Forscher "durchleuchten" die Wurzeln des Gebirges

Die Alpen von unten

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Die Alpen haben tiefe Wurzeln – sie wollen Forscher nun im Projekt Alp Array erforschen © Friedrich-Karl Mohr/ CC-by-sa 3.0

Die Alpen ragen nicht nur in die Höhe und prägen unseren Kontinent – sie reichen auch tief in die Erde hinein. Die Wurzeln des Gebirges liefern entscheidende Hinweise auf die Prozesse, die bis heute die Alpen bewegen. Im Projekt Alp Array nutzen Forscher ein dichtes Messnetz, um die Wurzeln der Alpen zu „durchleuchten“ – mithilfe von Erdbebenwellen.

Das Eigentliche ist unsichtbar – das gilt auch für Gebirge wie die Alpen. Denn was seine gewaltigen Bergmassive bewegt, liegt tief im Untergrund verborgen. Forscher nutzen deswegen Wellen weit entfernter Erdbeben, um unter die Oberfläche der Alpen zu blicken. Ähnlich wie unsere Körpergewebe je nach Beschaffenheit Röntgenwellen absorbieren oder durchlassen, verändert auch die Struktur des Untergrunds die hindurchlaufenden Bebenwellen.

Das seismische Messnetz Alp Array kann damit ganz neue Einblicke in den „Keller“ der Alpen gewähren. Man darf gespannt sein, welche Überraschungen dabei in den nächsten Jahren zutage treten.

Quelle: Meike Drießen/ RUBIN, Ruhr-Universität Bochum

Die Entstehung und Entwicklung der Alpen

In Bewegung bis heute

Die Alpen sind das größte Gebirge Europas. Wie ein gewaltiger Riegel ziehen sie sich 750 Kilometer weit quer durch unseren Kontinent. Mit mehr als 100 Viertausender-Gipfeln bilden die Alpen eine mächtige Barriere und trennen Mittel- und Nordeuropa vom Süden ab. Dadurch prägt dieses Gebirge nicht nur das Klima Europas. Die Alpen haben auch die Geschichte und Entwicklung der menschlichen Kulturen in Europa entscheidend beeinflusst.

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Wie eine gewaltige Barriere: Die Alpen aus dem Orbit gesehen. © NASA/GSFC, MODIS/ Jacques Descloitres

Aufgetürmt und noch immer am Wachsen

Die Alpen türmten sich auf, als die nach Norden wandernde Afrikanische Erdplatte mit Eurasien zusammenstieß. In einem mehrstufigen Prozess sorgte der Druck der kollidierenden Erdplatten dafür, dass sich Teile der Erdkruste aufwölbten. Dadurch wurden zunächst Teile ehemaligen Meeresbodens zu trockenem Land, dann wuchs langsam ein Gebirge in die Höhe. Doch erst vor rund 30 Millionen ereignete sich der entscheidende Schub, der die Alpen zum Hochgebirge machte. Geologisch gesehen sind sie daher ein noch eher junges Gebirge.

Und die Entwicklung der Alpen ist noch lange nicht abgeschlossen: Bis heute ist das Gebirge in ständiger Bewegung. Seine Gipfel heben sich im Schnitt um rund 1,8 Millimeter pro Jahr in die Höhe. Gleichzeitig bewegt sich das Gebirge auch seitwärts: Der östliche Alpenraum driftet mit bis zu zwei Millimetern pro Jahr nach Osten und wird dabei zusammengedrückt und deformiert, wie erst vor Kurzem eine Studie auf Basis von Langzeitmessungen enthüllte.

Mont Blanc
Blick auf den Mont Blanc, den höchsten Gipfel der Alpen. © Joe MiGo/ CC-by-sa 3.0

Eiszeit statt Plattentektonik

Doch was verursacht diese Bewegung? Lange galt die anhaltende Plattentektonik als einer der Hauptgründe für die Hebung der Alpen: Weil die Afrikanische Platte noch immer nordwärts wandert, drückt sie die Erdkruste unter den Alpen weiter zusammen und in die Höhe. Dazu kommt dann noch eine von der Erosion verursachte Hebung, weil das Abtragen des Gesteins die Erdkruste entlastet und so das gesamte Gebirge ansteigen kann – so jedenfalls die gängige Annahme.

Vor einigen Jahren jedoch haben Forscher mithilfe von GPS-Sensoren und den Daten seismischer Messstationen die Bewegungen des Gebirges genauer analysiert. Das überraschende Ergebnis: Der Hauptantrieb der Alpenbewegung sind keineswegs Plattentektonik und Erosion. Sie machen weniger als zehn Prozent der heutigen Hebung aus. Stattdessen ist das Abtauen des eiszeitlichen Eispanzers der Grund für das anhaltende Wachstum der Alpen: Bereit von der Auflast des Eises federt die Erdkruste im Zeitlupentempo wieder zurück – und hebt das gesamte Gebirge langsam an.

