Vom Atomkraftwerk zur "grünen Wiese"

Megaprojekt Rückbau

Atomkraftwerk
Wie entsorgt man ein Atomkraftwerk? © Michael Utech/ iStock.com

2022 soll das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen. Doch mit dem Abschalten ist es nicht getan – die ausrangierten Meiler müssen abgewickelt und entsorgt werden. Dieser Rückbau ist zeitaufwendig, teuer und auch technisch eine enorme Herausforderung. Wie aber zerlegt man ein Atomkraftwerk? Und welche Gefahren gibt es dabei?

Wenn im Jahr 2022 alle deutschen Aromreaktoren abgeschaltet sind, bleibt ein strahlendes Erbe zurück. Neben hunderttausenden Kubikmetern an schwach- und mittelradioaktivem Atommüll fallen dann 27.000 Kubikmeter an hochradioaktiven Abfällen an. Doch bevor diese entsorgt werden können, muss man sie erst einmal aus dem Kraftwerk entfernen – und das ist alles andere als einfach. Denn der Rückbau eines Atomkraftwerks ist eine komplexe Abfolge unzähliger Einzelschritte – und jeder von ihnen birgt Gefahren in sich.

Die Nachbetriebsphase eines Kernkraftwerks

Abschalten – und dann?

Ein Atomkraftwerk abzuschalten, ist weniger einfach als es scheinen mag. Denn mit dem Umlegen eines Schalters ist es noch lange nicht getan. Die Natur der Kernreaktion erfordert stattdessen eine ganze Reihe von sorgfältig abgestimmten Maßnahmen – und einen langen Atem.

Zum Abschalten werden Kontrollstäbe zwischen die Kernbrennstäbe eingeführt, hier der Blick in ein Brennelement. © tanyss/ iStock.com

Das Problem der Restwärme

Der erste Schritt zum Abschalten ist das Unterbinden der atomaren Kettenreaktion im Reaktorkern. Dies geschieht in der Regel, indem man cadmium- oder borhaltige Kontrollstäbe zwischen die Stäbe mit dem Kernbrennstoff einschiebt. Sie absorbieren die vom Zerfall des Urans freigesetzten Neutronen und verhindern so, dass weitere Zerfallsreaktionen angestoßen werden. Der Reaktor ist damit abgeschaltet.

Das Problem jedoch: Auch ohne laufende Kettenreaktion produzieren die Brennstäbe noch immer Wärme. Sie entsteht nicht durch den Zerfall des eigentlichen Kernbrennstoffs, sondern durch die im Betrieb entstandenen kurzlebigeren Zerfallsprodukte. Dazu gehören vor allem radioaktive Isotope von Iod, Cäsium, Strontium, Xenon und Barium. Ihr Zerfall erzeugt unmittelbar nach Abschalten des Reaktors noch zwischen fünf und zehn Prozent Nachzerfallswärme – bei einem großen Reaktor kann dies nach einem Tag noch 20 Megawatt thermischer Energie entsprechen, nach drei Monaten immerhin noch drei Megawatt.

Vom Reaktorkern ins Abklingbecken

Diese Hitzeentwicklung bedeutet, dass der abgeschaltete Reaktor und auch bereits aus dem Kern entfernte, abgebrannte Brennstäbe noch einige Zeit lang weiter aktiv gekühlt werden müssen. Geschieht dies nicht, können sich die Brennstäbe so stark aufheizen, dass eine Kernschmelze droht. Welche Folgen dies haben kann, demonstrierte 2011 die Atomkatastrophe von Fukushima: Weil durch das Erdbeben und den Tsunami der Kühlkreislauf versagte, kam es im überhitzten Abklingbecken eines der Reaktoren zu einer Explosion und hochradioaktive Gase traten aus.

