Wahrheit im Spiegel der Wissenschaft

Echt wahr?

Fact oder Fake? In der Wissenschaft geht es um die Suche nach der Wahrheit – aber wie absolut ist sie? © Eoneren/ iStock.com

Was ist in Zeiten von „Fake News“ eigentlich wahr? Und was versteht die Wissenschaft unter Wahrheit? Forschende aus fünf verschiedenen Fachdisziplinen berichten über Wahrheit und das Wesen der Wissenschaft – und auch, warum der Wahrheitsbegriff oft zu kurz greift.

In ihrem „Elfenbeinturm“ abgeschottet von der Wirklichkeit, unablässig auf der Suche nach der einen, echten Wahrheit, aber dennoch wankelmütig und uneins in ihren Erkenntnissen: Das Bild von Forschung und Wissenschaft ist manchmal wenig schmeichelhaft. Und das nicht erst, seit US-Präsident Donald Trump bei jeder Gelegenheit „Fake News“ in die Mikrofone brüllt und die Wissenschaftsskepsis auf höchster Ebene in Mode gekommen ist.

Nun: Dass Erkenntnisse umgeworfen werden, ist das Wesen der Wissenschaft – und was ist „Wahrheit“ überhaupt? Darüber berichten fünf Forscherinnen und Forscher der Universität Innsbruck: eine Pharmazeutin, eine Anglistin, ein Theologe, ein Statistiker und eine Medienwissenschaftlerin erzählen über ihren Zugang zum „Wahrheitsproblem“ in ihrem Forschungsalltag.

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018

Populismus, Einstein und die Messbarkeit der Dinge

Überprüfbarkeit und Reflexion

„Ich glaube, das geht völlig schief“, sagt der Theologe Roman Siebenrock, der gerade von einer dreiwöchigen USA-Reise zurückgekehrt ist. „Die Menschen dort glauben, dass ihnen das Leben abgenommen wird.“ In dieser Haltung, gepaart mit einer nach rückwärts projizierten Illusion eines heilen Amerikas, begründet für ihn den Populismus.

US-Präsident Donald Trump ist für seine impulsiven Twitter-Posts bekannt. © U.S. Department of Energy

Zwischen Meinung und Wahrheit

Dem tritt Siebenrock mit entschiedener Skepsis entgegen: „Trau keinem, der dir den Himmel auf Erden verspricht, es wird die Hölle sein!“ Und wenn Donald Trump sagt, er wurde von Barack Obama abgehört und der inzwischen entlassene FBI-Chef erklärt, dass es keine Evidenz dafür gibt, dann muss Trump gute Begründungen liefern, die außerhalb seines eigenen Behauptungssystems liegen. „Sonst lügt er oder setzt unhaltbare Behauptungen in die Welt“, sagt der Wissenschaftler.

Doch derzeit scheinen sich die Menschen schwerzutun, zwischen Meinung und Wahrheit zu unterscheiden, weil in einer hochkomplexen und vernetzten Weltgesellschaft einerseits scheinbar alles als möglich erscheint und gleichzeitig alles unter Verdacht gestellt werden kann. Wissen bedarf einer Überzeugung, verlangt aber auch nach Rechtfertigungsgründen und gemeinsamen Prüfungskriterien. Deshalb begründet Wissenschaft ihre Aussagen methodisch nachvollziehbar und von jedem prüfbar.

Überprüfbar muss es sein

Für Roman Siebenrock gehört immer auch eine Form von Empirie und Erfahrung dazu. In den Naturwissenschaften ist dies die Messbarkeit. Auch die Sozial- und Humanwissenschaften können mit Empirie arbeiten, aber nicht alles lässt sich messen. „Ich kann verschiedene Dinge messen und daraus schließen, dieser Mensch hat Zahnweh. Aber Zahnweh kann ich nicht messen. Insofern gibt es Bereiche der Wirklichkeit, die sich der Messbarkeit entziehen“, sagt Siebenrock.

