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Physik

Neutrino beweist 60 Jahre alte Theorie

IceCube-Detektor liefert ersten Beobachtungs-Beleg für die Glashow-Resonanz

IceCube-Neutrino-Detektor am Südpol
Der Neutrino-Detektor IceCube hat erstmals ein energiereiches Antineutrino identifiziert – und dieses könnte eine vor 60 Jahren postulierte Teilchenreaktion ausgelöst haben. © Martin Wolf/ IceCube, NSF

Spektakulärer Fang: Der Neutrino-Detektor IceCube hat erstmals ein kosmisches Antineutrino eingefangen – und ein Ereignis, das eine 60 Jahre alte Physik-Theorie zum ersten Mal experimentell belegen könnte. Nach dieser kann die Kollision eines Antineutrinos mit einem Elektron ein W-Boson erzeugen, eines der Vermittlerteilchen der Schwachen Kernkraft. Diese sogenannte Glashow-Resonanz könnte vom Antineutrino im Eis ausgelöst worden sein, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Im Jahr 1960 postulierte der Physiker Sheldon Glashow eines damals noch unentdeckten Elementarteilchens – das W-Boson. Dieses Vermittlerteilchen der schwachen Kernkraft sollte entstehen, wenn schnelle, sehr energiereiche Antineutrinos mit Elektronen interagieren – beispielsweise bei einer Kollision. 1985 wurde das W-Boson tatsächlich nachgewiesen, allerdings über einen anderen Entstehungs-Mechanismus. Ob es den von Glashow postulierten Bildungsweg, die Glashow-Resonanz, gibt, blieb dagegen unbewiesen.

NEutrino-Signal
Visualisierung der Antineutrino-Passage vom 6. Dezember 2016. Die farbigen Kugeln markieren die aktivierten Photosensoren im Eis, die Farbe kennzeichnet frühe (rot) und späte Photonen-Detektionen.© IceCube Collaboration

Das Problem: Damit die Glashow-Resonanz stattfinden kann, muss das Antineutrino die enorme Energie von 6,3 Petaelektronenvolt (PeV) aufweisen. Das ist fast tausendfach höher als das, was selbst der stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider (LHC), erzeugen kann. Das für Glashows Theorie nötige Neutrino kann daher von keinem Experiment der Welt produziert werden.

Rasender Flug durchs Südpol-Eis

Doch nun könnte der Kosmos den irdischen Physikern zu Hilfe gekommen sein. Am 6. Dezember 2016 raste ein aus einer fremden Galaxie stammendes Antineutrino fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das antarktische Eis und kollidierte dabei mit einem Elektron. Dabei entstanden mehrere sekundäre Teilchen und auch Photonen. Ihr Licht wurde von den im Eis versenkten Photodetektoren des IceCube-Observatoriums am Südpol eingefangen und vom System als potenzielle Neutrino-Passage registriert.

Zunächst blieb dieses Ereignis aber nur eines von vielen in der gigantischen Datenmenge des Neutrino-Detektors. Seine Bedeutung haben die Physiker der IceCube-Kollaboration erst entdeckt, als sie für ihre aktuelle Studie die Detektordaten mithilfe eines lernfähigen Algorithmus nach besonders energiereichen Neutrino-Passagen durchsuchten.

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Erster Nachweis eines kosmischen Antineutrinos

Die Analysen ergaben: Das Ereignis vom 6. Dezember setzte mehr als sechs Petaelektronenvolt an Energie frei – es ist erst das dritte Ereignis in dieser Hochenergieklasse, wie die Forscher berichten. Aus der Form und zeitlichen Verteilung der bei dieser Passage hinterlassenen Licht- und Teilchenspur schließen sie zudem, dass es sich nicht um ein Neutrino, sondern um seinen Antimaterie-Gegenpart gehandelt haben muss – ein Antineutrino.

