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Neurowissenschaften

Warum unsere Hirnzellen gut 100 Jahre alt werden können

Neuronen wehren Zelltod ab und halten mehr Stress aus als normale Zellen

Neuronen
Unsere Gehirnzellen sind extrem robust und bleiben unser ganzes Leben lang erhalten. © libre de droit/ Getty images

Überlebenskünstler in unserem Gehirn: Anders als andere Zellen wachsen Neuronen kaum nach – sie müssen ein Leben lang durchhalten. Wie die Hirnzellen dies schaffen, haben nun Forschende herausgefunden. Demnach hemmen reife Neuronen den programmierten Zelltod und regeln dafür Signalwege für Reparaturprogramme und Stressabwehr herauf. Beides zusammen ermöglicht es ihnen, Stressfaktoren wie Sauerstoffmangel, Giften oder DNA-Schäden besser zu widerstehen als normale Zellen.

Fast alle Organe und Gewebe unseres Körpers können sich unser Leben lang erneuern – nicht so das Gehirn: Die Mehrheit unserer Hirnzellen entsteht schon vor unserer Geburt und bleibt dann ein Leben lang bestehen. Nur in wenigen Hirnregionen wie dem Hippocampus können sich auch im Erwachsenenalter noch Vorläuferzellen zu reifen Neuronen ausdifferenzieren. Das bedeutet, dass unsere Gehirnzellen zu den ältesten Zellen in unserem Körper gehören – und sie müssen ein Leben lang halten.

Der Überlebensfähigkeit der Neuronen auf der Spur

Doch wie schaffen es die Hirnzellen, der normalen Zellalterung zu entgehen? Denn normalerweise reichern sich in alternden Zellen fehlerhafte Proteine und DNA-Schäden an, die ab einem bestimmten Punkt das zelluläre Selbstmordprogramm aktivieren. Dieses trägt auch dazu bei, vor einer Entartung der Zellen und damit Krebs zu schützen. Bei den Neuronen scheint dieses Apoptose-Programm aber nicht oder nur sehr eingeschränkt zu funktionieren – sonst wären im Alter kaum noch Hirnzellen übrig.

Was hinter der Langlebigkeit unserer Hirnzellen steckt, haben nun Ruven Wilkens und seine Kollegen von der Universität Heidelberg untersucht. Dafür züchteten sie aus induzierten Stammzellen zunächst menschliche Neuronen in der Zellkultur und ließen sie ausreifen. Dann analysierten sie die Genaktivität der älteren und jungen Hirnzellen und testeten zudem, wie gut die Hirnzellkulturen mit Stressfaktoren wie Sauerstoffmangel, Giften oder DNA-Schäden zurechtkommen.

Zelltod-Kaskade abgewürgt

Die Analysen ergaben: Bei reifen Hirnzellen ist das zelluläre Selbstmordprogramm extrem heruntergeregelt. Wichtige Gene im Signalweg der Apoptose werden bei den Neuronen kaum abgelesen und dadurch fehlt das für diesen Schritt nötige Protein. Dies gilt vor allem für einige der als Caspasen bekannten Apoptose-Botenstoffe. Demnach werden einige dieser Caspasen zwar bei unreifen Hirnzellen noch produziert, sobald die Zelle aber ausreift, wird ihre Produktion fast vollständig heruntergeregelt, wie das Team feststellte.

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„Wir haben einen ganzen Katalog von Anpassungen gefunden, die zusammenwirken, um die Schwelle zum Zelltod durch Eingriffe an mehreren Stellen der Apoptose-Signalkette zu erhöhen“, erklären Wilkens und seine Kollegen. Im Gegenzug erzeugen reife Hirnzellen mehr schützende Enzyme und Botenstoffe, die für kritische Reparaturfunktionen und Zellstoffwechselwege wichtig sind. Dazu gehören Moleküle, die Proteine stabilisieren können und die Degradierung bestimmter Enzyme verhindern, aber auch Botenstoffe, die den Zelltod hemmen.

Erhöhte Widerstandskraft gegen Zellstress

Die Wirkung dieser konzertierten Anpassungen zeigten sich in den Stresstests: Reife Hirnzellen erweisen sich als deutlich resilienter gegenüber Stressfaktoren wie Sauerstoffmangel, Proteinschäden und verschiedenen Zellgiften. „Die reifen Neuronen zeigten einen klaren Überlebensvorteil gegenüber dem unreifen Stadium“, berichten die Forschenden. Während andere Zellen längst in den Zelltod übergegangen wären, lebten die Hirnzellen trotz Stress weiter.

„Diese Schutzmechanismen in reifen Nervenzellen können auch teilweise erklären, warum die meisten neurodegenerativen Erkrankungen viele Jahrzehnte lang abgewehrt werden können und dann erst im fortgeschrittenen Alter auftreten“, erklären Wilkens und seine Kollegen. Offenbar manifestieren sich Alzheimer, Parkinson und Co erst dann, wenn der Stress selbst für die große Resilienz der Neuronen zu stark wird oder ihre Abwehrkräfte in hohem Alter nachlassen. (Cell Death & Disease, 2022; doi: 10.1038/s41419-022-05340-4)

Quelle: Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

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