Auch die Theologie, als die wissenschaftliche Beschäftigung mit konkret gelebter Religion, hat oft keine harten empirischen Kriterien. Sie muss für ihre Überzeugungen Gründe anführen, die von anderen geprüft und prinzipiell widerlegt werden können. Deshalb lernen die Studierenden auch religionskritische Argumente kennen und prüfen. „Das kann dazu führen, dass Menschen existentiell in die Krise geraten. Es gehört zum Projekt der Theologie, dass Menschen im Prozess der Reflexion zweifeln oder auch den Glauben verlieren.“ Diese Form von Überprüfbarkeit und kritischer Reflexion muss auch existentiell sein und kann so den Menschen, aber auch die Gesellschaft verändern.

Albert Einstein suchte gut 30 Jahre lang nach einer einheitlichen Feldtheorie für Gravitation und Elektromagnetismus – vergeblich. © Ferdinand Schmutzer/ historisch

Einstein und die Würfel Gottes

Dass dies für die Wissenschaft allgemein gilt, zeigt Siebenrock am Beispiel Albert Einstein. Dieser war fest davon überzeugt, dass „der Alte nicht würfelt“ und wollte die von der Quantentheorie proklamierte Unschärfe nicht als endgültige Erkenntnis akzeptieren. So hat er sein ganzes Leben lang versucht, eine andere Theorie zu finden. „Und da merkt man, dass auch in der Naturwissenschaft lebensweltliche Vorbedingungen teilweise eine erhebliche Rolle spielen“, betont Siebenrock. „Auch die Naturwissenschaft hat eine bestimmte Perspektive auf die Welt.“

Diese Perspektive bedeutet aber nicht, dass man einfach alles Mögliche behaupten kann. „Das Wörtchen Wahrheit funktioniert nicht nach dem Motto: Ich behaupte, also trifft es zu. Sondern: Ich habe eine Überzeugung, ich muss dafür Gründe liefern, die ihnen einsichtig sind und danach können wir von einer gemeinsamen Wahrheit sprechen.“ Diese Gründe müssen immer so sein, dass sie außerhalb des Überzeugungssystems von demjenigen liegen, der etwas behauptet. Und dafür sind Übersetzungsleistungen notwendig, die Überzeugungen in eine Sprache und in einen Erfahrungszusammenhang bringen, die für alle Menschen nachvollziehbar und verständlich sind.

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018

Was die Statistik über Wahrheiten verrät

„Wahrheit ist keine Kategorie“

Der Statistiker Achim Zeileis berechnet alle zwei Jahre den wahrscheinlichsten Gewinner der jeweiligen Fußball-Europa- oder -Weltmeisterschaft, arbeitet gemeinsam mit den hiesigen Meteorologen an unterschiedlichen Projekten zur Wettervorhersage und hilft, den Baumbestand in tropischen Regenwäldern automatisiert zu erfassen.

Kann die Statistik absolute Wahrheiten liefern? © SolStock/ iStock.com

Präzise, aber nicht absolut

Als Statistiker verwendet er mathematische Methoden, da liegt der Schluss nahe, dass jemand, der mit dieser vermeintlich exakten Disziplin vertraut ist, auch dem Begriff der Wahrheit einiges abgewinnen könnte. Weit gefehlt. „Wahrheit ist in meiner Arbeit eigentlich keine Kategorie, in der ich meine Ergebnisse messe. Da müsste es etwas Absolutes geben, das Zeit und Raum und alle Veränderungen überdauert. Und mein statistisches Modell oder meine Theorie müsste ich dann unendlich lange testen können, um zu wissen, dass sie auch wirklich dem allen Stand hält“, sagt Zeileis.

Der Forscher beschäftigt sich qua Beruf lieber mit Wahrscheinlichkeiten: Wie wahrscheinlich regnet es morgen zu Mittag, welche Mannschaft gewinnt mit welchen Chancen die Fußball-Weltmeisterschaft? Das heißt nicht, dass Präzision keine Rolle spielt, ganz im Gegenteil: „Es geht darum, mit den vorhandenen Informationen so präzise wie möglich zu sein und diese Präzision auch zu beziffern. Wie groß sind denn die Fehler, die ich mache?“

