Klimatische Kippelemente und ihre Folgen

Kippschalter im Klimasystem

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Das Gleichgewicht des Klimasystems hängt von sensiblen Stellgliedern ab – den Kippelementen. © Thomas Vogel/ iStock.com

Sie sind die Schwachpunkte im Klimasystem: Kippelemente, die wie ein Schalter abrupt in einen neuen Zustand wechseln können – und so das gesamte Erdsystem aus der Balance bringen. Einige dieser klimatischen „Dominosteine“ können schon bei geringer Erwärmung umfallen und dann weitere mit sich reißen. Doch wie groß ist die Gefahr? Und welche Kippelemente gibt es überhaupt?

Ob Grönlandeis, Jetstream, Amazonas-Regenwald oder die Nordatlantische Umwälzströmung – sie alle reagieren nicht nur sensibel auf den Klimawandel, sie gehören auch zu den Kippelementen des Klimasystems. Das bedeutet: Ihre Zustandsänderung kann überproportional große Folgen haben und sogar ganze Kaskaden sich selbst verstärkender Rückkopplungen in Gang setzen.

Welche Auswirkungen dies hat und wann die einzelnen Kippelemente umzukippen drohen, beginnen Wissenschaftler erst allmählich im Detail zu verstehen. Doch dieses Wissen könnte essenziell sein, um die Zukunft der Menschheit zu bewahren.

Warum Kippelemente eine so große Wirkung haben

Sensibles Gleichgewicht

So schwankend und veränderlich uns das Klima auch manchmal scheint – seit der letzten Eiszeit leben wir in einer relativ stabilen Phase des Erdsystems. Ein komplexes System von Rückkopplungen sorgt dafür, dass wir weder eine neue Kaltzeit mit Gletschervorstößen bis nach Mitteleuropa erleben, noch eine extreme Warmzeit mit globalem Tropenklima wie vor rund 55 Millionen Jahren. Stattdessen hat sich die globale Mitteltemperatur in den letzten rund 10.000 Jahren bei etwa 15 Grad Celsius eingependelt.

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Erst das milde, relativ stabile Erdklima der letzten 10.000 Jahre ermöglichte den Aufstieg der menschlicihen Kulturen. © NASA

Kleine Schwankungen – große Wirkung

Erst dieser stabilen Klimaphase verdanken wir es, dass sich die menschlichen Zivilisationen so rapide und weit entwickeln konnten. Denn das vergleichsweise milde Klima erlaubte unseren Vorfahren im fruchtbaren Halbmond den Anbau der ersten Nutzpflanzen und die Entwicklung der Landwirtschaft. Diese wiederum schuf die Voraussetzungen für das Wachstum der Bevölkerung, die Gründung von Städten und komplexeren Gesellschaften.

Umgekehrt demonstriert die Geschichte aber auch, wie dramatisch sich schon kleinste, regionale Abweichungen von diesem Gleichgewicht auswirken können: Vor rund 4.000 Jahren brachte der schwächer werdende Monsun die Harappa-Kultur im Nordwesten des Indischen Subkontinents zu Fall – eine der drei großen frühen Hochkulturen der Menschheit. Vor 3.200 Jahren führte im Mittelmeerraum eine ungewöhnlich trockene Phase zum Niedergang von bronzezeitlichen Hochkulturen wie den Mykenern und Hethitern und setzte auch dem ägyptischen Reich stark zu.

Und bei uns in Mitteleuropa sorgte ein im 15. Jahrhundert beginnender Abfall der regionalen Mitteltemperaturen um nur rund ein Grad für die „Kleine Eiszeit“ – eine rund 300 Jahre andauernde Periode ungewöhnlich kühler, nasser Sommer und kalter Winter. Die Folge waren Missernten, Hungersnöte, soziale Unruhen und auch Kriege.

