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Medizintechnik

Tourette-Syndrom: Nervenreize gegen die Tics

Stimulator am Handgelenk verringert Zahl und Schwere der unwillkürlichen Bewegungen

Tourette-Patient
Dieser Junge leidet unter den für das Tourette-Syndrom typischen Tics – unwillkürlichen Bewegungen und Zuckungen. Doch ein Neurostimulator lindert dies. © University of Nottingham

Vom Armnerv ins Gehirn: Ein neuartiges Gerät kann die unwillkürlichen und oft heftigen Tics des Tourette-Syndroms signifikant dämpfen und verringern, wie eine klinische Studie ergeben hat. Dabei nutzten die Betroffenen einen am Handgelenk getragenen Stimulator, der ihren Mediannerv mit Strompulsen reizte. Diese Reizung dämpft die für Tourette typische Übererregbarkeit des sensormotorischen Cortex und verringert die Zahl und Schwere der Tics um mehr als 25 Prozent – und sogar nach Wiederabschalten des Geräts.

Plötzliche, zuckende Bewegungen, Grimassen, Ausrufe, fast zwanghaft wiederholte Worte oder Laute: Solche unwillkürlichen und nicht kontrollierbaren Ticks sind typisch für Menschen mit dem Tourette-Syndrom. Etwa ein Prozent der Menschen leidet an dieser neurologischen Erkrankung, die bisher nicht heilbar ist. Zwar lassen sich die Tics mithilfe bestimmter Psychopharmaka dämpfen, viele Betroffene lehnen diese Behandlung aber wegen der starken Nebenwirkungen ab.

Studien haben zwar gezeigt, dass auch eine spezielle Stimulation des sensormotorischen Cortex die Häufigkeit und Schwere der Tics reduzieren kann. Doch eine solche Behandlung ist nur stationär möglich oder erfordert die Implantation von Elektroden direkt ins Gehirn.

Neurostimulator
Dieser Stimulator am Handgelenkt reizt den Mediannerv auf spezifische Weise und dämpft dadurch die Aktivität des sensormotorischen Cortex. © University of Nottingham

Reizung des Armnervs beeinflusst das Gehirn

Doch jetzt zeichnet sich eine Alternative ab: Eine klinische Studie belegt, dass auch eine Reizung des Mediannervs im Unterarm die Tourette-Tics signifikant verringert. Anstoß dafür gab die Beobachtung, dass auch bestimmte Signale peripherer Nerven die Aktivität im sensormotorischen Areal des Gehirns beeinflussen können. Treffen diese elektrischen Nervenreize die richtige Frequenz, lässt sich damit auch die für Tourette typische Überreaktion dieses Hirnareals verringern.

Für ihre Studie haben Barbara Morera Maiquez von der University of Nottingham und ihre Kollegen einen Nervenstimulator genutzt, der einfach an das Handgelenk geschnallt werden kann. Das Gerät erzeugt bei Aktivierung eine Serie elektrischer Pulse mit einer Frequenz von zehn Hertz. 121 Personen mit Tourette-Syndrom nahmen an der Studie teil. Zwei Drittel von ihnen erhielten ein solches Gerät und nutzten es täglich 15 Minuten lang, allerdings wurden nur bei jedem Zweiten auch die tatsächlich wirksame Reizabfolge appliziert, die anderen Testpersonen erhielten nur eine Scheinbehandlung.

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Über Befragungen und Videoaufnahmen ermittelte das Team, ob und wie sich die Häufigkeit und Stärke der Tics während der Behandlung veränderte. Außerdem wurden alle Testpersonen nach Ende der vierwöchigen Testphase, nach drei und sechs Monaten erneut untersucht.

Nachhaltige Reduktion der Tics

Das Ergebnis: Die Neurostimulation über das Handgelenk verringerte die Häufigkeit der unwillkürlichen Bewegungen während der Reizung um rund 25 Prozent. Im Schnitt sank die Zahl der Tics um mehr als 15 pro Minute. Auch die Schwere der Tics nahm in dieser Zeit signifikant ab. „Dieses Gerät hat mir definitiv geholfen“, berichtet der 13 Jahre alte Tourette-Patient Mylo. „Ich hatte zwar noch immer ab und einen Tic, wenn das Gerät an war, aber der Zwang zu diesen Bewegungen war viel geringer.“

Noch wichtiger jedoch: Die dämpfende Wirkung der Nervenreizung zeigte sich auch, wenn das Gerät nicht aktiv war. Nach vier Wochen der regelmäßigen Behandlung hatte sich die Schwere des Tourette-Syndroms bei der Mehrheit der Testpersonen um 7,1 Punkte auf der sogenannten Yale Global Tic Severity Scale (YGTSSS) verringert – dies entspricht einer Reduktion um rund 35 Prozent, wie die Forschenden berichten. Bei der Kontrollgruppe und der Placebogruppe war dies hingegen nicht der Fall.

Marktreife innerhalb von drei Jahren geplant

„Auch wenn das Neupulse-Gerät noch in der Entwicklung ist – die Ergebnisse der doppelblinden klinischen Studie sind extrem vielversprechend“, sagt Koautor Stephen Jackson von der University of Nottingham. „Dieses Gerät hat das Potenzial, das Leben von Menschen mit dem Tourette-Syndrom dramatisch zu verbessern. Denn es gibt ihnen mehr Kontrolle über ihre Tics.“ Anders als ein Medikament hat die Neurostimulation zudem keine sedierende Wirkung und kann je nach Situation gezielt an- oder ausgeschaltet werden.

Das Forschungsteam will nun dieses Reizstromgerät im Rahmen einer Ausgründung weiterentwickeln und marktreif machen. „Wir nutzen jetzt die Ergebnisse der klinischen Studie, um ein kommerzielles Gerät zu entwickeln, das dann den Menschen mit Tourette zur Verfügung gestellt werden kann“, sagt Morera Maiquez. Ziel ist es, das Neupuls-Gerät samt begleitender App innerhalb der nächsten drei Jahre auf den Markt zu bringen. (Preprint MedRxiv, doi: 10.1101/2023.03.06.23286799)

Quelle: University of Nottingham

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