Die Macht der Steuerzentrale in unserem Magen-Darm-Trakt

Das Bauchgehirn

Darm
Unser Bauch tut weit mehr als nur zu verdauen. © RyanKing999/ iStock.com

Wer vom Gehirn spricht, meint in der Regel das Nervensystem im Kopf. Doch wir besitzen noch ein zweites „Denkorgan“ – in unserem Bauch. Dieses Gehirn kann zwar keine Matheaufgaben lösen oder eine neue Sprache lernen. Es könnte als Schaltzentrale im Körper aber ähnlich wichtig sein wie sein Pendant im Kopf und steht in einer besonderen Verbindung zu ihm. Was verbirgt sich hinter dem Begriff des Bauchgehirns? Und welche Rolle spielt es für unsere Gesundheit?

Die Vorstellung, der Magen-Darm-Trakt sei eine langweilige Verdauungsmaschine, ist in der Medizin längst passé. Denn die Forschung hat gezeigt, dass in unserem Bauchraum ein empfindliches Nervensystem mit erstaunlichen Eigenschaften sitzt. Dieses auch Bauchgehirn oder „zweites Gehirn“ genannte Geflecht aus Nervenzellen ist strukturell ganz ähnlich aufgebaut wie unser Gehirn im Kopf. Interessanterweise ist es evolutionsgeschichtlich jedoch älter als dieses – bevor die ersten Lebewesen ein Kopfgehirn entwickelten, besaßen sie eines im Bauch.

Die Hauptaufgabe dieses faszinierenden Nervensystems ist die Verdauung. Doch sein Einfluss reicht noch um einiges weiter. So reguliert das Bauchgehirn nicht nur unsere Darmtätigkeit und unser Sättigungsgefühl. Es scheint sogar unsere Emotionen kontrollieren zu können und möglicherweise an neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson beteiligt zu sein.

Was ist das Bauchgehirn?

Unser zweites Gehirn

In unserem Bauch ist ein komplexes Geflecht von Nervenzellen verborgen. Dieses sogenannte enterische Nervensystem (ENS) liegt zwischen den Muskeln des Verdauungsapparates und zieht sich nahezu durch den gesamten Magen-Darm-Trakt, von der Speiseröhre bis hin zum Darmausgang. Mit seinen 100 bis 200 Millionen Neuronen ist es sogar größer als das Nervensystem im Rückenmark. Wissenschaftler nennen es auch das Bauchgehirn. 

Magen-Darm-Trakt
Unseren Magen-Darm-Trakt durchzieht ein komplexes Nervensystem. © Eraxion/ iStock.com

Diese Bezeichnung ist gar nicht so abwegig, denn genaugenommen ist das ENS tatsächlich so etwas wie eine Kopie des Gehirns in unserem Kopf: Beide Nervensysteme besitzen dieselben Zelltypen und nutzen sogar dieselben Botenstoffe zur Kommunikation. So kommen Neurotransmitter wie Serotonin sowohl im Kopf- als auch im Bauchgehirn vor. Im Kopf beeinflusst das „Glückshormon“ unser Wohlbefinden. Im Bauch steuert es zum Beispiel den Rhythmus der Darmtätigkeit und reguliert das Immunsystem. 

Völlig autonom

Die Aufgabe des Bauchgehirns ist vor allem die Verdauung. Das ENS analysiert die Zusammensetzung der zugeführten Nahrung, steuert die Darmbewegungen und kontrolliert, was der Körper aufnimmt und was nicht. Die regelmäßige Darmentleerung geschieht ebenfalls unter seinem Kommando. 

All diese Funktionen übernimmt dieses Gehirn der anderen Art in Eigenregie. Es agiert völlig autonom und ist anders als viele andere Organe nicht auf eine Steuerung durch das Gehirn im Kopf angewiesen. Bewussten Steuerungsversuchen entzieht es sich stattdessen: Selbst wer wollte, könnte seine Verdauung nicht aktiv kontrollieren. 

Erstes Gehirn und zweites Gehirn
Das Bauchgehirn hat einen direkten Draht zum Gehirn in unserem Kopf. © metamorworks/ iStock.com

Direkter Draht nach oben

Experimente mit Tieren, die ebenfalls über dieses Nervensystem verfügen, illustrieren die Autonomie des Bauchgehirns eindrücklich: Legt man den Darm von Mäusen oder Ratten in eine Petrischale, führt er seine Arbeit fort als wäre nichts gewesen. Die Ringmuskulatur des isolierten Organs zieht sich weiterhin rhythmisch und in fortschreitenden Wellen zusammen, um den Darminhalt zu transportieren. 