„Kippschalter“ im Klimasystem

Doch so katastrophal diese „Ausreißer“ des Klimas für unsere Vorfahren waren, für das Klimasystem der Erde stellen sie nur kleine, regionale und vorübergehende Schwankungen um den Gleichgewichtswert dar. Was aber wäre, wenn sich das Grundgleichgewicht verschiebt? Und wodurch könnte dies geschehen?

metastabiles Gleichgewicht
Kippelemente sind metastabil: Äußere Einflüsse können sie relativ leicht in einen neuen, anderen Gleichgewichtszustand schieben. © Georg Wiora /CC-by-sa 3.0

Eine Schlüsselrolle dafür spielen die sogenannten Kippelemente, englisch „Tipping Points“, wie Klimaforscher um Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) vor rund 20 Jahren erkannten. Demnach gibt es Komponenten im Erdsystem, die besonders sensibel schon auf kleine Veränderungen reagieren und bei Überschreiten eines Schwellenwerts abrupt in einem ganz neuen Zustand wechseln können – ähnlich einem Kippschalter.

Ein neues Gleichgewicht

Vergleichbar ist das Verhalten der Kippelemente mit einer Murmel, die in einer Senke am Berghang liegt. Solange sie nur ein wenig verschoben wird, rollt sie immer wieder in diese Senke zurück – das Gleichgewicht pendelt sich wieder ein. Doch wird diese Murmel über den Rand der Senke geschoben, rollt sie weiter den Berg hinab, bis sie in einer tiefer gelegenen Senke liegen bleibt. Sie hat damit einen neuen stabilen Gleichgewichtszustand erreicht – aber einen deutlich anderen als zuvor.

Was aber bedeutet dies konkret für unser Klimasystem?

Wo liegen die "Kippschalter"?

Stellglieder im System

Inzwischen gehen Klimaforscher davon aus, dass das irdische Klimasystem mindestens neun, wahrscheinlich sogar 18 Kippelemente aufweist. Diese verteilen sich auf ganz unterschiedliche Bereiche des Planeten – von den Ozeanen und der Atmosphäre über die Cryosphäre und die Vegetation bis hin zum Meeresgrund und den Böden.

Kippelemente
Geografische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem. Fragezeichen kennzeichnen Systeme, deren Status als Kippelement wissenschaftlich noch nicht gesichert ist. © PIK /CC-by-sa 3.0

Zu den Kippelementen gehören unter anderem die Eismassen Grönlands und der Westantarktis, das arktische Meereis und der Permafrost, aber auch großräumige Strömungssysteme in Ozean und Atmosphäre wie die Nordatlantische Umwälzströmung (AMOC), der Monsun, der El Nino sowie der Jetstream. Weitere klimawirksame Kippunkte finden sich in der Biosphäre unseres Planeten: Im Ausmaß der globalen Primärproduktion, dem Absterben der Korallenriffe und auch in der Entwaldung des Amazonas.

Über die Schwelle getrieben

Wie abrupt und schnell diese „Kippschalter“ des Erdsystems umspringen, ist allerdings sehr unterschiedlich. So könnte das arktische Meereis nach Überschreiten seiner Kippschwelle schon in wenigen Jahren bis Jahrzehnten verschwinden. Triebkraft dafür ist eine klassische positive Rückkopplung: Bisher trägt die helle Eisdecke auf dem Nordpolarmeer dazu bei, große Teile der Sonneneinstrahlung zurück ins Weltall zu reflektieren. Das Eis wirkt damit dem Treibhauseffekt entgegen und ist Teil der „Kühlaggregate“ im Erdsystem.

Wird die Eisfläche jedoch kleiner, sinkt diese Kühlwirkung, weil statt des stark reflektierenden Eises nun dunkle Wasserflächen überwiegen, die das Sonnenlicht und dessen Wärme absorbieren. Als Folge heizt sich der Ozean stärker auf und bringt so noch mehr Meereis zum Schmelzen. Ab einer bestimmten Temperatur und Schmelze ist dieser sich selbst verstärkende Prozess dann nicht mehr aufzuhalten. Der Kipppunkt ist erreicht und die komplette Meereisschmelze nicht mehr aufzuhalten.