Abklingbecken
Fast leerer Brennelement-Lagerkasten im Abklingbecken des italienischen Kernkraftwerks Caorso. © Simone Ramella /CC-by-sa 2.0

Die Abklingphase dauert je nach Reaktortyp und Menge des noch verbleibenden Kernbrennstoffs zwischen einem und fünf Jahren. In dieser Zeit muss als erstes der Reaktorkern von rund 300 Grad bis auf fast Raumtemperatur abkühlen. Dann folgt der zweite Schritt: Das Entfernen der Brennstoffstäbe aus dem Reaktorkern. Dafür wird mittels ferngesteuertem Kran die Abdeckung des Reaktorkerns angehoben und der Kern so weit mit Wasser geflutet, dass der Verbindungkanal zum benachbarten Abklingbecken unter Wasser liegt.

Fünf Jahre kühlen

Durch die sogenannte Lagerbeckenschleuse werden nun die Brennstäbe mit dem Kran unter Wasser ins Abklingbecken umgesetzt. Dieses Prozedere verhindert eine zu starke radioaktive Verstrahlung des Reaktorinneren und sichert gleichzeitig die ununterbrochene Kühlung der meist noch mehr als 100 Grad heißen Kernbrennstäbe. Im Abklingbecken dient Wasser als Kühlmittel und als Neutronenbremse. Um ein erneutes Aufflammen der Kettenreaktion zu verhindern, werden zusätzlich neutronenabsorbierende Substanzen wie Borsäure zugesetzt.

Dennoch sind die Zerfallsprodukte der Kernreaktion auch im Abklingbecken noch aktiv – davon zeugt ein geisterhaft bläuliches Leuchten. Dieses Tscherenkow-Licht entsteht, wenn die beim Zerfall der Radionuklide freigesetzten energiereichen Elektronen mit Wasserteilchen kollidieren. Die Atome werden dadurch angeregt und geben bei Rückkehr in den Grundzustand die Energie in Form von Licht wieder ab. Unter mehreren Metern Wasser und mit ständiger Kühlung bleiben die Brennstäbe im Abklingbecken, bis ihre Temperatur auf etwa 40 bis 50 Grad gesunken ist.

Dann können die Kernbrennstäbe aus dem Atomkraftwerk entfernt werden. Sie werden dafür mit Spezialkränen in Castorbehälter umgeladen und in ein Zwischenlager gebracht. Erst mit diesem Abtransport endet die sogenannte Nachbetriebsphase und das Kraftwerk gilt offiziell als abgeschaltet.

Das Problem der Aktivierung

Messen, messen, messen

Sind die Brennelemente aus einem abgeschalteten Atomkraftwerk entfernt, beginnt die Hauptarbeit. Doch bevor ein Betreiber die offizielle Genehmigung für die Stilllegung und damit den Rückbau bekommt, muss er detaillierte Pläne für das weitere Vorgehen vorlegen und – vor allem – für jedes Bauteil zunächst einmal messen, wie stark radioaktiv kontaminiert es ist.

Geigerzähler
Der klassische Geigerzähler reicht leider nicht, um die gesamte Kontamination in Reaktorbauteilen zu erfassen. © dennisvdw/ iStock.com

Kontamination ist nicht gleich Kontamination

Doch diese Messungen sind alles andere als einfach. Zum einen sind viele Bauteile anfangs noch gar nicht zugänglich und können daher erst dann ausgemessen werden, wenn der Rückbau schon im Gang ist. Zum anderen aber gibt es zwei verschiedene Arten der Kontamination, die jeweils eigene Messverfahren erfordern.

Der erste Fall ist die direkte Kontamination durch Kontakt mit den im Reaktorkern erzeugten Radionukliden. Diese Zerfallsprodukte, darunter radioaktives Cäsium und Strontium, können durch Mikrorisse in den Brennstabhüllen ins Kühlwasser übergehen. Im Laufe der Zeit lagern sie sich dadurch unter anderem an den Wänden des Reaktorkerns und an den Oberflächen der Leitungen, Pumpen und Ventile des Primär-Kühlkreislaufs ab. Diese Radionuklide lassen sich meist relativ gut nachweisen – teils über ihre Gammastrahlung, teils über direkte Nachweismethoden.