Schon dies demonstriert, dass die Alpen noch lange nicht vollständig erforscht sind. Um mehr über die Entwicklung und Veränderungen dieses Gebirges herauszufinden, blicken Forscher inzwischen vermehrt in den Untergrund – zu den Wurzeln der Alpen.

Nadja Podbregar

Ein seismisches Messnetz "durchleuchtet" den Untergrund

Die Wurzeln der Berge

Das, was wir von den Alpen sehen können, ist noch lange nicht alles: Ähnlich wie Eisberge, deren größerer Teil unter Wasser liegt, haben die Alpen eine Wurzel, die weit in die Tiefe bis hinein in den Erdmantel reicht.

Seismometer
Mithilfe von Erdbebenwellen erkunden Forscher den "Keller" der Alpen – hier Kasper Fischer bei der Arbeit an einem Seismoter des Alp Arrays. © Roberto Schirdewahn

Was Bebenwellen verraten

Um herauszufinden, wie die Alpen von unten aussehen, machen sich Fischer und seine Kollegen aus ganz Europa Erdbeben zunutze. Hintergrund ist, dass sich Erdbebenwellen in verschiedenen Gesteinsarten unterschiedlich schnell ausbreiten. „Die kontinentale Erdkruste und damit auch die Wurzel der Berge besteht vorrangig aus Gestein geringerer Dichte, wie zum Beispiel Kalkstein, Granit, Gneis oder Sedimenten. Der darunterliegende Erdmantel besteht eher aus dichterem Gestein“, erklärt Kasper Fischer, Leiter des Seismologischen Observatoriums der Ruhr-Universität Bochum.

Aus der Geschwindigkeit der Bebenwellen lassen sich daher Rückschlüsse darauf ziehen, durch welche Art von Untergrund sie gelaufen sein müssen. So lässt sich auch feststellen, wie tief die Wurzeln eines Gebirges sind.

Seismometer 2
Ein Breitbandseismometer (auf der Betonplatte) mit dazugehörender Datenerfassungseinheit. © Roberto Schirdewahn

Um die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Erdbebenwellen messen zu können, haben Wissenschaftler im europäischen Projekt Alp Array eine weitverzweigte Landschaft aus Messstationen aufgebaut, die sich über die gesamte Alpenregion erstreckt. Ziel des Projekts ist es, den Prozess der Gebirgsbildung besser zu verstehen und auch, wie dieser mit der Dynamik des Erdmantels, der Plattenbewegung und Oberflächenprozessen zusammenhängt.

600 Messstellen im Alpenraum

Für das Alp Array-Messnetz wurden etwa 280 vorhandene Seismometer um rund 320 zusätzliche mobile Messgeräte ergänzt, so dass an 600 Stellen die Erdbewegungen überwacht werden. Jede Station liegt dabei weniger als 52 Kilometer von der nächsten entfernt. „Wir hatten einen Plan mit günstigen Messpunkten von der Projektleitung erhalten und haben dann Orte gesucht, die in einem Ein- bis Zwei-Kilometer-Umkreis dieser Punkte Messmöglichkeiten eröffneten“, erklärt Kasper Fischer.

Stollen
In diesem Stollen stehen gut geschützt Seismometer der Ruhr-Universität Bochum. © Roberto Schirdewahn

Wichtig dabei waren vor allem eine ausreichende Stromversorgung und Schutz vor dem Wetter. Die Seismometer, verpackt in eine schützende Tonne und flankiert von einem Computer und gegebenenfalls einer Batterie, brachten die Forscher zum Beispiel in Gebäuden von Wasserwerken, in Burgen, in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden unter. Manche wurden mangels Infrastruktur im Hochgebirge auch vergraben.

„Ungefähr zweimal im Jahr fährt ein Techniker die Messpunkte an und schaut, dass alles in Ordnung ist“, erzählt Fischer, dessen Bochumer Team zehn der Messpunkte in der Alpenregion aufgebaut hat und betreut. Inzwischen ist das Alp Array eines der größten seismologischen Netzwerke der geologischen Forschung.

Meike Drießen/ RUBIN, Ruhr-Universität Bochum

Was Wellen über den Alpen-Untergrund verraten

Warten auf Beben

Zwei Jahre nach dem Alp Array-Projektstart im Jahr 2015 war das dichte Netz aus Messpunkten fertig aufgebaut. Per Mobilfunk werden seither die Daten der zehn Bochumer Stationen in Echtzeit an die Ruhr-Universität Bochum übertragen.

Seismogramm
Erdbebendaten aus aller Welt laufen bei den Bochumer Geologen ständig über die Monitore. © Roberto Schirdewahn

Im Flur des Instituts für Geologie, Mineralogie und Geophysik hängen Monitore an der Wand, auf denen jeder Besucher live verfolgen kann, ob und wo in den Alpen die Erde bebt. Alle Daten sämtlicher Messpunkte werden zudem an zentralen Stellen in Europa gesammelt und können jedem, der ihre Nutzung beantragt, zur Verfügung gestellt werden.