Meereisbedeckung
Entwicklung der arktischen Meereisfläche seit 1979. © National Snow and Ice Data Center/ iStock.com

Lokales Kippen, globale Folgen

Tatsächlich vermuten Klimaforscher, dass dieses Kippelement bereits umgesprungen ist und der Nordpol sogar schon ab 2040 im Sommer eisfrei werden könnte. Indizien für diesen Wandel sind nicht nur die schrumpfende Fläche und Dicke des Meereises, sondern auch ein schwindender Eisnachschub und immer stärker werdende saisonale Schwankungen des Nordpolareises. Ob dieser Trend umkehrbar ist, ist aktuell strittig. Einige Klimaforscher stufen das Kippelement „Meereis“ aber als reversibel ein und vermuten, dass die Eisbedeckung sich erholen könnte, sobald das Klima sich wieder unter den Schwellenwert abkühlt.

Doch selbst wenn das der Fall wäre: Solange das Meereis drastisch dezimiert oder sogar komplett verschwunden ist, hätte dies nicht nur lokale Auswirkungen, sondern könnte das gesamte Erdklima weiter aufheizen. Denn mit der reflektierenden Eisfläche fällt immerhin ein „Kühlaggregat“ des Klimasystems aus. Hinzu kommt, dass sich auch großräumige Luft- und Meeresströmungen durch eine eisfreie Arktis verändern. Das hätte Folgen weit über die Arktis hinaus – unter anderem für Europa.

"Langsame" Kippelemente und ihre Folgen

Verzögerter Effekt

Während wir beim arktischen Meereis förmlich zuschauen können, wie es weniger wird, reagieren andere Kippelemente im Klimasystem weitaus langsamer und träger. Selbst wenn sie ihren Schwellenwert schon erreicht haben und „umgekippt“ sind, kann es mehrere Jahrhunderte dauern, bis dieser Zustandswechsel abgeschlossen ist.

„Viele Menschen denken: Ok, jetzt haben wir einen Kipppunkt gerissen und jetzt wird ziemlich schnell etwas passieren“, erklärt Robert Kopp von der Rutgers University. „Doch in der Welt der Klimawissenschaften können die Konsequenzen eines Kipppunkts erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten vollends zutage treten.“ Dies macht es für Klimaforscher oft schwer festzustellen, ob der Kipppunkt bereits erreicht ist oder nicht. Gleichzeitig führt dies dazu, dass die Folgen dieser Entwicklung oft unterschätzt und verdrängt werden.

Thwaites Gletscher
Blick auf die Zunge des Thwaites-Gletschers, einem der größten Eisströme der Westantarktis. © NASA

Westantarktis: Volle Wirkung erst in einigen Jahrhunderten

Ein Beispiel dafür ist die Eisschmelze in der Westantarktis. Dort münden mehrere große Eisströme ins Meer und stützen sich dabei mit ihren Gletscherzungen auf einer Barriere am Meeresgrund ab. Sie hat bisher den Eisfluss deutlich gebremst. Doch durch warme Tiefenströmungen sind die Gletscherzungen inzwischen unterhöhlt und geschrumpft und enden dadurch teilweise schon vor dieser „Bremse“. Als Folge hat sich der Eissfluss dieser Gletscher deutlich beschleunigt, wie Studien belegen.

Klimaforscher schätzen, dass das Abtauen der größten Gletscher der Westantarktis, darunter des Thwaites- und des Pine-Island-Gletschers, schon jetzt irreversibel sein könnte: Selbst wenn wir sofort jede weitere Erwärmung stoppen, werden sie im Verlauf der nächsten 200 bis 900 Jahre komplett abschmelzen. Die Folge wäre ein zusätzlicher Anstieg des Meeresspiegels um drei Meter allein durch die beiden großen Gletscher, beim Abtauen des gesamten Westantarktischen Eisschilds müssten wir mit fünf Metern Meeresspiegelanstieg rechnen.