Durch Neutronen aktiviert

Anders ist dies mit der sogenannten Aktivierung. Sie wird durch die Neutronen verursacht, die beim Kernzerfall im Reaktor freigesetzt werden. Diese Elementarteilchen können tief in Beton, Stahl und andere Materialien eindringen und sogar den Stahlbehälter des Reaktorkerns durchschlagen. Wenn diese Neutronen mit den Atomkernen des Baumaterials kollidieren, werden sie absorbiert und verändern die Neutronenzahl im Atomkern – es entsteht ein neues, oft radioaktives Isotop dieses Elements.

Durch die Neutronenaktivierung können in den Bauteilen unzählige verschiedene radioaktive Isotope entstehen. Denn ihre Menge und Zusammensetzung hängt von der Materialmischung ab. So bilden die im Stahl oder dem Material der Brennstabhüllen enthaltenen Metalle radioaktive Isotope von Zirkonium, Nickel, Kobalt, Eisen, Mangan, Aluminium und Chrom. Aus den Atomkomponenten von Beton, Kühlwasser und anderen Bauteilen entstehen radioaktive Isotope von Phosphor, Kohlenstoff oder Silizium.

Schwer zu messen

Das Problem jedoch: Während die oberflächliche Kontamination durch Zerfallsprodukte leicht zu messen ist, ist dies für die Aktivierung nicht der Fall. Denn viele dieser Radionuklide sind nicht über Gammastrahlung nachzuweisen. Ob und wie viele von ihnen ein Bauteil enthält, lässt sich daher nur indirekt bestimmen. So kommen einige dieser Isotope immer gemeinsam mit einfacher nachweisbaren Radionukliden vor, so dass ihre Menge zumindest grob geschätzt werden kann.

AMS
Matthias Dewald von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) an einem der Beschleuniger-Massenspektrometer ihres AMS-Systems. © Sven Dokter/ GRS

Doch diese Methoden haben Grenzen. Sind die nicht direkt messbaren Radionuklide beispielsweise langlebiger als das Indikator-Nuklid, scheitern die indirekten Messungen. Manchmal ist das messbare Radionuklid zudem nur in sehr geringen Spuren vorhanden, was die Einschätzung der tatsächlichen Belastung eines Bauteils fast unmöglich macht.

Eine Lösung für dieses Dilemma könnte die im Herbst 2018 vorgestellte Beschleuniger-Massenspektrometrie (AMS) bieten. Dabei wird die Probe mithilfe eines Massenspektrometers und eines Beschleunigers so zerlegt, dass nur noch ionisierte Atome übrigbleiben. Unter diesen identifiziert dann ein zweites Massenspektrometer die Art und Menge der radioaktiven Isotope. Das Verfahren ist laut Forschern so genau, dass man selbst ein einzelnes Radionuklid in bis zu zehn Billiarden nicht-radioaktiven Isotopen aufspüren könnte. Noch allerdings ist das AMS nicht praxistauglich. Bis es bei abgeschalteten Atomkraftwerken zum Einsatz kommt, könnte es daher noch dauern.

Langwieriger Genehmigungsprozess

Sind die Messungen abgeschlossen und die Kontamination zumindest der wichtigsten Komponenten bekannt, stellt der Kraftwerksbetreiber seinen Stilllegungsantrag bei der zuständigen Behörde – meist dem Landes-Umweltministerium. Bis die Entscheidung gefallen und die Stilllegung offiziell genehmigt ist, dauert es jedoch meist mehrere Jahre. Momentan (Stand Sommer 2019) gelten 25 Reaktoren in Deutschland offiziell als stillgelegt, darunter sowohl Forschungsreaktoren als auch zur Stromerzeugung genutzte Meiler.

Die Frage des Timings

Einschluss oder Rückbau?

