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Physik

Chamäleon-Neutrino auf frischer Tat ertappt

Erster Nachweis der Umwandlung vom Muon- zum Tau-Neutrino eröffnet neue Ära der Teilchenphysik

OPERA Detektor © CERN / OPERA

Zum ersten Mal haben Physiker ein Muon-Neutrino bei der Umwandlung in ein Tau-Neutrino quasi auf frischer Tat ertappt. Das Ganze gelang mit Hilfe eines grenzüberschreitenden Experiments, bei dem drei Jahre lang ein Neutrinostrahl 730 Kilometer weit durch das Erdinnere geschickt wurde. Die bisher nur theoretisch vorhergesagte Neutrino-Oszillation ist damit jetzt auch experimentell belegt – und stellt das Standardmodell der Physik in Frage.

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Neutrinos sind elektrisch neutrale Elementarteilchen, die laut physikalischem Standardmodell in drei Sorten existieren: als Elektronen-Neutrino, als Muon-Neutrino und als Tau-Neutrino. In den 1960er Jahren stellte dann der amerikanische Physiker Ray Davis fest, dass von der Sonne weitaus weniger Muon-Neutrinos an der Erde ankamen, als eigentlich laut Modell vorgesehen. Seine Schlussfolgerung: entweder irrte das Standardmodell oder aber etwas musste mit den Neutrinos unterwegs passieren. 1969 kamen die theoretischen Physiker Bruno Pontecorvo und Vladimir Gribov auf eine mögliche Erklärung dür dieses Dilemma: Sie gingen davon aus, dass sich bestimmte Neutrinos von einer Sorte in eine andere umwandeln können.

Diese so genannte Neutrino-Oszillation ist seither zumindest in einer Richtung auch experimentell nachgewiesen worden: Tatsächlich lässt sich in Teilchenbeschleunigern beobachten, dass Muon-Neutrinos plötzlich zu verschwinden scheinen. Der umgekehrte Fall allerdings, das plötzliche Auftauchen eines Tau-Neutrinos, blieb reine Theorie – bis jetzt.

730 Kilometer quer durch die Erde

Erstmals ist es nun Physikern der OPERA Kollaboration gelungen, genau diese Umwandlung von Muon- zu Tau-Neutrino quasi auf frischer Tat zu ertappen. Für das Experiment schickte ein Teilchenbeschleuniger des Kernforschungszentrums CERN bei Genf einen Strahl von Muon-Neutrinos durch die Erde in Richtung auf das italienische Gran Sasso Laboratorium. Da Neutrinos nicht geladen sind, reagieren sie kaum mit Materie, sie durchdringen die Erde ohne mit ihr zu interagieren. Oft werden sie daher auch als „Geisterteilchen“ bezeichnet. Einmal ausgerichtet, bleiben sie exakt auf dem ursprünglichen Weg. Für die rund 730 Kilometer lange Strecke brauchten die Elementarteilchen gerade einmal 2,4 Millisekunden.

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Verräterischer Knick in der Teilchenspur

Da Umwandlungen von einem Neutrinotyp in den anderen extrem selten sind, dauerte es drei Jahre und Milliarden von Muon-Neutrinos, bis die Physiker des OPERA-Projekts endlich einem solchen Typwechsel auf die Spur kamen. Indiz dafür war ein charakteristischer Knick in der Teilchenspur des Detektors in Gran Sasso, der auf die Reaktion eines Tau-Neutrinos mit dem Blei-Target und den Zerfall des dabei entstehenden Tau-Teilchens hindeutete. „Das OPERA Experiment hat sein erstes Ziel erreicht: Die Detektion eines Tau-Neutrinos, das aus der Transformation eines Muon-Neutrinos während der Reise von Genf nach Gran Sasso entstanden ist“, erklärt Lucia Votano, Direktor der Gran Sasso Laboratorien.

Standardmodell ist unvollständig

Der Nachweis der Neutrino-Oszillation hat allerdings erhebliche Auswirkungen auf das Grundverständnis der Physik. Denn nach dem Standardmodell der Physik sollten Neutrinos eigentlich keine Masse besitzen. Voraussetzung für die Oszillation ist jedoch laut Theorie unbedingt eine Masse ungleich Null. Folglich ist das Standardmodell in diesem Punkt offenbar unvollständig. Nach Ansicht der Forscher wäre eine Erklärungsmöglichkeit für diese Diskrepanzen, dass es noch andere, bisher nicht nachgewiesene Typen von Neutrinos gibt, die unter anderem im Zusammenhang mit der Dunklen Materie stehen könnten.

„Dies ist ein wichtiger Schritt für die Neutrino-Physik”, erklärt Rolf Heuer, Generaldirektor des CERN. „Wir sind alle gespannt auf die neuen physikalischen Erkenntnisse, die diesem Ergebnis folgen werden.“

(CERN, 01.06.2010 – NPO)

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