Seismische Wellen aus aller Welt

Dann begann für die Forscher das Warten – auf Erdbeben. „Kleinere auswertbare Erdbeben finden fast täglich statt, größere Ereignisse natürlich wesentlich seltener“, erklärt Kasper Fischer. Je nachdem, wo ein Erdbeben seinen Ursprung hat, kommen seine Wellen früher oder später in der Alpenregion an und verlaufen aus verschiedenen Richtungen durch das Messnetz.

Ein Erdbeben mit Ursprung in Japan verursacht ein Wellenmuster, das aus Nord-Osten kommt, eines in Griechenland kommt aus Südwesten. Bei weit entfernten Beben melden alle Messstandorte fast zeitgleich Bodenbewegungen. Lokale Erdbeben wandern mit größerer zeitlicher Verzögerung durch das Netz der Messpunkte.

Raumwellen
Raumwellen breiten sich durch das gesamte Erdinnere aus. © MMCD New Media

Raumwellen verraten Lage der Gebirgswurzeln

„Besonders interessant sind für uns in der Regel nicht die Oberflächenwellen von Erdbeben, die die meiste Zerstörung anrichten“, sagt Fischer. „Wir konzentrieren uns normalerweise auf die Raumwellen.“ Zu diesem Wellentyp gehören die Primärwellen, die das Gestein in Ausbreitungsrichtung abwechselnd dehnen und komprimieren. Ebenfalls eine Raumwelle sind die Schwerwellen, die das Gestein seitlich hin- und herbewegen.

Die Raumwellen gehen kugelförmig vom Ursprung eines Bebens aus, der meist in großer Tiefe liegt, und verbreiten sich durch den Erdkörper. Im Gestein des Erdmantels breiten sie sich dabei schneller aus als in der Erdkruste. Dadurch laufen sie auch durch die Wurzel der Alpen langsamer als durch das umgebende Gestein.

Die seismischen Messwerte liefern den Forschern so wertvolle Informationen über die Beschaffenheit des Untergrunds tief unter dem Gebirge. Zusätzlich erlaubt es das enge Netz des Alp Array, auch die Informationen, die in den Oberflächenwellen enthalten sind, detailliert auszuwerten.

Meike Drießen/ RUBIN, Ruhr-Universität Bochum

Die Auswertung der Daten

Bebenwellen im Kästchengitter

Um der Struktur des Untergrunds der Alpen auf die Spur zu kommen, werten die Forscher im Projekt Alp Array die Messdaten mehrerer Erdbeben unterschiedlicher Herkunft aus. Dafür legen sie diese nachträglich im Computer übereinander. Durch die Kreuzungspunkte der Wellen entsteht eine virtuelle Gitterstruktur der Erde unterhalb der Alpen, die bis in eine Tiefe von mehreren hundert Kilometern reicht.

Alp Array
Das Netz der Alp Array Seismometer liefert wie ein Tomograf Daten zur Struktur des Alpenuntergrunds. © Roberto Schirdewahn

Wellentempo im Kästchengitter

„Wir vergleichen dann die gemessenen Geschwindigkeiten der Erdbebenwellen mit vorher auf der Basis vereinfachter Modelle berechneten Erwartungen“, erklärt Kasper Fischer von der Ruhr-Universität Bochum. Abweichungen von diesen errechneten Durchschnittswerten lassen Schlüsse auf die tatsächliche Struktur des Untergrunds zu. „Langsamere Werte in einem Kästchen unseres Gitters können wir so der Alpenwurzel zuordnen, schnellere Werte in einem Kästchen deuten auf den umgebenden Erdmantel hin“, so Fischer.

Mithilfe dieser sogenannten seismischen Tomografie entsteht so nach und nach ein Abbild der inneren Struktur der Alpen und ihrer Wurzel – ganz ähnlich wie bei einer Computertomografie des Körpers im Krankenhaus. Noch haben die Messungen und Auswertungen des Alp Array erst begonnen. Doch die Forscher erhoffen sich schon bald neue Einblicke in die tiefe Unterwelt dieses großen europäischen Gebirges.

Neue Einblicke auch in die Plattenbewegung

Darüber hinaus erhoffen sich die am Projekt beteiligten Wissenschaftler auch Aufschluss über die Dynamik der Kontinentalplatten Afrikas und Europas, deren Kollision zur Bildung der Alpen geführt hat. „Nach der gängigen Auffassung taucht Europa unter die adriatische Platte ab“, erläutert Fischer, „aber ganz so einfach ist das nicht. Vielleicht ist es auch umgekehrt, oder an verschiedenen Stellen unterschiedlich.“ Mehr Wissen über den Untergrund in dieser Region erlaubt dann möglicherweise auch Rückschlüsse auf Strömungen im Erdmantel und die genauen Folgen der Bewegungen der Kontinente.

Meike Drießen/ RUBIN, Ruhr-Universität Bochum