„Wir denken oft, dass uns beim Verlust von Eis in der Antarktis das Schlimmste noch bevorsteht“, sagt Anders Levermann vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK). „Das stimmt auch. Aber es scheint, dass dieses Schlimmste bereits in Gang gesetzt wurde.“ Ähnliches könnte bald auch für den grönländischen Eisschild gelten. Denn Klimamodellen zufolge erreicht er seinen Kipppunkt bei einer globalen Erwärmung von rund zwei Grad. Innerhalb einiger Jahrhunderte könnte dann das gesamte Eis Grönlands abtauen und den Meeresspiegel um sieben Meter erhöhen.

Permafrost
Das Tauen des Permafrosts führt schon jetzt zu zunehmender Erosion, wie hier an der Küste von Herschel Island im arktischen Kanada. © Boris Radosavljevic/CC-by-sa 2.0

Permafrost: Schleichende Anfänge

Ein Kippelement mit noch weitreichenderen Folgen liegt im Untergrund des hohen Nordens: der Permafrost. In diesem dauerhaft gefrorenen Boden lagern Schätzungen zufolge rund 1.500 Gigatonnen Kohlenstoff in Form von Pflanzenresten und anderen organischen Verbindungen. Tauen diese Böden durch die Klimaerwärmung auf, zersetzen Mikroben diese organischen Materialien und setzen dabei große Mengen an Methan und CO2 frei. Dieser Einstrom potenter Treibhausgase heizt wiederum den Klimawandel weiter an, so dass sich das Abtauen des Permafrosts weiter beschleunigt – ein fataler Teufelskreis.

„Wenn diese Böden einmal anfangen zu tauen, werden sie Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte lang Treibhausgase freisetzen, ohne dass man viel dagegen tun kann“, warnten schon im Jahr 2011 Forscher vom Permafrost Carbon Research Network. Und diese Entwicklung hat bereits begonnen, wie Studien nahelegen. Demnach sind die Temperaturen im arktischen Untergrund schon um mehrere Grad gestiegen, im Sommer taut der Boden dadurch tiefer auf als zuvor. In vielen Regionen der Arktis bricht dadurch der Untergrund ein und Straßen, Bahnlinien und andere Infrastruktur werden zerstört oder beschädigt.

Noch hat dieses Kippelement seine kritische Schwelle aber nicht erreicht. Klimaforscher gehen davon aus, dass der „Point of no Return“ erst bei einer Erwärmung um rund fünf Grad erreicht sein wird. Dennoch setzen einige Permafrostgebiete schon jetzt mehr Treibhausgas frei, als die Tundrenvegetation wieder aufnehmen kann.

Amazonas-Regenwald, Ozean und Biosphäre

Wenn Puffer kollabieren

Das Klima verdankt seine bislang relativ robuste und eher träge Reaktion auf Störungen den vielen Puffern im System. So wirken die Ozeane als CO2-Senke, indem sie rund ein Viertel der anthropogenen CO2-Emissionen aufnehmen und so aus der Atmosphäre fernhalten – zumindest noch. Und auch die Pflanzenwelt und insbesondere die Wälder nehmen mehr CO2 auf als sie abgeben und wirken so als Senken. Die Biosphäre schluckt ebenfalls rund 25 Prozent der anthropogenen Emissionen.

Regenwald
Tropische Regenwälder, hier in Brasilien, sind wichtige CO2-Senken. © FG Trade/ iStock.com

Doch auch diese wichtigen Puffer sind Kippelemente im Klimasystem: Wechseln sie ihren Zustand, können sie von CO2-Senken zu CO2-Schleudern werden. Schon jetzt belegen Studien, dass beispielsweise stark zerstückelte Regenwälder mehr CO2 freisetzen als aufnehmen. Und bei extremer Dürre und Hitze weisen die afrikanischen Tropenwälder ebenfalls eine erhöhte CO2-Emission auf – noch ist dies allerdings reversibel.