Zeileis erklärt weiter: „Das das möchte ich dann auch an der Wirklichkeit abschätzen können. Solang ich die Fehlergröße richtig einschätze, kann ich mit dem Modell arbeiten. Was nicht heißt, dass nicht jemand das Modell noch verbessert.“

Hypothesen unter der Lupe

Neben dem Einsatz bei Prognosen – etwa der Wettervorhersage – spielt die Statistik bei der Überprüfung von Hypothesen eine wichtige Rolle. „Im weitesten Sinn geht es in der Statistik darum, Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen. Die Statistik versucht, bei begrenzten Informationen, konkurrierende Risiken gegeneinander abzuwägen und sich für etwas mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu entscheiden“, sagt der Statistiker Achim Zeileis.

Wirksam oder nicht? Diese Frage kann Statistik beantworten – aber nicht immer umfassend und absolut. © Edioimages/ iStock.com

Ein klassisches Beispiel für einen Hypothesentest wäre etwa die Wirksamkeit eines Medikaments: „Ich habe ein neues Medikament, ein bisheriges und ein Placebo und die Hypothese ist, das neue Medikament ist besser als das alte. Oder eben nicht, ich muss also eine Entscheidung zwischen den beiden treffen und zur Kontrolle gibt es einen Versuch mit Placebos. Ich mache das dann auf Basis empirischer Daten und kann die dabei möglichen Fehler gegeneinander abschätzen“, erklärt Zeileis.

Immer nur ein Ausschnitt

Und selbst nach diesem Test gibt es Raum für Unsicherheiten: „Wenn ich sage, das neue Medikament ist besser als das alte, habe ich noch nicht gesagt, um wie viel genau. Da können dann Folgestudien, wenn sie grundsätzlich diese Entscheidung bestätigen, sagen, der Effekt ist aber viel größer oder viel kleiner, für Männer ist er größer als für Frauen, das Körpergewicht spielt eine überdurchschnittliche Rolle und so weiter.“

Gerade die Medizin und verwandte Felder sind anfällig für übertriebene Panik- oder Erfolgsmeldungen: Wenn Kaffee zum Beispiel gleichzeitig als krebserregend und unbedenklich gilt, je nachdem, welche Medien man zu welchem Zeitpunkt konsultiert. „Zwei vermeintlich widersprüchliche Schlagzeilen sind vielleicht gar nicht so extrem widersprüchlich, wenn man die dazugehörigen Artikel gelesen hat“, sagt Zeileis.

Kein Anlass zu grundsätzlicher Skepsis

Darauf nicht grundsätzlich mit Wissenschaftsskepsis zu reagieren, dabei sieht der Forscher jeden einzelnen und jede einzelne in der Pflicht. „Wichtig ist es zu verstehen, dass man empirisch überprüftes Wissen sinnvoll einsetzen kann, auch wenn es nicht zu hundert Prozent ‚fertig‘ ist und wahrscheinlich auch nie ‚fertig‘ sein wird.“

Dass sich solches Wissen noch verändern könne, sei nicht auf dem gleichen Level mit „Ich denk mir meine eigene Wahrheit aus und das hat exakt den gleichen Stellenwert“. Dieses Niveau hätte es nur, wenn man das auch empirisch abprüfte. „Da sind viele sogenannte Skeptiker allerdings sehr viel robuster dabei, die Wirklichkeit zu ignorieren. Aber das sind Einzelfälle“, so Zeileis.

Expertinnen und Experten beschäftigen sich jahrelang mit ihren Feldern: „Nicht bei jedem Thema wird man als Konsument mit der gleichen Aufmerksamkeit dabei sein können, und das verlangt auch niemand“, sagt Zeileis. „Es gibt ja viele Dinge, die viele von uns nicht können und trotzdem funktioniert unsere Gesellschaft. Aber gerade deshalb ist es wichtig, Experten zu haben, Forscherinnen und Forscher, die sich genau in einem Thema gut auskennen, damit nicht jeder von uns Experte für alles sein muss.“

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018

Die Suche nach Wahrheiten in der Arzneimittelforschung

Zwischen Wunderpille und Panikmache

„Optimaler Wirkstoff zur Heilung von Asthma gefunden“: So oder ähnlich hätte der Titel einer Boulevardzeitung zu einem Forschungserfolg der Pharmazeutin Daniela Schuster lauten können. Ganz so einfach ist es in den Naturwissenschaften aber leider nicht: Auch wenn die Forscherin der Universität Innsbruck einen neuen Wirkstoff-Kandidaten identifiziert hat, der gute Eigenschaften für die Wirkung an medizinisch relevanten Zielproteinen für Asthma und Entzündung zeigt, wäre diese Aussage viel zu verkürzt.