Wird ein Atomkraftwerk stillgelegt, gibt es für den weiteren Ablauf zwei Varianten. Beim sicheren Einschluss wird der komplette Reaktor zunächst mehrere Jahrzehnte lang eingeschlossen. Erst danach beginnt der Rückbau. Beim direkten Rückbau dagegen wird unmittelbar nach Genehmigung der Stilllegung mit dem Abriss und der Entsorgung der Anlage begonnen.

Grafenreheinfeld
Für das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld fordern einige Initiativen den sicheren Einschluss. © Rainer Lippert / gemeinfrei

Einschluss: Für Jahrzehnte weggesperrt

Auf den ersten Blick scheint der sichere Einschluss durchaus Vorteile zu haben. So zerfällt während der Wartezeit schon ein Teil der kurzlebigen Radionuklide wie beispielsweise Cobalt-60. Dadurch wird die Kontamination zumindest teilweise schwächer. Hinzu kommt, dass es bisher kein Endlager für hochradioaktiven Atommüll gibt – weder in Deutschland noch woanders auf der Welt. Der stark strahlende Abfall aus den stillgelegten Atomkraftwerken muss daher in Zwischenlagern aufbewahrt werden. Doch weder die Castorbehälter noch die oberirdischen Lagerhallen bieten auf Dauer eine ausreichende Sicherheit.

Unter anderem deshalb fordern auch einige Atomkraftgegner den sicheren Einschluss, beispielsweise beim Kraftwerk Grafenrheinfeld in Bayern. Sie argumentieren unter anderem damit, dass die Castoren mit dem Kernbrennstoff im Reaktorgebäude sicherer gelagert werden können als in den Hallen der Zwischenlager.

AKW-Aufbau
Auch wenn die Pläne vorliegen – die Details und Veränderungen im Aufbau eines Kernkraftwerks kennen oft nur die Mitarbeiter. © ChNPP/CC-by-sa 3.0

Aufschub mit Nachteilen

Doch der sichere Einschluss hat gravierende Nachteile. Einer der schwerwiegendsten ist der Verlust des Knowhows durch das Fachpersonal der im Atomkraftwerk Beschäftigten. „In 50 Jahren wäre keine Person mehr vorhanden, die die Anlage und ihre Betriebsgeschichte noch aus eigener Anschauung kennt“, erklärt dazu das Öko-Institut. „Auf vorhandene Pläne allein ist aus Erfahrung aber kein Verlass, da die im Detail oft nicht mit der tatsächlich errichteten Anlage übereinstimmen.“

Hinzu kommt, dass die Finanzierung des Rückbaus nach einer so langen Wartezeit möglicherweise nicht mehr gesichert ist. Denn die dafür nötigen Rückstellungen legen die Kraftwerksbetreiber an – je nach Anlagengröße zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Euro. Geht der Stromkonzern jedoch in der Zwischenzeit insolvent oder die Rücklage wurde für etwas anderes verwendet, fehlt nach Ende der Einschlusszeit möglicherweise das Geld.

Auch soziale Belange spielen eine Rolle: Wird ein Atomkraftwerk erst einmal eingeschlossen, muss man die bisherigen Mitarbeiter größtenteils entlassen. Bei einem direkten Rückbau werden sie dagegen für die anfallenden Arbeiten gebraucht und behalten ihre Arbeitsplätze noch mindestens zehn bis 20 Jahre.

Rückbau ohne Verzögerung

Unter anderem deshalb sieht das Atomgesetz in Deutschland nach der Stilllegung der Atomkraftwerke den direkten Rückbau vor. „Das Atomgesetz fordert für Leistungsreaktoren, deren Berechtigung zum Leistungsbetrieb erloschen ist, diese unverzüglich stillzulegen und abzubauen“, heißt es dazu beim Bundesamt für Strahlenschutz. Wobei „unverzüglich“ in diesem Kontext zwischen drei und sieben Jahren bedeuten kann. Denn mit den konkreten Rückbauarbeiten kann erst begonnen werden, wenn die Stilllegung offiziell genehmigt ist.

Wie aber läuft der Rückbau konkret ab?