Amazonas: Nah am Kipppunkt

Anders könnte dies beim Amazonas-Regenwald sein, einem besonders schnell reagierenden Kippelement im Klimasystem. Die riesige Waldfläche ist die „grüne Lunge“ unseres Planeten, eine wichtige CO2-Senke und gleichzeitig ein Regenlieferant für die gesamte Region. Denn die dichte Vegetation verdunstet enorme Mengen Wasser, das dann als Niederschlag wieder abregnet. Auf diese Weise erzeugt der Amazonas-Regenwald die Hälfte des von ihm benötigten Regens selbst – er ist ein sich selbst erhaltendes System.

Doch nicht mehr lange: „Das Amazonas-System ist nah an einem Kipppunkt“, sagt Thomas Lovejoy von der George Mason University. Gemeinsam mit Kollegen hat er 2018 untersucht, wann Klimawandel, Rodungen und Brände das Gleichgewicht des Amazonas-Regenwalds so weit destabilisieren, dass dieses Kippelement umspringt.

Entwaldung
Zerstörte Waldgebiete im brasilianischen Amazonasgebiet. © NASA/ Earth Observatory

Ihr erschreckendes Fazit: Schon eine Entwaldung von 20 bis 25 Prozent könnte die südlichen und zentralen Teile des Regenwalds innerhalb der nächsten Jahrzehnte unwiederbringlich zur Savanne werden lassen. Weil der Baumbestand nicht mehr ausreicht, um eigene Niederschläge zu erzeugen, trocknet der Regenwald aus. Nach Einschätzung der Forscher lässt sich ein Umkippen des Amazonas nur noch verhindern, wenn man sofort die Entwaldung stoppt und Gebiete aufforstet. Doch bislang schreitet die Entwaldung vor allem in Brasilien und Bolivien immer weiter voran.

Biosphäre: Kipppunkt ab 2060?

Aber nicht nur der Amazonas-Wald, auch die Biosphäre als Ganzes ist ein Kippelement im Klimasystem. Bisher reagiert die Vegetation noch positiv auf den steigenden CO2-Gehalt der Atmosphäre, weil Kohlendioxid ein limitierender Faktor für das Pflanzenwachstum ist. Sind genügend Nährstoffe und Wasser vorhanden, wachsen viele Pflanzen daher schneller und besser, wenn sie mehr CO2 bekommen. Tatsächlich schluckt die globale Vegetation heute rund 30 Prozent mehr CO2 als noch vor 200 Jahren, wie eine Studie kürzlich belegte.

Doch dies könnte sich bald ändern. Anfang 2019 ermittelten Forscher, dass die Erwärmung, zunehmende Dürren und eine sinkende Bodenfeuchte diesen positiven Effekt schon ab 2060 wieder umkehren könnten. „Die Biosphäre könnte dann einen Peak in der Fähigkeit zur CO2-Aufnahme erreichen“, erklärt Julia Green von der Columbia University. Dadurch sinkt die Pufferwirkung der Vegetation und es bleiben mehr Treibhausgas in der Atmosphäre. Das wiederum heizt den Klimawandel stärker an und beeinträchtigt die Pflanzenwelt noch mehr – eine klassische positive Rückkopplung.

„Wir reden hier nicht über etwas, das noch Jahrhunderte entfernt ist“, betont Green. „Wir reden hier über etwas, das in den nächsten 50 bis 100 Jahren passieren könnte.

Wenn Kippelemente sich gegenseitig "umreißen"

Fatale Kaskade

Die einzelnen Kippelemente und ihre verstärkenden Effekte auf den Klimawandel sind jedoch nur ein Teil des Problems. Denn inzwischen ist klar, dass diese Stellglieder des Klimasystems über Rückkopplungen eng miteinander verknüpft sind. Kippt einer dieser „Schalter“ in einen neuen Zustand, kann er über diese Vernetzung auch andere Kippelemente aus dem Gleichgewicht bringen.

