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Materialforschung

Forscher entdecken „flüssiges Glas“

Neuer Aggregatzustand beim Glasübergang hemmt nur bestimmte Bewegungen der Teilchen

Glas
Glas ist ein fester, aber amorpher Zustand. Aber wie sich nun zeigt, gibt es auch flüssiges Glas - und damit ist nicht die heiße Schmelze gemeint. © Andre Sandberg/ iStock.com

Unerwarteter Übergang: Forscher haben einen neuen Aggregatzustand entdeckt – flüssiges Glas. In diesem Zustand können sich Teilchen zwar noch seitlich gegeneinander verschieben, aber nicht mehr rotieren. Dadurch entsteht eine amorphe Struktur mit nur stellenweise gleichgerichteten Partikeln. Die Existenz dieses flüssigen Glases wurde schon vor 20 Jahren theoretisch vorhergesagt, aber erst jetzt ist der experimentelle Beleg gelungen.

Obwohl Glas ein allgegenwärtiges Material ist, gibt es noch immer Rätsel auf. Denn physikalisch gesehen ist es ein echter Sonderfall. Statt sich beim Erstarren zum Kristallgitter zu ordnen wie bei den meisten anderen Feststoffen, bleiben die Atome und Moleküle im Glas amorph: Sie sind auch im festen Zustand ungeordnet. Eine solche Verglasung kommt bei mineralischen Gläsern vor, aber auch bei Metallen, Kunststoffen wie Acryl oder sogar Biomolekülen.

Kolloide als „große Moleküle“

Warum dieser Übergang zum Glaszustand bei einigen Materialien stattfindet und bei anderen nicht und welche Faktoren dies auf molekularer Ebene beeinflussen, ist jedoch nur zum Teil aufgeklärt. Als ein Hilfsmittel, um den Glasübergang näher zu untersuchen, nutzen Wissenschaftler kolloidale Suspensionen – Flüssigkeiten, die feste Partikel enthalten. Aus Experimenten weiß man, dass auch solche Gemische bei entsprechender Teilchendichte zum amorphen Glas werden können.

„Diese Teilchen sind groß genug, um sie mit Lichtmikroskopen zu beobachten, aber klein genug, um länger in der Schwebe zu bleiben“, erklären Jörg Roller von der Universität Konstanz und seine Kollegen. Bisher allerdings wurden solche Untersuchungen fast immer mit kugelförmigen Mikropartikeln als Kolloiden durchgeführt. Der Großteil natürlicher und technischer Kolloide und Gläser besteht allerdings aus nicht-sphärischen Partikeln.

Deshalb haben Roller und seine Kollegen nun erstmals das Verhalten einer Suspension mit elliptischen Kolloidpartikeln untersucht. „Aufgrund ihrer besonderen Form haben unsere Teilchen eine Ausrichtung“, erklärt Rollers Kollege Andreas Zumbusch.

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Neuer Zustand: Weder flüssig noch fest

Das hat überraschende Folgen, wie die Experimente enthüllten. Denn in den Kolloid-Gemischen trat mit zunehmender Partikeldichte ein ganz neuer Aggregatzustand auf: ein flüssiges Glas. In diesem Zustand können sich einzelne Teilchen zwar noch gegeneinander bewegen, aber nicht mehr drehen. „Im flüssigen Glas sind die Rotationen eingefroren, währen die Translationen fluid bleiben“, erklären Roller und sein Team. Dieses Verhalten wurde zuvor noch nie in Gläsern beobachtet.

Damit haben die Forscher eine schon vor 20 Jahren aufgestellte Theorie zur Existenz des flüssigen Glases bestätigt. „Unsere Experimente liefern Beweise für das Zusammenspiel zwischen entscheidenden Fluktuationen und glasartiger Verfestigung, nach denen die wissenschaftliche Gemeinschaft seit geraumer Zeit gesucht hat“, erklärt Koautor Matthias Fuchs von der Universität Konstanz. „Das ist aus theoretischer Sicht unglaublich interessant.“

Glasstruktur
Im flüssigen Glas ordnen sich die Teilchen zu Clustern mit gleicher Orientierung an. © AG Zumbusch und AG Fuchs

Zwei Glasübergänge statt nur einem

Die Wissenschaftler schließen aus ihren Beobachtungen, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Glasübergänge geben muss. Einer hemmt die Rotationsmöglichkeiten der Untereinheiten, der zweite verhindert dann auch ihre seitliche Bewegung. Im Falle der kolloiden Suspensionen tritt der Übergang zur blockierten Rotation bei geringeren Dichten auf als die Hemmung der Translation.

Als Folge dieses selektiven Erstarrens nur der Rotation bilden sich im amorphen Material lokale Strukturen, in denen die elliptischen Kolloide jeweils eine ähnliche Ausrichtung haben. Das, was die Forscher als flüssiges Glas bezeichnen, entsteht dann dadurch, dass sich diese Cluster gegenseitig behindern. Sie verhindern damit die Entstehung von flüssigen Kristallen und halten das Material amorph.

Nach Ansicht der Forscher sprechen ihre Ergebnisse dafür, dass ähnliche Prozesse auch in anderen glasbildenden Systemen vorkommen könnten. Möglicherweise haben sie auch Auswirkungen auf die Entwicklung von flüssigkristallinen Elementen. Gleichzeitig reiht sich das flüssige Glas in eine ganze Reihe neuer Glasvarianten ein, die Forscher in den letzten Jahren entdeckt haben, darunter dehnbares Glas und Glas aus Ringmolekülen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2021, doi: 10.1073/pnas.2018072118)

Quelle: Universität Konstanz

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