Jedes Forschungsergebnis ist ein Schritt in Richtung Wahrheit © scanrail/iStock.com

Kein Blick in die Kristallkugel

Mithilfe von dreidimensionalen Computermodellen scannt Schuster potenzielle Wirkstoffe oder Chemikalien, um deren Wirkung im menschlichen Körper vorherzusagen. „Auch wenn unsere Modelle kein Blick in die Kristallkugel sind, den Anspruch auf absolute Wahrheit haben wir nicht“, so die Pharmazeutin. „Im menschlichen Körper gibt es derzeit rund 500 bekannte Zielproteine für medizinische Wirkstoffe. Deren Wirkungen und Wechselwirkungen sind zum Teil noch nicht oder nicht umfassend verstanden. Man kann sich also vorstellen, dass unsere Forschungsarbeit nie wirklich fertig ist.“

Als Beispiel nennt die Wissenschaftlerin den Wirkstoff Diflapolin, der von ihrer Forschungsgruppe zum Patent angemeldet wurde. Mithilfe zweier von ihrem Team entworfenen, dreidimensionalen Pharmakophormodelle für zwei verschiedene Targets hat Schuster eine Chemikalien-Datenbank mit 202.920 Wirkstoff-Kandidaten gescannt.

„Da in modernen Therapieansätzen mittlerweile oft zwei Targets – also Zielmoleküle im Körper, die den Krankheitsverlauf beeinflussen können – angesteuert werden, haben wir mithilfe zweier voneinander unabhängigen Modelle Targets getestet, die in der Entzündungskaskade, vor allem im Zusammenhang mit Asthma, eine Rolle spielen“, erläutert Schuster. Diese Tests haben sieben passende Kandidaten geliefert. „In den anschließend durchgeführten In-vitro- und In-vivo-Tests zeigten zwei dieser Chemikalien Aktivitäten an beiden Targets; eine davon so gute, dass wir es mittlerweile zum Patent angemeldet haben.“

Anhaltender Prozess statt absolute Wahrheit

Warum – auch wenn der Wirkstoff vielversprechende Eigenschaften zeigt – nicht von „optimal“ und „Heilung“ gesprochen werden kann, erklärt Schuster so: „Um den Wirkstoff als Medikament einsetzen zu können, sind noch viele weitere Schritte nötig. Wir müssen die Substanz modifizieren, zum Beispiel muss die Wasserlöslichkeit verbessert werden, um den Stoff oral verfügbar zu machen. Der beste Wirkstoff bringt nämlich nichts, wenn er nicht an den Ort seiner Wirkung kommen kann.“

Aber auch wenn das gelinge, seien umfassende Tests zur Medikamentenzulassung nötig, bis der Wirkstoff schließlich als Tablette am Markt landet. Und selbst dann wisse man nicht, ob man nicht in einer anderen Datenbank einen viel besseren Wirkstoff gefunden hätte, der noch größere Aktivität zeigt oder auch, ob ein anderes Target für die Behandlung dieser Erkrankung viel besser geeignet wäre.

Dennoch ist für die Wissenschaftlerin jedes Forschungsergebnis ein Schritt in Richtung Wahrheit: „Jede Erkenntnis in unserem Forschungsprozesses hilft uns, ein Puzzleteil hinzuzufügen und unsere Methoden zu verbessern. Am Ende bleibt es aber wahrscheinlich immer ein Prozess, der nie abgeschlossen ist.“

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018

Wahrheit und die Medienwissenschaft

Was ist überhaupt Realität?