Allein dies ist eine spektakuläre Entdeckung: „Frühere Messungen konnten den Unterschied zwischen Neutrinos und Antineutrinos nicht auflösen“, erklärt IceCube-Forscher Lu Lu von der Chiba Universität in Japan. „Dieses Ergebnis ist die erste direkte Messung eines Antineutrinos aus dem astrophysikalischen Neutrino-Einstrom.“ Das eröffne ein ganz neues Kapitel der Neutrino-Astronomie. Denn bisher ist unklar, wie und wo im All solche energiereichen Antineutrinos entstehen – ob sie beispielsweise wie kosmische Neutrinos in Quasaren und Schwarzen Löchern produziert werden können.

Erster Hinweis auf eine Glashow-Resonanz

Doch das von IceCube detektierte Antineutrino ist noch aus einem zweiten Grund besonders: Das Muster der bei seiner Passage erzeugten Photonen deutet darauf hin, dass das Antineutrino eine Glashow-Resonanz verursachte, wie die Wissenschaftler berichten. Bei der Kollision mit einem Elektron könnte demnach erst ein W-Boson entstanden sein, das dann sofort in sekundäre Teilchen, darunter Myonen, zerfiel.

Sollte sich dies bestätigen, dann wäre dies der erste experimentelle Nachweis einer Glashow-Resonanz. „Als Glashow damals am Niels-Bohr-Institut seine Theorie aufstellte, hätte er sich sicher nicht träumen lassen, dass sein unkonventioneller Weg zur W-Boson-Produktion einmal von einem Antineutrino aus einer fernen Galaxie umgesetzt werden würde“, sagt Francis Halzen von der University of Wisconsin-Madison, Chefwissenschaftler am IceCube-Observatorium.

„Die Detektion dieses Ereignisses ist ein weitere Premiere und demonstriert erneut die Fähigkeit von IceCube, einzigartige und herausragende Ergebnisse zu erbringen“, kommentiert die ehemalige IceCube-Sprecherin Olga Botner von der Universität Uppsala.

„Ein Grund zum Feiern“

Noch allerdings muss die Glashow-Resonanz im Eis zweifelsfrei bewiesen werden: „Um ganz sicher zu sein, müssten wir in weiteres solches Ereignis mit genau der gleichen Energie beobachten“, kommentiert auch Sheldon Glashow selbst diesen Fund. Aber der inzwischen emeritierte Physiker ist zuversichtlich, dass ein weiterer Nachweis gelingen wird: „Bisher gibt es immerhin einen und eines Tages werden wir mehr davon haben.“

Ähnlich positiv sieht es auch Carla Distefano vom Nationalinstitut für Kernphysik in Italien: „Die Beobachtung der IceCube-Kollaboration sind ein Grund zum Feiern. Denn sie sind das erste Ereignis, das mit einer Glashow-Resonanz übereinstimmt.“ Gleichzeitig würde der eindeutige Nachweis dieses Produktionsweges für das W-Boson ein weiteres Mal das Standardmodell der Teilchenphysik bestätigen.

IceCube-Detektor wird erweitert

Konkrete Hoffnung auf noch weitere Detektionen der Glashow-Resonanz macht eine geplante Erweiterung des IceCube-Detektors. In einem ersten Schritt sollen in den nächsten Jahren 750 weitere Photodetektoren sowie neue Kalibrierungs-Instrumente im Südpol-Eis versenkt werden. Ihre Platzierung in besonders klarem Eis unterhalb der bestehenden Sensoren soll die Auflösung der Teilchenspuren erhöhen und so die Herkunft der Neutrinos leichter ermittelbar machen.

Im zweiten Schritt soll der IceCube-Detektor auf das Zehnfache seines heutigen Volumens ausgeweitet werden. Dank der zusätzlichen Sensoren könnte IceCube-Gen2 dann die Detektionsrate vor allem der energiereichen Neutrinos um das Zehnfache erhöhen. (Nature, 2021; doi: 10.1038/s41586-021-03256-1)

Quelle: Wisconsin IceCube Particle Astrophysics Center (WIPAC), University of Wisconsin-Madison

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