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Neurobiologie

Tod: Letztes Leuchtfeuer im Gehirn

Durch Sauerstoffmangel startet beim Sterben eine elektrochemische Kaskade im Gehirn

Kriegt das Gehirn nicht genug Sauerstoff, löst sich das Spannungsgefälle der Nervenzellen auf – wie eine Welle rollt dieses Ereignis durchs Gehirn. Der Vorgang ist aber wieder umkehrbar. © phonlamai / iStock.com

Der Anfang vom Ende: Kurz vor dem Tod eines Menschen fegt eine elektrochemische Entladungswelle wie ein Tsunami durch das Gehirn. Dieses Phänomen haben Wissenschaftler jetzt in sterbenden Patienten mit Sauerstoffmangel im Gehirn beobachtet. Wie sie berichten, leitet diese Welle den Sterbeprozess des Gehirns ein, der Prozess ist jedoch bis zu einem gewissen Grad reversibel.

Von allen Organen des Körpers reagiert das Gehirn am empfindlichsten auf Sauerstoffmangel. Stoppt seine Blutversorgung – etwa nach einem Herzstillstand – stellt das Gehirn von Tieren schon nach 20 bis 40 Sekunden seine Aktivität ein – es ist im Energiesparmodus. Sind auch die letzten Reserven aufgebraucht, bricht das energiebedürftige Ionen- und Spannungsgefälle zwischen dem Inneren der Nervenzellen und ihrer Umgebung zusammen.

Aus Studien mit Tieren weiß man, dass dies in Form einer elektrochemischen Welle passiert. Diese „spreading depolarization“ oder Streupolarisierung genannte Entladungswelle breitet sich nach dem Herzstillstand im Gehirn aus wie eine Wasserwelle nach dem Steinwurf in einen See. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ist diese Entladung reversibel, doch hält der Blutmangel im Gehirn länger an, werden die Hirnzellen unwiderruflich geschädigt und sterben ab.

Welle auch beim Menschen?

Dass es dieses letzte Aufbäumen auch beim Menschen gibt, haben nun Jens Dreier von der Charité in Berlin und Kollegen nachgewiesen. Ihnen kam zugute, dass Ärzte heute bei Patienten mit schweren Schlaganfällen oder Kopfverletzungen manchmal Elektroden in den Schädel implantieren, um die Hirnaktivität besser überwachen zu können.

Als neun solcher Patienten im Sterben lagen und die lebenserhaltenden Maßnahmen – auf Wunsch der Patienten oder Angehörigen – beendet wurden, konnten die Wissenschaftler dank dieser Elektroden die letzten Hirnsignale der Sterbenden aufzeichnen.

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Darstellung der Streudepolarisierung im lebenden Gehirn eines Schweins. © Dredgarsantos / CC-BY-SA 4.0

Verschiedene Stadien des Sterbens

Nach Abschaltung der Maschinen fiel der Blutdruck der Patienten langsam ab und die Sauerstoffversorgung des Gehirns versiegte. Nachdem der Blutfluss dort auf 20 Prozent gesunken war, dauerte es nur wenige Minuten, bis das gesamte Gehirn schlagartig seine elektrische Aktivität einstellte.

Durchschnittlich ein bis zwei Minuten danach zeichnete die erste Elektrode ein Signal auf – die Welle hatte begonnen. Langsam breitete sie sich daraufhin durch das Gehirn aus. Aus Tieren ist bekannt, dass sie mit zwei bis fünf Millimetern pro Minute durch das Gewebe wandert. Sechs der neun Patienten folgten diesem Muster.

„Wir konnten nachweisen, dass die terminale Streudepolarisierung bei Mensch und Tier vergleichbar ist“, erläutert Dreier. „Leider ist die Erforschung dieses Elementarprozesses der Schadenentstehung im zentralen Nervensystem jahrzehntelang vernachlässigt worden, weil fälschlicherweise angenommen wurde, dass er beim Menschen nicht auftritt.“

Die Welle ist umkehrbar

Das Phänomen ist jedoch nicht unbedingt fatal, in vielen der Patienten wurden innerhalb von Tagen mehrere Wellen aufgezeichnet. „Wichtig ist, dass der Vorgang – bis zu einem bestimmten Punkt – reversibel ist, wenn die Blutzirkulation wiederhergestellt wird“, sagt Dreier. In diesem Fall erholen sich die Nervenzellen wieder vollständig. Bleibt der Sauerstoff jedoch abgeschnitten, kann schon nach einer Minute der Punkt kommen, an dem es kein Zurück mehr gibt und die Neuronen absterben.

Doch was bedeutet diese neue Entdeckung für die Zukunft? „Heute gibt es noch keine direkten Anwendungen für Patienten“, sagt Dreier. „Vor allem die Langsamkeit der Welle, die ihre Erkennung im normalen EEG erschwert, stellt eine Herausforderung dar. Die Entdeckung könnte jedoch zu einer verbesserten Diagnostik und Behandlung in der Zukunft führen, ganz nach Max Plancks Motto, dass dem Anwenden das Erkennen vorausgehen muss.“ (Annals of Neurology, 2018; doi: 10.1002/ana.25147)

(Charité – Universitätsmedizin Berlin, 26.02.2018 – YBR)

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