen für alles“. Wenn der Klassische Philologe Kilian Fleischer enthusiastisch von seiner Forschung erzählt, weiß man nicht, ob man ihn bedauern oder beneiden soll.

Villa dei Papiri
So könnte die Villa dei Papiri vor ihrer Zerstörung ausgesehen haben. © Museo Archeologico Virtuale

Ein griechischer Philosoph in Italien

Wer kein Freund davon ist, stundenlang nach dem passenden Puzzleteil zu suchen, wird zu Ersterem tendieren. Wen die Lösung eines Rätsels nach Tagen oder Wochen der Suche glücklich macht, zu Letzterem. Fleischer leitet seit 2019 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) das auf drei Jahre angelegte DFG-Forschungsprojekt „Philodems Geschichte der Akademie (Index Academicorum)“. Dass es dieses Projekt gibt, ist einem schier unglaublichen Zufall zu verdanken, der sich vor fast 2.000 Jahren in Italien zugetragen hat – genauer gesagt im Jahr 79 nach Christi Geburt.

„Damals stand in Herculaneum die Villa von Lucius Calpurnius Piso Caesonius, einem römischen Politiker und Schwiegervater Julius Caesars“, berichtet Fleischer. Caesonius muss ein philosophisch interessierter Mensch gewesen sein. Immerhin war er eine Art Mäzen des griechischen Philosophen Philodem von Gadara und ließ Philodem in seiner Villa leben und arbeiten. Dafür hatte Philodem seine umfangreiche Bibliothek aus Griechenland mitgebracht, die etwa 1.000 Buchrollen in griechischer Sprache enthielt.

Die Entdeckung der Bibliothek

Als im Jahr 79 der Vesuv ausbrach, wurde Herculaneum von den Ausläufern mehrerer pyroklastischer Ströme getroffen. Dichte und extrem heiße Wellen aus Asche, Gas und Gestein rasten über die Stadt und deren Bewohner hinweg und begruben sie meterdick unter sich. Erst im frühen 18. Jahrhundert wurde die Stadt wiederentdeckt. Seither sind Herculaneum und das benachbarte Pompeji wahre Schatzkammern der Archäologie. Denn sie bieten einen einzigartigen Einblick in den Alltag und das Leben in der römischen Antike.

Herculaneum
Blick auf die Ausgrabungen in Herculaneum. © Peter Topp Engelsted Jonasen / iStock.comphoto.com

Bei den Ausgrabungen in Herculaneum stießen die Archäologen auch auf jene Villa – und auf Philodems Bibliothek. Dass sie es mit aufgerollten Papyri zu tun hatten, war den Arbeitern damals allerdings nicht bewusst. „Sie hatten die zu Klumpen verbackenen Rollen zunächst für Kohlebriketts oder Wurzeln gehalten“, sagt Kilian Fleischer. Erst als ein solcher Klumpen herunterfiel und zerbrach, entdeckte man auf den Bruchstücken Schriftzeichen und begann, sie genauer zu untersuchen.

Was von Philodems Papyrusrollen übrigblieb

Angekohlte Reste

Es erscheint fast wie ein Wunder: Die antiken Texte des Philodem lassen sich heute lesen, obwohl sie auf Papyrus, einem pflanzlichen Trägermaterial, geschrieben wurden – und dieses erst den heißen Asche- und Gasströmen des Vulkanausbruchs ausgesetzt war und dann 1.700 Jahre unter Gesteinsmassen begraben lag.

Papyrus-Fragment
Auf den ersten Blick ist auf ihr nichts zu erkennen: Bruchstück einer Papyrusrolle, aufgezogen auf Karton. © Kilian Fleischer

Durch einen Glücksfall konserviert

Dass die Papyri trotzdem erhalten blieben, verdanken sie einem glücklichen Zufall: „Das hat etwas mit der Lage der Villa zu tun“, erklärt der Philologe Kilian Fleischer. Nur an dieser Stelle waren die Temperaturen nach dem Vesuvausbruch exakt so, dass die Buchrollen karbonisierten und nicht direkt verbrannten. „Ein paar Straßen weiter vorne oder weiter hinten wären sie vermutlich auf alle Zeit verloren gewesen“, so der Forscher.