Kippelemente-Rückkopplungen
Kipppunkte von Klima-Kippelementen und ihre Rückkopplungen. © Steffen et al./ PNAS

„Die Kippelemente könnten sich dann wie eine Reihe von Dominosteinen verhalten. Wird einer von ihnen gekippt, schiebt dieses Element die Erde auf einen weiteren Kipppunkt zu“, erklärt Johan Rockström vom Stockholm Resilience Centre. „Es könnte sehr schwierig oder sogar unmöglich sein, die ganze Reihe von Dominosteinen davon abzuhalten, umzukippen.“ Wann die Gefahr eines solchen Kaskadeneffekts droht und was dann passieren würde, haben Rockström, sein Kollege Will Steffen und weitere Forscher 2018 in einer Studie untersucht.

Domino-Effekt schon bei zwei Grad Erwärmung?

Das erschreckende Ergebnis: Die positiven Rückkopplungen zwischen den Kippelementen könnten unser Klima schneller und stärker destabilisieren als lange angenommen. Denn schon eine Erwärmung um nur zwei Grad könnte möglicherweise ausreichen, um die Dominosteine kippen zu lassen. „Unsere Analyse deutet darauf hin, dass wir ein solches Kaskadenrisiko selbst beim Erreichen der Klimaziele von Paris nicht ausschließen können“, berichten die Forscher.

Auslöser der Kaskade wären dabei Kippelemente, die schon bei relativ geringer Erwärmung umkippen, wie das arktische Meereis oder die Gletscher der Westantarktis und Grönlands. Deren Zustandswechsel wiederum könnte – gemeinsam mit graduellen Veränderungen wie der abnehmenden Pufferwirkung von Biosphäre und Ozeanen – die Temperaturen weiter anheizen und so die nächste Gruppe von Kippelementen „umstoßen“.

AMOC
Stark vereinfachte Darstellung der globalen Ozeanzirkulation. Einer der "Motoren" dieser Strömungen ist die Umwälzströmung im Nordatlantik AMOC). © Brisbane/CC-by-sa 3.0

Wenn beispielsweise das grönländische Eisschild weit genug abschmilzt, könnte dies die Nordatlantische Umwälzströmung (AMOC) zum Erliegen bringen. Diese jedoch ist der Motor der globalen Meeresströmungen und damit ein entscheidender Akteur im Klimasystem. Würde diese Umwälzpumpe stocken oder ausfallen, könnte dies durch globale Strömungsänderungen das gesamte Klimasystem destabilisieren, wie die Forscher erklären.

Eine neue „Heißzeit“

Im Extremfall könnte ein Domino-Effekt der Kippelemente bewirken, dass das gesamte Erdsystem in einem neuen Zustand rutscht. Das Resultat wäre eine „Treibhaus-Erde“ – eine Warmzeit, wie sie unser Planet seit Jahrmillionen nicht mehr erlebt hat, so Steffen und seine Kollegen. In diesem neuen Zustand lägen die globalen Mitteltemperaturen dauerhaft um vier bis fünf Grad höher als heute.

„Eine solche Treibhaus-Erde wäre wahrscheinlich unkontrollierbar und für viele gefährlich, vor allem wenn wir innerhalb von nur einem oder zwei Jahrhunderten in diesen neuen Zustand wechseln“, warnen die Wissenschaftler. „Das birgt ernste Risiken für Gesundheit, Wirtschaft, politische Stabilität und letztlich sogar die Bewohnbarkeit des Planeten für uns Menschen.“

Wie die Forscher betonen, mag dies als ein extremes Szenario erscheinen. Doch es illustriere, dass schon kleine Auslöser sich im komplexen Klimasystem der Erde zu schwerwiegenden Effekten summieren können. „Um dieses Szenario zu vermeiden, ist es notwendig, das menschliche Handeln in eine neue Richtung zu lenken, von der Ausbeutung zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Erdsystem“, betont Steffen.