Trotzdem arbeitet das Nervensystem in unserem Verdauungstrakt nicht völlig losgelöst vom Rest des Organismus. Es steht unter dem Einfluss von Sympathikus und Parasympathikus und verfügt über einen direkten Draht zum Gehirn. Wie aber sieht sie genau aus, diese Verbindung des Bauchs zu unserem Denkorgan?

Wie Bauch und Gehirn miteinander verknüpft sind 

Eine besondere Verbindung

Mit dem einen Gehirn denken, mit dem anderen verdauen wir – was nach einer klaren Aufgabenverteilung klingt, ist in Wahrheit viel komplexer. Denn obwohl sie unabhängig voneinander arbeiten können, stehen Kopf- und Bauchgehirn ständig in Verbindung und kommunizieren miteinander. 

Magen und Bauch
Über den Vagusnerv können sich Bauch und Gehirn miteinander "unterhalten". © sabelskaya/ iStock.com

Im Zentrum dieses Zwiegesprächs steht der Vagusnerv. Diese große Nervenbahn verläuft vom Magen-Darm-Trakt zur Basis des Gehirns und ermöglicht direkte „Unterhaltungen“ zwischen Bauchraum und Kopf. Über diese Kommunikationsachse können Informationen in beide Richtungen gesendet werden. Der Verdauungstrakt signalisiert dem Gehirn unter anderem, wann der Magen gefüllt und der Nährstoffbedarf gedeckt ist und ob getrunkene Flüssigkeit unseren Körper ausreichend hydratisieren kann. Umgekehrt erhalten die inneren Organe Anweisungen vom Denkorgan. 

Bauch an Kopf, Kopf an Bauch

Ein einfaches Beispiel für die wechselseitige Kommunikation der beiden Nervensysteme: Haben wir verdorbene Lebensmittel gegessen, schlägt das Bauchgehirn Alarm. Es signalisiert dem Kopfgehirn, dass etwas Giftiges bei ihm angekommen ist. Auf diesen Hinweis folgt wiederum eine prompte Reaktion von oben – das Gehirn sendet dem enterischen Nervensystem Signale zum Auslösen motorischer Reflexe, die Erbrechen verursachen. 

Insgesamt hat der Bauch dem Kopf allerdings mehr zu sagen als umgekehrt. Forscher wissen inzwischen, dass 90 Prozent aller Informationen von unten nach oben gefunkt werden und nur zehn Prozent in die andere Richtung. 

E. coli
Bakterien wie der Darmkeim Escherichia coli beeinflussen die Kommunikation zwischen Bauch und Gehirn. © gemeinfrei

Die Rolle der Mikroben

Bei der Kommunikation zwischen Bauch und Gehirn mischen interessanterweise auch mikrobielle Akteure mit. Die Bakterien, die dem Darm bei der Verdauung helfen, können auf die über den Vagusnerv verschickten Signale Einfluss nehmen und so die Kommunikation zwischen Kopf- und Bauchgehirn manipulieren. Außerdem beeinflussen die Mikroben möglicherweise auch über die Blutzirkulation Prozesse im Gehirn – zum Beispiel, indem sie auf das Immunsystem einwirken.

Studien deuten darauf hin, dass bestimmte Bakterienspezies in der Darmflora auf einem dieser Wege unser Sättigungsgefühl beeinflussen. Manche Mikroben lösen vermehrte Esslust aus, andere wiederum machen uns vorzeitig satt. Doch nicht nur das: Die Darmbakterien können im Gehirn sogar die Bildung neuer Nervenzellen anregen.

Welche Rolle spielt der Bauch für die Psyche?

Von „Schmetterlingen“ und flauen Gefühlen

Wer verliebt ist, hat Schmetterlinge im Bauch, und Angst sorgt für ein flaues Gefühl im Magen: Glaubt man dem Volksmund, ist unsere Gefühlswelt eng mit dem Bauchraum verknüpft. Doch wie viel Wahres steckt in diesen Redewendungen? Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen unseren Emotionen und dem, was im Verdauungstrakt passiert? 

Für diese These spricht, dass der Vagusnerv den Bauchraum mit dem limbischen System verbindet – jener Funktionseinheit des Gehirns, die eine wichtige Rolle für die Generierung und Verarbeitung von Emotionen spielt. Und in der Tat deuten Experimente auf einen nicht unerheblichen Einfluss dieser Verbindung hin.

