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Neurowissenschaften

Schlafmangel macht hartherzig

Unausgeschlafene Menschen sind weniger sozial, hilfsbereit und mitfühlend

schlaflos
Schlafmangel macht uns unsozialer: Wir sind nach einer schlechten Nacht weniger hilfsbereit und großzügig. © OcusFocus/ iStock

Wer zu wenig schläft, wird unsozialer: Menschen mit Schlafmangel sind weniger hilfsbereit und großzügig und auch ihr für das Mitfühlen zuständige Hirn-Netzwerk ist weniger aktiv, wie nun eine Studie enthüllt. Schon eine Nacht mit schlechtem oder zu kurzem Schlaf kann demnach ausreichen, um uns messbar antisozialer reagieren zu lassen. Angesichts des heute weit verbreiteten Schlafmangels habe dies Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und ihr soziales Miteinander, betonen die Forschenden.

Schlaf ist für uns unverzichtbar. Unser Gehirn benötigt die Ruhepause, um Abfälle auszuschwemmen, Synapsen zu rekalibrieren und Gelerntes abzuspeichern, der Körper nutzt diese Phase zur Regeneration. Fehlt uns Schlaf, beeinträchtigt dies nicht nur unsere körperliche Gesundheit, sondern auch unsere Psyche: Wir sind gereizt, unkonzentriert und anfälliger für verfälschte Erinnerungen. Schlafmangel verändert zudem unsere Wahrnehmung anderer – und wir neigen dazu, Mitmenschen aus dem Wege zu gehen.

Eine schlaflose Nacht für die Wissenschaft

Eine weitere sozial relevante Folge des Schlafmangels haben nun Eti Ben Simon und ihre Kollegen von der University of California in Berkeley aufgedeckt. Für ihre Studie hatten sie untersucht, ob prosoziale Verhaltensweisen wie Hilfsbereitschaft, Mitfühlen oder Spendenfreudigkeit durch zu wenig Schlaf beeinflusst werden. Das erste Experiment dazu fand im Labor statt: 24 Testpersonen wurden eine Nacht lang am Schlafen gehindert, in einer weiteren Nacht durften sie normal schlafen.

Vorher und nachher beantworteten alle Teilnehmenden standardisierte psychologische Fragebögen, die ihre Hilfsbereitschaft und Empathie in verschiedenen Situationen verrieten. Anschließend absolvierten sie einen Test, in dem sie die Persönlichkeit und Motive anderer anhand von Bildern und Szenen einschätzen sollten. Während dieser Aufgabe zeichneten die Forschenden die Hirnaktivität der Testpersonen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie auf.

Hirnaktivität
Bei Schlafmangel sind die Hirnareale des prosozalen Netzwerks weniger aktiv (links), das verringert auch die Hilfsbereitschaft. © Eti Ben Simon, Matthew Walker/ UC Berkeley

Soziales Hirnnetzwerk beeinträchtigt

Es zeigte sich: Nach einer schlaflosen Nacht sank die Hilfsbereitschaft der Testpersonen signifikant ab. „Diese Abnahme der Hilfsbereitschaft war unabhängig von Veränderungen der Stimmung oder der individuellen Empathie“, berichten Ben Simon und ihre Kollegen. Es spielt auch keine Rolle, ob die hilfsbedürftige Person ein Freund, Familienangehöriger oder Fremder war – nahezu alle Probanden verhielten sich im unausgeschlafenen Zustand antisozialer.

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Dieser Effekt spiegelte sich auch in den Hirnscans wider: Nach einer schlaflosen Nacht zeigte sich eine signifikant geringere Aktivität im Hirnnetzwerk für soziale Kognition. „Dieses Netzwerk wird aktiv, wenn wir an andere Menschen denken und versuchen zu verstehen, was in ihnen vorgeht: Was denken sie? Haben sie Schmerzen? Brauchen sie Hilfe?“, erklärt Ben Simon. „Doch dieses Netzwerk war messbar beeinträchtigt, wenn eine Person unter Schlafmangel litt. Dieser Teil des Gehirns schien einfach nicht mehr richtig zu reagieren.“

Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit sinken

Den Effekt des Schlafmangels auf die Hilfsbereitschaft bestätigte und konkretisierte ein zweites Experiment mit 136 Testpersonen. Diese sollten über mehrere Tage hinweg täglich die Qualität ihres Schlafs protokollieren und jeweils morgens den Fragebogen zur Hilfsbereitschaft durcharbeiten. Das Ergebnis auch hier: Die Hilfsbereitschaft sank, je schlechter die Teilnehmenden geschlafen hatten. „Auch die Qualität des Schlafs wirkt sich demnach auf die Hilfsbereitschaft am nächsten Tag aus“, so das Team.

Das dritte Experiment demonstrierte diesen Effekt in großem Maßstab: Ben Simon und sein Team werteten Zeitpunkt und Größe von rund drei Millionen Spenden aus, die zwischen 2001 und 2016 in den USA gegeben worden waren. Dabei zeigte sich, dass die Spendenfreudigkeit in den Tagen nach der Umstellung auf die Sommerzeit messbar geringer war. Diese Auffälligkeit blieb auch dann noch bestehen, wenn die Forschenden andere mögliche Einflussfaktoren berücksichtigten.

„Selbst ein geringer Schlafverlust von in diesem Fall nur einer Stunde hat messbare und reale Auswirkungen auf die Großzügigkeit und damit auch darauf, wie wir als Gesellschaft funktionieren“, sagt Seniorautor Matthew Walker von der University of California. „Wenn die Leute eine Stunde Schlaf verlieren, gibt es eine klare Senke in der Zugewandtheit und der Motivation, anderen Menschen in Not zu helfen.“

Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft

Nach Ansicht der Wissenschaftler bestätigen diese Ergebnisse, wie stark Schlaf und Schlafmangel auch unser soziales Verhalten prägen und beeinflussen. „Wie wir als soziale Spezies funktionieren, scheint fundamental damit verknüpft zu sein, wie viel Schlaf wie bekommen“, sagt Walker. „Schlaf ist das Schmiermittel, das prosoziales, empathisches, freundliches und großzügiges Verhalten fördert. Schlafmangel schadet daher nicht nur der Gesundheit des Einzelnen, sondern erodiert das Gewebe der menschlichen Gesellschaft.“

Bedenklich sei diese Erkenntnis vor allem deshalb, weil Schlafmangel in den modernen Gesellschaften fast allgegenwärtig ist: „In den Industrieländern bekommt mehr als die Hälfte der Menschen während der Arbeitswoche zu wenig Schlaf“, sagt Ben Simon. „Gleichzeitig brauchen wir in diesen zerrissenen Zeiten mehr denn je ein starkes, prosoziales Schmiermittel.“ Es sei daher dringend nötig, Schlaf mehr zu wertschätzen und eine ausreichende Nachtruhe aktiv zu fördern. (PLoS Biology, 2022; doi: 10.1371/journal.pbio.3001733)

Quelle: University of California – Berkeley

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