Rätsel um das Verschwinden einer Unterwasser-Messstation

Der Krimi von Boknis Eck

Landkabel
Vom Unterwasser-Observatorium blieb zunächst nur das abgerissene Kabel. © Forschungstaucherzentrum CAU

Sherlock Holmes wäre in seinem Element: Ein mysteriöser Fall gibt Meeresforschern, Tauchern und der Polizei gleichermaßen Rätsel auf. Denn im Sommer 2019 verschwindet plötzlich ein ganzes Unterwasser-Observatorium vom Grund der Eckernförder Bucht – nur noch die Kabel sind übrig. Doch wo sind die beiden zusammen gut 700 Kilogramm schweren Gestelle geblieben? Und wer wars?

Die Unterwasserstation Boknis Eck ist ein wichtiger Teil des marinen Messnetzes in der Ostsee. Jahrelang sendet sie zuverlässig Daten in Echtzeit zum GEOMAR – Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung nach Kiel. Doch plötzlich fehlt von ihr jede Spur – und Forscher, Spezialtaucher und Kriminalpolizei stehen vor einem Rätsel.

Autorin: Isabell Spilker/ Helmholtz Perspektiven 4/2019

Boknis Eck sendet nicht mehr

Verstummtes Signal

Eckernförder Bucht
Blick vom Strand auf die Eckernförder Bucht. Auf ihrem Grund steht die Unterwasser-Messstation Boknis Eck. © Eduard47/CC-by-sa 4.0

Es war kein stürmischer Tag, als das Herzstück von Boknis Eck verschwand. Es gab kein Marineschiff weit und breit, weder über noch unter Wasser. Kein Fischerboot fuhr durchs Sperrgebiet an der Ostseeküste am Eingang der Eckernförder Bucht, da, wo sich in der letzten Eiszeit vor gut 100.000 Jahren eine Gletscherzunge 17 Kilometer tief ins Land gearbeitet hatte. Es war alles still und leise an jenem sommerlichen 21. August 2019, als das Observatorium um 08:15 Uhr plötzlich aufhörte zu senden.

Boknis Eck ist Forschern aus aller Welt ein Begriff: Seit 1957 werden in der Eckernförder Bucht zwei Kilometer vor der Küste grundlegende Daten über das marine Ökosystem erhoben. Im monatlichen Turnus messen Wissenschaftler des GEOMAR – Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel den Salzgehalt, die Temperatur und die Konzentrationen von Sauerstoff, Nährstoffen und Chlorophyll sowie klimarelevante Spurengase wie Lachgas und Methan.

Einzigartige Zeitreihe

Die Daten des Unterwasserobservatoriums von Boknis Eck liefern wertvolle Informationen über den Zustand des Ökosystems der südwestlichen Ostsee. „Geradezu unbezahlbar sind die Daten, die wir damit erheben. Sie helfen der Forschung, Veränderungen in der Ostsee zu registrieren und eventuell Gegenmaßnahmen zu ergreifen“, erklärt Projektleiter Hermann Bange vom GEOMAR. Die Datenreihe aus Boknis Eck ist zudem eine der ältesten noch aktiven meereswissenschaftlichen Zeitserien weltweit.

Unterwasser-Station
Seit 2016 sammelt das Observatorium Boknis-Eck-Knoten kontinuierlich Daten am Grund der Ostsee.© Forschungstaucherzentrum CAU

Im Jahr 2016 erweiterten die Kieler Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit dem Helmholtz-Zentrum Geesthacht – Zentrum für Material- und Küstenforschung (HZG) – ihre alte Messstation um das Unterwasserobservatorium „Boknis-Eck-Knoten“. Dieses misst seitdem kontinuierlich zusätzliche Parameter wie zum Beispiel Strömungsgeschwindigkeiten und Methankonzentrationen am Meeresboden und sendet seine Ergebnisse per Glasfaserkabel in Echtzeit an eine Landstation – dies ist ein wichtiger Schritt, um die Messdaten zu vervollständigen.

Ist nur ein Kabel locker?