Nie abgeschlossen: Das hat Forschung in den Natur- und den Geisteswissenschaften gemeinsam. Da wie dort steht die Suche nach Neuem im Vordergrund, Erkenntnisse dienen als Ausgangspunkt für weitere Fragen.

Auch für die Medienwissenschaftlerin Petra Missomelius ist „Wahrheit“ aus mehreren Gründen kein Begriff, mit dem sie arbeitet – zumindest nicht als vermeintlichen Anspruch. Denn gerade in der Medienwissenschaft ist der Umgang mit „Wahrheit“ oder auch „Realität“ eine zentrale Grundlage der wissenschaftlichen Annäherung an mediale Themenbereiche.

Gerade in den Medien ist die Frage nach wahr oder falsch aktueller denn je. © Wwebmeister/iStock.com

Wirklichkeitsbezug statt Wahrheit

Die Medienwissenschaftlerin und Medienpädagogin beschäftigt sich an der Universität Innsbruck intensiv mit Fragen zu Abbildungen von Realität – und welchen Einfluss beispielsweise die Form in der medialen Berichterstattung nimmt. Im Gespräch erzählt Missomelius, dass in den Medienwissenschaften daher vielmehr von einem „medialen Wirklichkeitseindruck“ die Rede sei:

„Das ist eine ganz andere Herangehensweise, es wird kein Wahrheitsanspruch verhandelt“, so die Forscherin. „Der Begriff Wahrheit würde ja voraussetzen, dass es einen objektiven Wirklichkeitsbezug gibt. Unumstritten ist sicher, dass es zumindest einen subjektiven Wirklichkeitsbezug gibt. Es gibt aber noch mehr Dimensionen, die dabei dann herausfallen.“ Denn auch die Bedingungen der medialen Produktion, ihre Weiter- und Wiedergabe beeinflussen das Gezeigte.

Jugendliche besser vorbereiten

Die fortschreitende Digitalisierung fast aller unserer Lebensbereiche hat die Fragen nach „wahr“ und „falsch“ sogar nochmals virulenter gemacht. Mit Stichworten wie Hasspostings oder „Fake News“ hat die Form der Beeinflussung vor allem des öffentlichen Diskurses nochmals eine neue oder zusätzliche Dimension und Dringlichkeit erreicht – und auch Schattenseiten etwa der sozialen Medien zutage befördert.

Was ist eine seriöse Quelle? Diese Frage ist im Zeitalter der sozialen Medien besonders wichtig. © Scyther5/ iStock.com

Um diesen zu begegnen, sieht Missomelius vor allem den Bildungsbereich in der Verantwortung. „Gerade Kinder und Jugendliche sollten hier stärker im Hinblick auf Kritikfähigkeit sowie Medien- und Kommunikationsanalyse unterstützt werden“, ist die Forscherin überzeugt. Wichtig sei es, gezielt eine Sensibilität zu fördern, um mit diesen verschiedenen Formen umgehen zu können und einschätzen zu können: Was ist eine seriöse Quelle? Welche Verflechtungen stehen dahinter und welche Gestaltungsmethoden kommen hier zum Einsatz?

Work in Progress statt Heureka-Moment

Missomelius sieht ihre Aussagen immer als Abbild ihres momentanen Kenntnisstandes, der sich stets weiterentwickelt und auch immer wieder verändert. „Heureka“-Momente sind hier keine dabei, sondern eher Zufriedenheit mit dem Ergebnis und der gewählten Herangehensweise: „Ich sehe sie ehrlich gesagt als nie fertig. Ich habe immer das Gefühl es ist ein Zwischenstand, ein momentaner Erkenntnisstand“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Der Anspruch, eine allumfassende Lösung gefunden zu haben, spielt in meiner wissenschaftlichen Arbeit dagegen keine so große Rolle.“

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018

Wahrheit in der Literaturwissenschaft

Wahre Worte?

Ein Buch unter dem Arm tragen, lesend auf den Bus warten oder sich am Strand liegend in eine andere Welt verführen lassen – Literatur begleitet Menschen in allen Lebenssituationen. Auch die Anglistin Sibylle Baumbach liebt Bücher – nur sieht sie diese auch aus der Perspektive der Wissenschaft. Als Professorin am Institut für Anglistik ist etwa Shakespeare ihr täglicher Begleiter. hunderte Jahre alte Texte werden noch immer wissenschaftlich durchleuchtet und auf neue Lesarten untersucht.