Gut zwei Drittel der insgesamt 1.000 Rollen sind in den vergangenen 200 Jahren seit ihrer Entdeckung wieder entrollt worden – natürlich nie am Stück, sondern immer mit vielen Lücken, Löchern, Verklebungen. Gut 5.000 dieser Bruchstücke befinden sich fein säuberlich gerahmt in Neapel in der Biblioteca Nazionale – mal mehr, mal weniger gut erschlossen.

Und für genau eine dieser Rollen interessiert sich Kilian Fleischer. Seit gut zwei Jahren arbeitet er daran, ihren Text zu entziffern, zu übersetzen und mit dem derzeitigen Wissen über die Antike zu vergleichen. Neben Köln ist Würzburg die einzige deutsche Universität, wo an Herkulanischen Papyri geforscht wird, unter anderem am Würzburger Zentrum für Epikureismusforschung.

Einblick in die Arbeit antiker Autoren

„Bei dieser Rolle handelt es sich um einen Band eines insgesamt zehnbändigen Werks, das Philodem über die Geschichte der Philosophie verfasst hat“, sagt Fleischer. Der sogenannte „Index Academicorum“ stellt Platon und die von ihm gegründete Akademie in den Mittelpunkt und schildert deren Geschichte vom Beginn bis zur Zeit Philodems. Noch ein weiterer Aspekt macht den Papyrus für den Altphilologen so interessant: Es handelt sich dabei um ein echtes Autorenmanuskript, eine vorläufige Arbeitsfassung beziehungsweise Projektskizze Philodems.

Dementsprechend finden sich neben und unter dem Text, der in vertikalen Kolumnen angeordnet ist, aber auch auf der Rückseite zahlreiche handschriftliche Anmerkungen und Änderungsvorschläge Philodems. „Der Papyrus gewährt uns somit wertvolle Einblicke in den Entstehungsprozess eines antiken Buches und in die Arbeitsweise antiker Autoren“, sagt Fleischer. Sogar der Vergleich mit der Endfassung ist möglich – zumindest mit den wenigen Überresten, die davon erhalten geblieben sind.

Eine spezielle Technik erhöht die Lesbarkeit

Papyri im Hyperspektrallicht

Modernste Technik kommt zum Einsatz, damit Kilian Fleischer die verkohlten Papyrusreste studieren kann – schließlich ist es nicht ganz einfach, auf den schwarzen Bruchstücken zu erkennen, was ein Tintenstrich ist, was eine Papyrusfaser, was ein Knick. Mit bloßem Auge erkennt man auf dem schwärzlich-braunverfärbten Fragmenten so gut wie nichts.

Hyperspektralbild
Hyperspektralbild eines der Papyrusfragmente – jetzt ist die Schrift lesbar. © Ministero per i Beni e le Attività Culturali, Biblioteca Nazionale Vittorio Emanuele III, Napoli, Consiglio Nazionale delle Ricerche

Die Wellenlängen-Kombination machts

Doch multispektrale Bildgebungsverfahren (MSI) können das Entziffern erleichtern: Wenn man die Fragmente im Licht verschiedener Wellenlängen fotografiert, steigert dies den Kontrast von Tinte und Papyrus und machen es damit möglich, den Text deutlich besser zu sehen, als dies bislang möglich war. Noch ergiebiger sind Hyperspektralbilder (HSI), die in vielen eng beieinanderliegenden Wellenbereichen erstellt werden.

Diese Technik hat unter anderem schon verborgene Texte in mittelalterlichen Manuskripten sichtbar gemacht, ein übermaltes Bild unter einem Gemälde von Picasso und verborgene Symbole in einem alten Mixteken-Codex zum Vorschein gebracht. Auch von den Herkulanischen Papyri hat Fleischer in Neapel gemeinsam mit Physikern und Informatikern erstmals Hyperspektralaufnahmen erstellt. Sogar ein Blick auf die Rückseite von Papyrusstücken, die auf Papptafeln aufgezogen wurden, ist damit möglich

Es war erst die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Philologen und Naturwissenschaftlern, welche in den vergangenen Jahren diese enormen Fortschritte ermöglicht hat. Dementsprechend froh ist Fleischer über die Tatsache, dass sich an der Universität jetzt das Zentrum für Philologie und Digitalität (Kallimachos) im Aufbau befindet, in dem ebenfalls Geisteswissenschaften, Informatik und Naturwissenschaften zusammenkommen.