Dekontamination und Entsorgung der schwach verstrahlten Teile

Der große Abwasch

Ein Atomkraftwerk ist ein komplexes Gebilde aus mehreren hunderttausend Tonnen Beton, Stahl und anderen Baumaterialien. Radioaktiv kontaminiert ist davon zwar nur der geringste Teil – meist rund drei Prozent. Doch viele dieser strahlenden Reste kann man nicht einfach als Ganzes heraustrennen oder ohne aufwändige Vorarbeiten entsorgen. Was wann und auf welche Weise abgerissen und entsorgt wird, erfordert daher einiges an Aufwand und Planung.

Atommüll-Fässer
Schwach radioaktive Abfälle werden in spezielle Fässer gefüllt. © ShinRyu Forgers /CC-by-sa 4.0

Vom Sauberen zum „Schmutzigen“

Den Anfang machen Anlagenteile, die nachweislich nicht kontaminiert sind – dazu gehören beispielsweise die Komponenten der Kontrollstände, Elektromotoren und Generatoren oder Teile des sekundären Wasserkreislaufs. Jedes Bauteil wird nach Material sortiert, zerkleinert und dann säuberlich getrennt in standardisierte Gitterboxen verfrachtet. Diese Boxen werden in einer speziellen Messanlage auf dem Gelände noch einmal auf Kontamination kontrolliert. Übersteht das Material diese sogenannte Freimessung ohne Beanstandungen, kann es wie normaler Bauschutt weiterverwendet oder verkauft werden.

Als nächstes folgt die Bearbeitung von schwach radioaktiven Bauteilen, bei denen nur die Oberfläche durch Zerfallsprodukte kontaminiert ist. Dazu gehören Kräne, die Leitungen und Komponenten des Kühlkreislaufs oder die Wände, Böden und Decken des Reaktorgebäudes. „Man macht es beim Abwaschen ja auch so: Man fängt ja auch nicht mit dem Schmutzigen an, man macht zuerst die Gläser. Und so ähnlich kann man sich das hier auch vorstellen“, erklärt Marlies Philipp, Ingenieurin und Sprecherin des für den Rückbau des Kernkraftwerks Greifswald zuständigen Unternehmens Energiewerke Nord (EWN).

AKW Abriss: Mit Flex, Kärcher und Wischlappen.© Spiegel TV

Oberflächen-Dekontamination: Spülen, Schleifen und Fräsen

Um die Menge des radioaktiven Abfalls möglichst gering zu halten, werden diese Bauteile nicht als Ganzes entsorgt, sondern dekontaminiert. In mühevoller Kleinarbeit tragen dabei Arbeiter in voller Schutzmontur die verseuchten Schichten ab. Häufig müssen die Bauteile dafür zunächst mit Schneidbrennern oder Spezialsägen in handhabbare Einheiten zerkleinert werden.

Zur Dekontamination kommt bei lackierten Metalloberflächen oft ein Hochdruckreiniger zum Einsatz, der die kontaminierte Lackschicht mit einem starken Wasserstrahl abschleift. Bei anderen Metallteilen ätzen die Arbeiter die kontaminierten Schichten mit starken Säuren oder Laugen weg oder schleifen sie mechanisch ab. Bei Betonwänden und anderen nichtmetallischen Gebäudeteilen werden die oberen Schichten meist abgefräst. Weil Radionuklide zudem durch Mikrorisse und Löcher tiefer in das Material eindringen können, werden diese aufgestemmt und ausgehöhlt.

Alle dekontaminierten und gereinigten Bauteile werden zerkleinert, in Boxen verpackt und können nach erfolgreicher Freimessung dann wie der restliche Bauschutt verkauft oder recycelt werden.