Literatur: Immer neue Perspektiven und Wahrheiten über unsere Welt. © picaland/ freeimages

„Die Literatur ermöglicht uns viele Zugänge zu unterschiedlichen Welten“, erläutert Baumbach. „Zum einen geben uns Texte Einblicke in Denk- und Sichtweisen der Zeit, in der sie entstanden sind. Zum anderen erhalten wir durch literarische Texte immer neue Perspektiven auf die Welt, in der wir leben: sie halten uns gewissermaßen den Spiegel vor, hinterfragen vermeintliche ‚Wahrheiten’ und bieten neue Perspektiven auf unsere Lebenswelt.“ Dies gilt auch für Shakespeares Dramen. So werden in Stücken wie „Othello“ oder „Der Kaufmann von Venedig“ Konstruktionen des Eigenen und Anderen kritisch verhandelt.

Konstruierte Welten und Wahrheiten

Zugleich erinnern uns Shakespeares Stücke an die Tatsache, dass wir in einem großen Welttheater leben, in dem wir unterschiedliche Rollen spielen. So heißt es in dem Stück „Wie es euch gefällt“: „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und geben wieder ab, sein Leben lang spielt einer manche Rollen.“ Das Bild der Weltbühne verweist darauf, dass unterschiedliche Welten und Wahrheiten, in denen wir leben, konstruiert sind – durch die Menschen, die in ihnen leben, deren Handlungen, aber auch vor allem durch Sprache.

Sprache erschafft ganze Welten und die Literatur führt uns nicht zuletzt auch diese Macht von Sprache vor Augen. „Wahrheit ist ein schwieriger Begriff. Die einzig wahre Interpretation eines Textes gibt es nicht“, betont Baumbach. Jeder Text bietet ein Potenzial an unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten, die auch bedingt sind durch die kulturellen und historischen Zusammenhänge, in denen ein Text entsteht und in denen ein Text gelesen wird.

Titelblatt der deutschen Erstausgabe von Orwells Roman "1984" © Orwellino/ CC-by-sa 4.0

Jede Zeit schafft ihre Deutungen

George Orwells „1984“ zum Beispiel hat jüngst, gut 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung, wieder die Bestsellerlisten erstürmt – in einer Zeit, in der von Fake-News und alternativen Fakten gesprochen wird, ist Orwells dystopischer Roman, in dem Wahrheit das ist, was die Machthaber als solche definieren, wieder hochaktuell. Gerade die Literatur bietet uns Wahrheiten, die jetzt wieder brisant werden und die wir neu entdecken müssen.

„Die Literaturwissenschaft sucht jedoch nicht nach Wahrheit, sondern eröffnet Deutungsmöglichkeiten, die uns helfen, Werke und vergangene sowie aktuelle Welten zu verstehen“, sagt Baumbach. Hierin besteht zugleich der Reiz der Wissenschaft. „Gerade das Nicht-fertig-Werden und das Entdecken immer neuer Dimensionen ist ein unglaublich spannender Prozess, auch wenn es oft schwierig und langwierig ist, zu einem Ergebnis zu kommen.“

Als Teilergebnis auf dem Weg zu einem großen Ganzen sieht Baumbach ihre Ergebnisse, die weiterhin Grundlage von neuen Fragestellungen sein werden. Häufig sei auch die Entwicklung von Themen, an denen man arbeitet, schwer nachzuvollziehen. „Der Deutungsprozess ist nie am Ende, sonst wäre der Beruf auch nicht so spannend. Auch für uns bleibt es immer noch ein Lernprozess, in dessen Verlauf wir stets Neues entdecken.“

Bei allen Unterschieden in den methodischen Zugängen sind sich alle fünf Forscherinnen und Forscher einig: „Fertig“ ist Wissenschaft nie, „Heureka“ ein Klischee – und sie sprechen damit wohl stellvertretend für ihre Disziplinen.

Universität Innsbruck
Stand: 26.10.2018