Vom Buchstaben zum Satz

„Mit Hilfe dieser Techniken ist es mir gelungen, etwa 30 Prozent mehr Text im Vergleich zur Vorgängeredition zu entschlüsseln“, sagt Fleischer. Ein neuer Buchstabe könne dabei im Idealfall in einer Art Dominoeffekt zu ganz neuen Erkenntnisse führen – wenn sich aus dem Buchstaben ein neues Wort erschließen lässt und daraus möglicherweise ein komplett neuer Satz.

Die neu entzifferten Textpassagen könnten sogar bisher unbekannte Informationen zu Platon und den Philosophen der Akademie preisgeben oder zu einem Krieg, von dem vorher noch kein Altertumswissenschaftler gehört hatte. Viele Einträge in den Nachschlagewerken zur Antike müssen neu geschrieben werden, wenn die Arbeit am Index Academicorum und anderen Papyrusrollen aus Herculaneum beendet ist.

Wie liest man unentrollte Schriftrollen?

Virtueller Blick ins Innere

Stunden-, bisweilen tagelang grübelt Kilian Fleischer über diesen winzigen verkohlten Textfragmenten – und das seit mehr als zwei Jahren. Warum tut er sich das an?

Kilian Fleischer
Kilian Fleischer in der Bibliothek des Instituts für klassische Philologie. © Gunnar Bartsch / Universität Würzburg

„Ich finde, die Wiederentdeckung von Literatur, die gut 2.000 Jahre lang als verschollen galt, ist eines der spannendsten Felder in der Klassischen Philologie“, sagt er. Seine Arbeit liefere im Erfolgsfall die Grundlage für weitergehende Forschung und präsentiere Lösungen für Probleme, die zum Teil Jahrhunderte lang diskutiert wurden.

Angst, dass ihm der „Lesestoff“ in nächster Zeit ausgehen könnte, muss Kilian Fleischer nicht haben. Von den gut 1.000 Papyrusrollen, die man aus der Villa dei Papiri in Herculaneum geborgen hat, sind mehr als 300 noch nicht entrollt. Ihnen bleibt der zerstörerische Akt des Entrollens vielleicht sogar erspart. Stattdessen könnten die Rollen Schicht für Schicht durchleuchtet und ausgelesen – quasi virtuell „entblättert“ werden.

Entziffern ohne Entrollen

Bislang steckt diese Technik – das virtual unrolling – zwar noch in den Anfängen, aber in einigen Beispielen hat sie bereits bewiesen, dass sie funktioniert. So gelang es im Jahr 2015 einem Forscherteam, zwei der Papyrusrollen aus Herculaum mittels Röntgen-Phasenkontrast-Tomografie (XPCT) im aufgerollten Zustand zu entziffern. Diese Technik bestrahlt die Probe mit kohärenten – im Gleichtakt schwingende – Röntgenstrahlen.

Zu stark verkohlt um entrollt zu werden: ein Papyrus aus Herculaneum © D. Delattre, Bibliothèque de l’Institut de France

Weil die rußhaltige Tinte beim Schreiben nicht in den Papyrus eingedrungen ist, sondern als leicht erhabene Schicht eintrocknete, reflektieren und brechen die Buchstaben das Röntgenlicht etwas anders als der Papyrus. Dieser Unterschied erzeugt in den wiederaufgefangenen Strahlen eine Phasenverschiebung, die mithilfe spezieller Computerprogramme ausgewertet und als Kontrast dargestellt werden kann.

Eine etwas andere Technik haben Archäologen bei einer verkohlten Schriftrolle aus dem israelischen En Gedi eingesetzt. Im ersten Schritt wurde die Schriftrolle vorsichtig mittels Micro-Computertomografie (CT) durchleuchtet. Dieser Scan bildet die dreidimensionale Struktur der Rolle ab und kann die Tinte in beschriebenen Passagen sichtbar machen. Die Rohdaten dieser Scans werden dann mit einer Spezial-Software analysiert, die Schriftrolle nun virtuell entrollt und die beschriebenen Innenseiten zu einem flachen Pergament zusammenfügt.

Hoffnung auf weitere Funde in Herculaneum

Und, wer weiß: Vielleicht entschließt sich Italien ja doch noch zu weiteren Ausgrabungen in Herculaneum. Wissenschaftler vermuten, dass in anderen Räumen der Villa dei Papiri weitere literarische Schätze verborgen sind. Im Würzburger Institut für Klassische Philologie würde man dies sicherlich begrüßen – neben griechischen ist nämlich auch mit verlorenen lateinischen Texten zu rechnen.