Der Boknis-Eck-Knoten besteht aus zwei etwa Schreibtisch-großen Gestellen. Eines ist für die Stromversorgung der Anlage verantwortlich und über ein Kabel mit der Küste verbunden. Das andere Gestell trägt die eigentlichen Sensoren. Beide sind mit rund 550 und 200 Kilogramm nicht gerade Leichtgewichte – dass sie durch Strömungen, Sturm oder Meerestiere verschleppt oder beschädigt werden, ist daher eher unwahrscheinlich.

„Da hat sich sicher mal wieder eine Verbindung gelockert“, denkt Bange daher, als der Kontakt zum Observatorium plötzlich abreißt. Der Professor für marine Biogeochemie koordiniert seit 2010 die Aktivitäten in Boknis Eck und war verantwortlich für den Aufbau der Station. Nach Abbruch der Signale kontaktiert er die Forschungstaucher der Universität Kiel und bittet sie, unter Wasser die empfindlichen Verbindungen zu prüfen.

Autorin: Isabell Spilker/ Helmholtz Perspektiven 4/2019

Auf der Suche nach dem verschwundenen Observatorium

Leere am Meeresgrund

Eine Woche nachdem das Unterwasserobservatorium von Boknis Eck verstummt ist, macht sich das Forschungsschiff Littorina auf den Weg zur Position der Messstation auf 54°31.2′ Nord und 10°02.5′ Ost. Vier Forschungstaucher gehen ins Wasser, sie rechnen damit, die Sensoren nur warten zu müssen.

Kabel
Das zerfaserte Landanschlusskabel ist alles, was die Forschungstaucher vom Observatorium noch finden.© Forschungstaucherzentrum CAU

Nur noch abgerissene Kabel

Doch sie entdecken etwas völlig anderes: „Nicht etwa die Stecker sind schuld“, stellte Roland Friedrich fest, Ausbildungsleiter des Forschungstauchzentrums an der Kieler Universität: „Ein Großteil der Station ist weg!“ Die Sicht ist hier in fast 15 Metern Tiefe sehr eingeschränkt, nur 20 Zentimeter weit können die Taucher sehen. Sie suchen deshalb in der näheren Umgebung. Nichts.

Bange kann nicht glauben, was ihm die Taucher fotografisch belegen: Die Kabel sind abgerissen, es fehlen zwei Gestelle des 300.000 Euro teuren Unterwasserobservatoriums. Die beiden verschwundenen Elemente wiegen zusammen 770 Kilogramm, sind mit vielen teuren Sensoren ausgestattet. Dass die Station einfach verschwinden könnte, hatten die Forscher nicht für möglich gehalten. Sie war in den Boden eingelassen, fest verankert und so schwer wie ein Kleinwagen.

Schwerer Verlust für die Forschung

„Was es bedeutet, dass das Observatorium weg ist, wurde uns ziemlich schnell klar“, sagt Hermann Bange. Er dachte zunächst an die vielen Masterarbeiten, die nun nicht geschrieben werden können. Und dann an die Bedeutung für das große Ganze: „Ein kontinuierliches Messsystem lebt vom kontinuierlichen Messen“, sagt er resigniert.

Die Station war Teil des Coastal Observing System for Northern and Artcic Seas (COSYNA), eines integrierten Beobachtungs- und Modellierungssystems, das den Umweltzustand der Küsten-gewässer von Nordsee und Arktis beschreibt und vom HZG koordiniert wird. COSYNA beliefert Behörden mit Daten, die bei der Planung von Routineaufgaben wie etwa Küstenschutzmaßnahmen und der Vorbereitung auf Notfälle helfen sollen. Mit dem Observatorium ist dem System ein wichtiges Element verloren gegangen.

Messnetz
Boknis Eck ist Teil des COSYNA-Messnetzes.© HZG/ AWI

Warum die kontinuierliche Messung so wichtig ist

Die Lage von Boknis Eck ist ideal für die Forschung. Hier zeigt sich ein Küstenökosystem unter dem Einfluss ausgeprägter Veränderungen des Salzgehalts und der Sauerstoffarmut, die entsteht, wenn Bakterien organisches Material zersetzen. Das Observatorium war ausgestattet mit modernsten Sensoren. Wie viel Sauerstoff steht Organismen im Meerwasser zur Verfügung? Welche Nährstoffe sind im Wasser gelöst? Wie stark ist das Wachstum von Plankton? Antworten auf diese Fragen lassen Rückschlüsse darauf zu, wie es um das marine Ökosystem bestellt ist.

