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Technik

Massenpanik: „Erdbebenartige Schockwellen“

Forscher entwickeln Simulationen zur Vermeidung von Massenpaniken

Massenpanik © SXC

Massenpaniken wie bei der Love-Parade in Duisburg am letzten Wochenende könnten verhindert werden, wenn modernste Forschungsergebnisse berücksichtigt werden. Längst arbeiten Wissenschaftler an Simulationen, Echtzeitüberwachung und Maßnahmen für potenzielle Risikostellen, die die Gefahr solcher Tragödien wesentlich vermindern.

Wo viele Menschen zusammenkommen und alle an denselben Ort wollen, kann es zu Massenpaniken kommen; oder „Crowd Disasters“ wie Soziologen das Phänomen nennen. Die Pilgerfahrt nach Mekka endete im Jahr 2006 für mehr als 300 muslimische Gläubige mit dem Tod. Damals war eine Massenpanik ausgebrochen und viele Gläubige waren niedergetrampelt worden. Der Soziologe Dirk Helbing, Professor an der ETH Zürich, hat im Anschluss Videoaufnahmen der Tragödie analysiert, um zu verstehen, wo und warum solche Massenpaniken entstehen. Die Erkenntnisse flossen in organisatorische Änderungen bei der Pilgerfahrt im darauffolgenden Jahr ein.

Massenturbulenz und Kontrollverlust

Einige Beobachtungen und Erkenntnisse von damals gelten auch für die Tragödie vom vergangenen Wochenende, als 20 Menschen in einer Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg ums Leben kamen. Helbing hat in seiner Analyse herausgefunden, dass es zu einer sogenannten Massenturbulenz („Crowd Turbulence“) kommt, sobald das Gedränge in einer Menschenmasse dermaßen groß ist, dass Menschen zwischen den anderen eingeklemmt sind.

Schockwellen im Gedränge

In einem solchen Fall entstehen erdbebenartige Schockwellen in der Menge, die es schwierig machen, sich überhaupt noch auf den Beinen halten zu können. „Menschen stürzen, und es ist zu diesem Zeitpunkt so gut wie unvermeidbar, dass sich die Menge über sie wälzt, da niemand mehr die Kontrolle über seine Bewegung hat. Jeder wird von der Menge geschoben und hin- und hergeworfen“, so Helbing.

Wie der Forscher beobachten konnte, kann sich diese Situation durch gegenläufige Fußgängerströme noch verschärfen. So war dies möglicherweise auch im Tunnel von Duisburg der Fall. Der Fußgängerstrom kann dann im Prinzip völlig zum Erliegen kommen. Beide Menschenmengen schieben gegeneinander, in der Hoffnung, dass es irgendwann wieder voran geht.

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Einbahnstraßen und Computermodelle

Ein ausgeklügeltes System von Einbahnstraßen könne in solchen Fällen Abhilfe schaffen, so der Forscher. Umleitungen zu anderen Zugängen, flächendeckende Informationen zu den Notausgängen und spezielle Trainings für Sicherheitskräfte seien weitere hilfreiche Maßnahmen, um Massenpaniken vorzubeugen.

Auch ist es heutzutage möglich, den Besucherfluss einer Veranstaltung vorab am Computer zu simulieren, um so ein Gefühl für die möglichen Problemzonen zu gewinnen und Kontingenzpläne zu testen. Das ist jedoch gerade für Großveranstaltungen relativ aufwändig und mit Unsicherheiten verbunden, wie Helbing erklärt. Mengen von mehr als einer Million Menschen erforderten den Einsatz von Parallelrechnern. Ausserdem stünden die für die Simulation erforderlichen Inputdaten oft nur unvollständig oder gar nicht zur Verfügung. Dann müsse man mit unsicheren Annahmen arbeiten.

Video-Warnsysteme zur Frühwarnung

Helbing empfiehlt daher auch den Einsatz von Videoüberwachung an vorab identifizierten Problemstellen. Die Aufnahmen können mit einer speziellen Software in Echtzeit auf Warnsignale für kritische Situationen analysiert werden. Der Forscher betont jedoch, ihm sei momentan nicht bekannt, welche Maßnahmen im Vorfeld der Love Parade in Duisburg getroffen worden seien.

Eines steht für ihn jedoch fest: „Im Prinzip wäre es möglich, sozio-ökonomische Systeme in viel umfassenderem Ausmaß vorab und ergebnisbegleitend im Computer zu studieren. Auch die Möglichkeiten von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien könnte man deutlich besser nutzen, als es heutzutage üblich ist“.

(ETH Zürich, 27.07.2010 – NPO)

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