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Physik

Kälterekord im freien Fall

Bose-Einstein-Kondensat im Fallturm bis auf nur 38 Pikokelvin abgekühlt

Bose-Einstein-Kondensat
Damit sich ein Bose-Einstein-Kondensat auch in der Schwerelosigkeit oder im freien Fall nicht sofort wieder auflöst, muss es extrem kalt sein. © NIST/JILA/CU-Boulder

Ultrakalt und lange stabil: Physiker haben das weltweit kälteste und langlebigste Bose-Einstein-Kondensat erzeugt – im freien Fall. Sie kühlten dafür eine Atomwolke herunter, bis sie eine einheitlich reagierende Materiewelle bildete und engten die Atombewegung mithilfe eines neuen Verfahrens weiter ein. Dadurch sank die Temperatur des Kondensats bis auf 38 Pikokelvin – nur 38 Billionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt und ein weltweiter Rekord.

In einem Bose-Einstein-Kondensat schwingen die Atome im Gleichtakt und reagieren wie eine einzige Materiewelle oder ein einziges Riesenatom. In diesem exotischen Quantenzustand lassen sich die ultrakalten Atome ähnlich wie die kohärenten Lichtteilchen eines Lasers für besonders präzise Messungen nutzen, beispielsweise von Gravitationswellen oder der Gravitationskonstante, aber auch zur Detektion von Dunklen-Materie-Teilchen.

Das Problem der kinetischen Ausdehnung

Das Problem jedoch: In der Schwerelosigkeit oder im freien Fall – unter den Bedingungen, unter denen man viele dieser Messungen durchführen würde – treibt die Restenergie der ultrakalten Atome das Bose-Einstein-Kondensat schnell wieder auseinander – es zerfällt. Bei Experimenten beispielsweise im Fallturm des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) in Bremen ist das Kondensat dadurch schon direkt nach Beginn des Falls nicht mehr nachweisbar.

Jetzt ist es Physikern erstmals gelungen, ein Bose-Einstein-Kondensat so weit abzukühlen und zu stabilisieren, dass es im freien Fall weit länger stabil blieb als je zuvor beobachtet. Die kinetische Energie der Atomwolke und damit ihre Ausdehnung war so weit verringert, dass das Kondensat mehrere Sekunden lang zu einem der kältesten Orte des Universums wurde.

In der Schwingung erwischt

Erreicht haben dies Christian Deppner von der Leibniz-Universität Hannover und seine Kollegen indem sie in einer Magnetfalle zunächst ein Bose-Einstein-Kondensat aus einer ultrakalten Wolke von gut 100.000 Rubidiumatomen erzeugten. Bisherige Ansätze stabilisierten das Kondensat anschließend mit einer magnetischen Materielinse, die die Wolke seitlich einengt und weiter abkühlt. In der dritten Dimension aber wirkt diese Kollimation nicht.

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Kollimation
Die Kombination von kollektiver Schwingung und dem Einsatz magnetischer Linsen zur richtigen Zeit bremste die Expansion des Bose-Einstein-Kondensats auf den Rekordwert ab. © American Physical Society/ Alan Stonebraker

Deshalb nutzte das Team eine zusätzliche Technik, die das Kondensat auch in der noch fehlenden Richtung abbremst. Dafür versetzten sie die Atomwolke in kollektive Schwingungen und passten genau den Zeitpunkt ab, zu dem das Kondensat besonders lang und maximal schmal war. Indem sie ein Zurückschwingen in den kompakten Zustand verhinderten und das Kondensat auch in den verbleibenden zwei Dimensionen mit einer Materielinse einengten, reduzierte sich die kinetische Energie der Atome im Kondensat weiter.

Tieftemperaturrekord für ein Bose-Einstein-Kondensat

Das Ergebnis war ein Bose-Einstein-Kondensat, dessen interne kinetische Energie auf einem nie zuvor erreichten Tiefstand lag. Die Bewegung der Atome war so verlangsamt, dass ihre Temperatur 38 Pikokelvin entsprach – das sind nur 38 Billionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt. Für ein Bose-Einstein-Kondensat ist dies die tiefste je erreichte Temperatur.

Das Entscheidende jedoch: Durch diesen extrem energiearmen Zustand blieb das Bose-Einstein-Kondensat auch in der Schwerelosigkeit des freien Falls länger stabil als je zuvor beobachtet: „Ohne unser Verfahren konnten Kondensate im Fallturm bis zu 160 Millisekunden nach Freisetzung abgebildet und nachgewiesen werden. Mit unserem System konnten wir diese Zeit bis auf zwei Sekunden ausdehnen“, berichten Deppner und seine Kollegen.

Neue Möglichkeiten der Anwendung

Mit ihrer neuen Methode ist es dem Team demnach gelungen, das sich am langsamsten ausbreitende und kälteste Bose-Einstein-Kondensat der Welt zu erzeugen. Ergänzende Computersimulationen sprechen zudem dafür, dass Kondensate mit diesen Merkmalen sogar bis zu 17 Sekunden in der Schwerelosigkeit stabil bleiben könnten. Dies eröffnet ganz neue Möglichkeiten für den Einsatz solcher Kondensate in physikalischen Messungen.

In einem ergänzenden Beitrag des Fachjournals kommentiert der nicht an der Studie beteiligte Physiker Vincenzo Tamma von der University of Portsmouth: „Diese neue Linsenmethode gibt uns die Möglichkeit, die Form und Expansion von Bose-Einstein-Kondensaten so zu kontrollieren, dass sie für Tests fundamentaler Physik und Quanten-Sensor-Technologien nutzbar werden.“ (Physical Review Letters, 2021; doi: 10.1103/PhysRevLett.127.100401)

Quelle: American Physical Society (APS), Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM)

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