„Die kontinuierlichen Messungen haben die monatliche Zeitserie perfekt ergänzt und wir konnten dank ihnen ganz neue Bezüge zwischen den Daten herstellen“, erklärt Bange. Untersuchungen hätten gezeigt, dass sich viele Ereignisse mit den monatlichen Messungen nicht erfassen lassen, etwa kurzfristige Hitzeperioden oder einzelne starke Stürme, die Spuren im Ökosystem hinterlassen. Zwei Jahre Planungs- und Bauzeit investierten die Forscher, bevor sie die Station im Dezember 2016 installierten.

Autorin: Isabell Spilker/ Helmholtz Perspektiven 4/2019

Rätselraten über Täter und Tathergang

Wer wars?

Das spurlose Verschwinden des Observatoriums von Boknis Eck gibt Forschern und Tauchern Rätsel auf. Kann ein großer Fisch die Gestelle mitgerissen haben? Ausgeschlossen, viel zu schwer. Extreme Strömungen scheiden auch aus. Ebenso Sturm – es war sommerliches, ruhiges Wetter, und schwere Stürme hatte das Observatorium bisher ohne Schäden überstanden.

Gestell
Eines der Boknis-Eck-Gestelle beim Ausbringen – auf ihm ist die Stromversorgung untergebracht. Doch wer klaut so etwas? © Forschungstaucherzentrum CAU

Wurden die Geräte geklaut?

Also Diebstahl? Die Wissenschaftler erstatten Anzeige, bitten die Wasserschutzpolizei um Unterstützung, die Kriminalpolizei beginnt mit Ermittlungen. Zeitungsberichte erscheinen, die Bevölkerung wird um Hilfe gebeten: Wer hat gesehen, dass Schiffe im Sperrgebiet unterwegs waren?

Zwei Kilometer entfernt an Land liegt ein Campingplatz, der mit seinem schönen Meeresblick wirbt. Aber keiner hat an diesem Morgen auf dem Meer etwas Verdächtiges erblickt. Die Polizei tappt im Dunkeln: „Es gibt bislang keine Fundstücke“, bemerkt Sönke Hinrichs von der zuständigen Polizeidirektion Neumünster. Nichts, was Hinweise auf den Verbleib gibt. „Die Ermittlungen ergaben bisher keine näheren Verdachtsmomente.“

Die Marine betreibt in der Eckernförder Bucht eine Torpedoschießbahn. Auch das 1. U-Boot-Geschwader sowie Flottendienstboote sind dort stationiert. Könnte also ein Schiff oder gar ein U-Boot der Marine die Station aus Versehen gerammt und mitgeschleift haben? „Wir haben alles überprüft – keines unserer U-Boote oder Schiffe war an diesem Tag in der Nähe“, sagt Hauptbootsmann Maria Hagemann, Sprecherin der Deutschen Marine.

…oder aus Versehen mitgeschleift?

Laut Schiffsbewegungsdaten war überhaupt kein Schiff zum fraglichen Zeitpunkt bei Boknis Eck unterwegs. Erhoben werden diese Daten auf dem Meer mit dem AIS-System (Automatic Identification System). Will sich ein Kapitän aber nicht entdecken lassen, kann er den Sender, den es in jedem Schiff ab einer Länge von 20 Meter geben muss, auch einfach ausschalten und wäre damit quasi unsichtbar.

Des Rätsels Lösung könnte daher ein Schleppnetzfischer sein, der heimlich und verbotenerweise im Sperrgebiet gefischt hat. Schleppnetze bestehen aus trichterförmigen Säcken, die Schwarmfische wie Heringe, Kabeljau, Seelachs, Sprotten und Makrelen einsammeln. Grundschleppnetze werden sogar über den Boden gezogen, um dort mit schweren Ketten den Meeresboden aufzuwühlen und Plattfische aufzuscheuchen.

Die Netze sind mitunter bis zu 1,5 Kilometer lang. Schleppnetzfischer sind in der Kritik, weil sie mit moderner Ortungstechnik wie Echolot Fischschwärme gezielt orten, Meere systematisch leer fischen und dabei große Mengen an Beifang in Kauf nehmen – ein Unterwasserobservatorium würde da zunächst gar nicht auffallen.