Maus
Ihr Bauch bestimmt mit darüber, ob sich Nagetiere zurückhaltend oder forsch verhalten. © David de Lossy/ iStock.com

Von ängstlich zu furchtlos

So offenbaren etwa Untersuchungen mit Ratten: Durchtrennt man die für die Weiterleitung von Informationen aus dem Bauch in Richtung Kopf zuständigen Nervenstränge, verhalten sich die Tiere merkwürdig. Auf Situationen, die bei ihnen normalerweise Angst auslösen, reagieren die Nager ohne „Bauchgefühl“ plötzlich furchtlos. „Das Angstverhalten scheint deutlich durch Signale vom Bauch ans Gehirn beeinflusst zu werden“, erklärt Studienautor Urs Meyer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

Ähnliche Effekte lassen sich durch den Austausch der mikrobiellen Mitbewohner im Darm erzielen. Abhängig von der Zusammensetzung der Darmflora scheinen sich die Emotionen und sogar die Persönlichkeit von Mäusen und Ratten zu verändern, wie Experimente zeigen. Mit anderen Bakterien im Darm verhalten sich vormals eher zurückhaltende und ängstliche Tiere zum Beispiel aggressiver.

Bauchschmerzen
Stress kann mitunter Bauchschmerzen verursachen. © Eva-Katalin/ iStock.com

Stress wirkt auf den Darm

Doch gilt dieser faszinierende Zusammenhang auch beim Menschen? So eindeutig wie im Tierversuch lässt sich dies zwar nicht belegen. Beobachtungen zeigen aber, dass zum Beispiel Beschwerden wie das Reizdarmsyndrom häufig auch mit psychischen Symptomen wie Angstzuständen oder Depressionen einhergehen.

Dabei scheinen die Darmvorgänge nicht nur die Gefühlswelt zu beeinflussen – andersherum funktioniert es ebenso. So ist bekannt, dass die Symptomatik des Reizdarmsyndroms in Stresssituationen zunimmt und empfundener Stress bei Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen das Risiko für einen Krankheitsschub erhöht.

Gesunder Bauch dank Hypnose?

Mediziner versuchen längst, sich dieses komplexe Zusammenspiel zunutze zu machen. Sie setzen beispielsweise Hypnosetherapien ein, um über den Kopf den Bauch zu erreichen. Unter anderem bei Patienten mit Reizdarmsyndrom und Colitis ulcerosa kann dieser unkonventionelle Behandlungsansatz tatsächlich zum Erfolg führen, wie Studien belegen: Die gastrointestinalen Funktionen verändern sich positiv, die Betroffenen haben weniger Beschwerden.

Was Parkinson und Co mit dem Bauch zu tun haben

Kranker Kopf, kranker Darm?

Bauch- und Kopfgehirn sind erstaunlich eng miteinander verknüpft und sich auch strukturell auffallend ähnlich. Diese Beobachtung hat Mediziner inzwischen zu der Vermutung geführt, dass beide Nervensysteme von denselben Krankheiten betroffen sein können.

Einen ersten Hinweis darauf entdeckte James Parkinson bereits im 19. Jahrhundert. Der britische Arzt stellte damals fest: Patienten, die unter der nach ihm benannten neurodegenerativen Erkrankung litten, klagten häufig auch über Darmbeschwerden wie Verstopfungen. Gab es da einen Zusammenhang?

Nervenzelle
Parkinson befällt die Nervenzellen im Gehirn - aber nicht nur. © Eraxion/ iStock.com

Parkinson-Symptome im Bauch

Tatsächlich weiß man heute, dass bei Morbus Parkinson nicht nur Nervenzellen in der Substantia nigra des Gehirns zugrunde gehen – ihre Pendants im Magen-Darm-Trakt können ebenfalls betroffen sein. Das Gewebe des enterischen Nervensystems zeigt bei Parkinson ähnliche pathologische Veränderungen wie jenes im Kopf.

Möglicherweise nimmt die Erkrankung sogar im Bauchraum ihren Anfang und wandert von dort nach oben. Schließlich manifestieren sich die unspezifischen Darmbeschwerden oftmals schon Jahre bevor die Krankheit die typischen motorischen Störungen verursacht und erkannt wird. Diese Erkenntnis könnte sich in Zukunft für neue Früherkennungsmethoden nutzen lassen. Forscher untersuchen derzeit, wie verlässlich sich Parkinson anhand von Biopsien der Nerven im Darm diagnostizieren lässt – mit vielversprechenden Ergebnissen.

Zusammenhang mit Alzheimer?

Unser Verdauungsorgan als Fenster zu unserem Kopf: Dies könnte sich neben Parkinson auch für andere Krankheiten bewahrheiten, die gemeinhin als Leiden des Gehirns gelten – zum Beispiel Multiple Sklerose oder Alzheimer. So gibt es erste Hinweise darauf, dass der Magen-Darm-Trakt bei diesen Leiden ebenfalls mitmischt. Schwedische Forscher haben kürzlich etwa herausgefunden, dass bestimmte Mikroben der Darmflora die Bildung der Alzheimer-Plaques im Gehirn beeinflussen. Welche Rolle der Bauch bei diesen Erkrankungen genau spielt, ist allerdings noch unklar.