Zwischenlager
Zwischenlager am Kernkraftwerk Grafenrheinfeld. © Rainer Lippert / gemeinfrei

Ab ins Zwischenlager

Die radioaktiven Reste – abgetragener Lack und Metallpartikel, Stahl- und Betonteile sowie kontaminiertes Wasser und andere Lösungsmittel – werden in spezielle Fässer verpackt und als schwach- und mittelradioaktiver Abfall abtransportiert. Dieser Atommüll macht vom 90 Prozent der beim Rückbau anfallenden radioaktiven Abfälle aus. Sie sollen langfristig im ehemaligen Bergwerk Schacht Konrad in Niedersachsen eingelagert werden. Dieses allerdings ist wird zurzeit noch dafür umgerüstet und soll frühestens 2027 in Betrieb genommen werden.

Bis dahin wird dieser schwach- bis mittelradioaktive Atommüll daher in Zwischenlager gebracht und dort gelagert. So sind beispielsweise im Zwischenlager für den Rückbau des Atomkraftwerks Greifswald allein sieben Hallen für diese Reste reserviert.

Ist dieser Teil des Rückbaus erledigt, geht es an „Eingemachte“ – den Reaktorkern.

Der Rückbau der Reaktorkerne

Tödliches Herz

Am gefährlichsten und technisch aufwändigsten ist der Rückbau der eigentlichen Reaktorkerne mitsamt Druckbehältern und Einbauten. Denn sie sind hochradioaktiv und durch Neutronenstrahlung bis die Tiefen des Materials aktiviert. Diese Bauteile strahlen selbst Jahre nach dem Abschalten des Atomkraftwerks noch so stark, dass jeder direkte Kontakt für einen Menschen tödlich wäre – selbst mit Schutzanzug.

Zerlegung des Reaktordruckgefäßes im AKW Würgassen.© Eon/ Peter Klimmeck

Roboter und Unterwasserschneider

Diese hochradioaktiven Bauteile können daher nur ferngesteuert abgebaut werden. Teilweise geschieht dies in speziell isolierten Schutzräumen, die am stärksten strahlen Bauteile aber werden zum zusätzlichen Schutz vor der Strahlung unter Wasser bearbeitet. Dabei kommen Kräne, Manipulatoren sowie Plasmabrenner und Spezialsägen zum Einsatz. Mit ihnen werden zunächst alle Einbauten der Reaktorkerne in Stücke zerlegt und für den Transport ins Zwischenlager vorbereitet.

Bei dem seit 1990 stillgelegten Atomkraftwerk Greifswald wurden die dafür nötigen Verfahren und Abläufe zunächst in einer Art „Generalprobe“ getestet – mit den Reaktoreinbauten zweier nie in Betrieb gegangener Reaktorblöcke. Erst dann wagten sich die Mitarbeiter des Kraftwerks und der Entsorgerfirma EWN an die Zerlegung der Bauteile der ersten beiden strahlenden Reaktorblöcke.

Zwischenlager Nord
Im Zwischenlager Nord werden die radioaktiven Reste der Kernkraftwerke Greifswald und Rheinsberg gelagert. © Entsorgungswerk für Nuklearanlagen GmbH

Arbeit für Jahrzehnte

Parallel dazu setzt EWN noch eine andere Strategie ein: Statt die hochradioaktiven Bauteile vor Ort zu zerlegen, werden die restlichen Reaktoreinbauten und Druckgefäße als Ganzes mit speziell abgeschirmten Transporten ins nahegelegene Zwischenlager Nord gebracht. Dort sollen sie – in Castorbehältern verpackt – weiter abklingen und erst später zerlegt werden, so die EWN. Dafür wurden im Zwischenlager speziell abgeschirmte Zerlegeplätze eingerichtet. Dort füllen die hochradioaktiven Reste des Kernkraftwerks Greifswald inzwischen 61 Castoren.

Erst wenn der gesamte Inhalt eines Kraftwerksgebäudes samt Wänden dekontaminiert und die hochradioaktiven Reste abtransportiert wurden, wird das Gebäude abgerissen. „Pro Spezialgebäude werden sieben bis acht Jahre für die Demontage und Dekontamination benötigt, bevor der konventionelle Abriss beginnen kann“, erklärt EWN-Ingenieurin Philipp.