Schleifspur am Meeresgrund

Das Taucherteam der Universität Kiel hat von einem Forschungsschiff aus den Meeresboden bereits mit Multibeam-Echolot abgesucht. Dieses hochauflösende Sonar zeigt die Bodenstruktur am Meeresgrund – und offenbarte eine 360 Meter lange Schleifspur. So konnten die Taucher zwei Gebiete eingrenzen, in denen die Reste der Messstation vielleicht liegen.

Hermann Bange trauert aber vor allem um die Daten. „Der Boknis-Eck-Datensatz war auch international sehr gefragt“, sagt er, „und es ist eine Schande, dass er nun eine so lange Lücke haben wird.“ Der kleine Teil des Observatoriums, der unversehrt geblieben ist, ist mit Sensoren zu Fluoreszenz und Chlorophyll ausgestattet und könnte demnächst wieder angeschlossen werden – sofern das Kabel keinen zu großen Schaden genommen hat. Je länger es allerdings offen auf dem Meeresboden liegt, desto unwahrscheinlicher wird das.

„Der Aufwand, das Kabel neu zu legen, ist enorm“, bekräftigt Hermann Bange. „Die ganze Station neu zu bauen, wird etwa ein Jahr dauern. Wir können nur hoffen, dass die Versicherung einen großen Teil der Kosten übernimmt.“

Autorin: Isabell Spilker/ Helmholtz Perspektiven 4/2019

Ein Gestell ist wieder da

Der Fund

Im Februar 2020 geschieht dann das Unglaubliche. Mehr als ein Jahr nach dem Verschwinden des Unterwasserobservatoriums findet das Vermessungs-, Wracksuch- und Forschungsschiff DENEB vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie doch noch eines der beiden vermissten Gestelle vom Boknis-Eck-Knoten.

Geborgenes Gestell
Genauso rätselhaft wie das Verschwinden ist jetzt das Wiederauftauchen eines der Gestelle – dem mit den Sensoren. © Martin Steen/GEOMAR

Kopfüber am Meeresgrund

Die Suchfahrt spürt das Gestell knapp 200 Meter nordnordöstlich seiner ursprünglichen Position auf. Es liegt in etwa 20 Metern Wassertiefe kopfüber am Meeresboden und wird von der DENEB geborgen. „200 Meter klingen nicht viel“, sagt Martin Steen, der am GEOMAR als Techniker für Boknis Eck zuständig ist und bei der Suchfahrt mit an Bord war. „Doch bei den Sichtverhältnissen in der Ostsee ist das schon die Nadel im Heuhaufen.“

Erschwerend kommt hinzu, dass das wiedergefundenen Gestell an einer völlig anderen Stelle liegt als erwartet. Eine Schleifspur am Meeresboden, die wir bei früheren Ausfahrten mit dem Forschungsschiff ALKOR entdeckt hatten, hatte unsere Suche zunächst in die genau entgegengesetzte Richtung geführt“, berichtet Stehen. „Wir hatten die Suche eigentlich schon aufgegeben.“

Gestell ist da – Rätsel bleibt

Bei dem nun gefundenen Gestell handelt es sich um den mit Sensoren bestückten Teil des Observatoriums. „Das Gestell ist zwar in verhältnismäßig gutem Zustand. Aber die Sensoren sind stark beschädigt oder fehlen ganz“, berichtet Hermann Bange vom GEOMAR. „Da unsere Versicherung den Schaden bereits beglichen hat, müssen wir mit ihr klären, was jetzt mit dem gefundenen Gestell wird.“

Wie das Gestell von seiner ursprünglichen Position zur Fundposition gelangte, bleibt noch unklar. Ebenso unbekannt ist weiterhin der Verbleib des zweiten Gestells. „Wir haben mit den Echoloten der DENEB noch weitere Verdachtspunkte entdeckt. Die haben sich aber als falsch erwiesen“, sagt Steen. Wie es zu dem Verschwinden des Unterwasserobservatoriums von Boknis Eck kam, wer der Täter war und wo der Rest der Anlage ist, bleibt damit vorerst ein ungelöster Fall.