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Medizin

Rückenmarks-Schrittmacher für Gelähmte

Neurostimulation ermöglicht Querschnittsgelähmten das Gehen und Stehen

Fünf Monate nach der Implantation eines "Rückenmarks-Schrittmachers" können diese querschnittsgelähmten Patienten am Rollator gehen – ein Programm steuert ihre Beinbewegung. © NeuroRestore/ Jimmy Ravier

Hoffnung für Querschnittsgelähmte: Drei nach einem Motorradunfall gelähmte Männer haben durch einen neuartigen „Rückenmarks-Schrittmacher“ wieder gehen, stehen und Fahrrad fahren gelernt. Schon am ersten Tag nach der Implantation konnten sie erste, noch gestützte Schritte gehen. Möglich wird dies durch am Rückenmark implantierte Elektroden, die individuell abgestimmte Bewegungssignale an die motorischen Nervenwurzeln senden. Im Prinzip kann sich der Patient damit quasi selbst fernsteuern.

Bisher gibt es für Querschnittsgelähmte kaum Hoffnung auf Heilung. Denn ein durchtrenntes Rückenmark wächst nicht wieder von allein zusammen. Zwar arbeiten Wissenschaftler daran, eine solche Nervenheilung durch Gentherapie, Stammzellen oder bioaktive Nanofasern anzuregen. Bisher klappt dies aber nur im Tierversuch oder nur bei speziellen Patienten.

Als mögliche Alternative gilt daher die Neurostimulation über Elektroden-Implantate am Rückenmark, wie sie auch schon zur Schmerztherapie eingesetzt werden. Dabei aktivieren die über die Elektroden eingespeisten Signale die Schaltkreise und Nervenwurzeln, die normalerweise die Bewegungssignale vom Gehirn an die Beinmuskeln übertragen – die Muskeln werden dadurch ferngesteuert. Solche Elektrostimulations-Therapien erfordern allerdings ein monatelanges, mühevolles Training, bevor ein Effekt sichtbar wird.

Methodik auf zweifache Weise optimiert

Jetzt ist es Andreas Rowald von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) und seinen Kollegen gelungen, die Methodik so zu optimieren, dass Patienten schon am ersten Tag die ersten Schritte machen können – wenn auch noch stark von Haltegurten gestützt. Möglich wurde dies durch zwei entscheidende Veränderungen: eine Optimierung der Elektrodenanordnung und eine von künstlicher Intelligenz unterstützte Anpassung der Stimulationssignale.

Als erstes passte das Team die Elektroden-Anordnung so an, dass sie gezielter auf die Nervenwurzeln einwirkt, die für die Bewegung der Beine und des unteren Rumpfs zuständig sind. Mithilfe einer detaillierten Simulationen der neuronalen Topografie entwickelten die Forschenden eine Anordnung, die ein selektives Ansteuern der Nervenwurzeln und damit einzelner Muskelgruppen erlaubt. Ergänzend dazu ermittelten sie für ihre drei Testpatienten, welche Nerven und Nervenwurzeln aktiv wurden, wenn deren gelähmte Muskeln und Gelenke passiv bewegt oder wurden.

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So funktioniert die Therapie mit dem Rückenmarks-Schrittmacher.© EPFL

Individuelle Anpassung der Signalmuster

Die zweite Optimierung betrifft die individuelle Anpassung der Schrittmacher-Signale an die Nerven und Muskeln der Testpatienten. Bei diesen handelte es sich um drei Männer im Alter zwischen 29 und 41 Jahren, bei denen ein bis neun Jahre zuvor durch einen Motorradunfall das Rückenmark durchtrennt worden war. Alle drei waren dadurch vom Rumpf abwärts gelähmt, keiner von ihnen konnte seine Beine bewegen oder spüren.

Als Grundlage für die Neurostimulation dienten die sowohl von gesunden wie von den Testpatienten abgeleiteten Nervensignale von Gehirn, Muskeln und Nervenwurzeln. Ein lernfähiger Algorithmus entwickelte daraus ein individuell auf die Patienten zugeschnittenes Reizprofil, das die spezifischen Reizmuster bei bestimmten gängigen Bewegungsmustern nachbildete. „Dadurch können wir das Rückenmark ähnlich aktivieren, wie es normalerweise das Gehirn tun würde, um den Patienten stehen, gehen, schwimmen oder ein Fahrrad fahren zu lassen“, erklärt Seniorautor Grégoire Courtine von der EPFL.