Mittlerweile läuft der Rückbau im Atomkraftwerk Greifswald seit fast 24 Jahren – und bis zu seinem Abschluss wird es noch einige Jahre dauern. Für den Rückbau des Atomkraftwerks Biblis in Hessen rechnen die Verantwortlichen mit einer Dauer von 15 bis 20 Jahren. Damit ist klar: Der Weg vom Abschalten bis zur nicht mehr kontaminierten, vollständig freigeräumten „grünen Wiese“ ist alles andere als schnell oder einfach. Allein der Rückbau des Kraftwerks Greifswald könnte am Ende bis zu vier Milliarden Euro gekostet haben.

Der Stand der Dinge

Wie geht es weiter?

Doch das Atomkraftwerk Greifswald ist erst der Anfang. Vollständig zurückgebaut sind in Deutschland bisher nur drei Atommeiler: zwei kleine Forschungsreaktoren und das 100 Megawatt-Kraftwerk Niederaichbach. Dieses wurde nach nur eineinhalb Jahren Betriebsdauer im Jahr 1974 abgeschaltet und nach Stilllegung zunächst in den sicheren Einschluss versetzt. 1987 begann dann der Rückbau, der 1995 abgeschlossen wurde.

AKWs in Detuschland
Kernkraftwerke in Deutschland - Anlagen in Betrieb, bgeschaltet und in Stilllegung. © Oeko-Institut e.V./CC-by-sa 2.0

Der größte Batzen kommt erst noch

Bei nahezu allen anderen zur Stromerzeugung eingesetzten Atomkraftwerken in Deutschland hat der Rückbau jedoch gerade erst begonnen oder steht noch bevor. Bisher sind zehn der 17 deutschen Leistungsreaktoren abgeschaltet, die restlichen sieben Meiler werden bis 2022 sukzessive vom Netz gehen. Damit ist klar: Die Hauptarbeit, um das strahlende Erbe des Atomzeitalters zu entsorgen, steht noch bevor. Nach Angaben des Bundesamts für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE) werden nach dem vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie allein 1.900 Castorbehälter mit insgesamt 27.000 Kubikmetern hochradioaktiven Abfällen übrigbleiben.

Doch wohin damit? Bisher gibt es keine andere Möglichkeit, als die Castoren in Zwischenlagern provisorisch aufzubewahren, bis ein Endlager gefunden ist. Neben drei zentralen Zwischenlagern in Lubmin, Gorleben und Ahaus dienen 13 dezentrale, einzelnen Atomkraftwerken zugeordnete Hallen als Zwischenlager. Nachdem die Zwischenlager ursprünglich von den Energiekonzernen betrieben und bezahlt wurden, haben diese sich im Jahr 2018 von der Verantwortung für die Zwischen – und Endlagerung freigekauft: Für den Preis von 24,1 Milliarden Euro ging der schwarze Peter an den Staat.

Provisorium statt Endlager

Dieser muss nun zusehen, wie er möglichst schnell eine dauerhafte Lösung für den hochradioaktiven Atommüll findet – ein Endlager. Denn in den Castoren können die hochradioaktiven Reaktorrelikte nicht ewig bleiben. Weil diese Spezialbehälter in der Regel nur für 40 Jahre Betrieb ausgelegt sind, muss der Atommüll nach Ablauf dieser Zeit entweder in neue Castoren umgeladen werden oder aber in die Behälter, die dann ins Endlager kommen.

Bisher aber ist weder klar, wo dieses Endlager für hochradioaktiven Atommüll liegen wird, noch welches die endgültige Technologie für die Lagerbehälter sein wird. Und schon jetzt sieht es so aus, als würde sich der Zeitplan für die Festlegung eines Endlagers weiter verzögern. Ursprünglich war dies für 2031 geplant, die Inbetriebnahme dann bis 2050. Einige Experten rechnen aber schon jetzt frühestens mit einer Inbetriebnahme ab 2080.