Gehtraining
Einen Tag nach der Operation macht der Patient erste Schritte am Haltegurt. © NeuroRestore/ Jimmy Ravier

Erste Schritte im Haltegurt

Wie gut dieser Rückenmarks-Schrittmacher in der Praxis funktioniert, zeigte sich nach der Implantation. Dafür platzierte das Forschungsteam die Elektroden direkt am Rückenmark und den Nervenwurzeln der Patienten, eine Kontrolleinheit setzten sie unter die Bauchdecke. Während und direkt nach der Operation führte das Team erste Feinjustierungen der Stimulation durch. enige Stunden später versuchten die Patienten ihre ersten Schritte – zunächst noch gestützt durch eine Aufhängung, die einen Großteil ihres Körpergewichts trug.

Mit Erfolg: „Schon am ersten Tag konnten alle drei Probanden erste Schritte auf einem Laufband machen, wenngleich die Bewegung noch wenig ausgeprägt war“, berichtet das Team. Bis zum dritten Tag besserte sich das Gangmuster soweit, dass alle drei in dem Haltegeschirr selbstständig gehen konnten. Über ein Tablet stellten die Patienten die gewünschte Bewegungsform für ihren „Schrittmacher“ selbst ein.

Gehen mit Rollator

In den folgenden fünf Monaten absolvierten die drei Patienten ein intensives Trainingsprogramm, in dessen Verlauf sie die Muskeln ihrer gelähmten Beine trainierten und lernten, sich mithilfe des Neuro-Schrittmachers zu bewegen. Nach dieser Zeit konnten sie ohne Haltegurte und nur mithilfe eines normalen Rollators selbstständig aufrecht gehen und stehen. In den Griffen des Rollators waren die Knöpfe eingebaut, die den Stimulator steuerten.

Einer der Testpatienten schaffte es mithilfe dieser Technik sogar wieder, Treppen hinauf oder hinunter zu gehen. Auch Schwimmen, Kanufahren und das Nutzen eines Liegerads war den drei Männern wieder möglich.

Nicht das Gleiche wie eine Heilung

Allerdings: Eine echte Heilung ist diese Therapie nicht. „Es ist wichtig zu betonen, dass diese Patienten nicht ihre natürliche Bewegungsfähigkeit wieder erlangten“, sagen Rowald und seine Kollegen. Denn die Signale für die Bewegungen kamen allein vom softwaregestützten Stimulationsprogramm, nicht von einer Erholung der normalen Nervenfunktion bei den Patienten. „Aber ihre Rehabilitation war ausreichend, um ihnen wieder verschiedene Aktivitäten zu ermöglichen.“

Auf die noch begrenzten Möglichkeiten weist auch Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg hin: „Die Alltagstauglichkeit der epiduralen Stimulation ist nach wie vor äußerst limitiert – geringe Gehgeschwindigkeit, unphysiologisches Gangbild mit relativ hohem Energieaufwand“, erklärt der Spezialist für Paraplegien. „Es wurden aber neue Grundlagenerkenntnisse betreffend die Anatomie und Funktionsweise des Rückenmarks gewonnen, die für Weiterentwicklungen vergleichbarer Therapieverfahren wichtig sind.“

Aussicht auf bessere Therapien

Positiv bewertet der Experte zudem, dass diese Methode auch für komplett gelähmte Menschen geeignet ist und damit für Patienten, deren Nervenbahnen vollkommen durchtrennt wurden. Ergänzend dazu merkt Rainer Abel vom Klinikum Bayreuth an: „Wir sind uns in vielen Fachgremien mittlerweile einig, dass es nicht die eine Pille oder die eine Methode zur Behandlung von Querschnittlähmungen geben wird. Von daher sind die Ergebnisse sehr ermutigend und werden sicher ihren Platz in der Therapie finden.“

Rowald und seine Kollegen arbeiten bereits daran, ihre Methode der Neurostimulation noch weiter zu verbessern. Sie sehen in dieser Art der „Fernsteuerung“ auch eine Möglichkeit, beispielsweise die Blasen- und Darmfunktion Querschnittsgelähmten für die Betroffenen kontrollierbar zu machen. (Nature Medicine, 2022; doi: 10.1038/s41591-021-01663-5)

Quelle: École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL)

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