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Neurobiologie

Neugeborene sind anders kitzelig

"Kitzel-Studie" deutet auf noch nicht entwickeltes räumliches Körpergefühl bei Babys hin

Neugeborene verwechseln ihre Füße seltener als Erwachsene, wenn sie bei überkreuzten Beinen gekitzelt werden. © Jannath Begum Ali

Neugeborene fühlen Berührungen anders als Erwachsene: Ihnen fehlt offenbar noch das räumliche Vorstellungsvermögen ihres eigenen Körpers. Britische Forscher haben in Kitzel-Versuchen herausgefunden: Kitzelt man ein etwa vier Monate altes Baby am Fuß, spürt es ganz genau, wo die Berührung an seinem Körper erfolgt – aber nicht, wo im Raum sie stattfindet, erklären die Forscher im Journal „Current Biology“. Im Gegensatz zu Erwachsenen verwechseln die Babys so auch überkreuzte Gliedmaßen seltener.

Wenn wir unsere Hände oder Füße überkreuzen, kommt es zu einem seltsamen Phänomen: Erwachsene Menschen haben manchmal Schwierigkeiten, Berührungen an überkreuzten Gliedmaßen richtig zuzuordnen. Wird der rechte Fuß gekitzelt, entsteht für einen Moment ein widersprüchlicher Sinneseindruck, und wir glauben, es sei der linke. Schuld daran sind wahrscheinlich unsere Augen: Durch Seheindrücke gewinnen wir im Laufe unserer Frühentwicklung ein räumliches Konzept unseres Körpers. Nimmt in diesem Konzept der rechte Fuß den Platz des linken ein, geraten wir durcheinander.

Wann entsteht das räumliche Körperbild?

Von Geburt an blinde Menschen haben die typischen Zuordnungsprobleme bei Berührungen an überkreuzten Beinen interessanterweise nicht, wie Versuche gezeigt haben. Wissenschaftler um Andrew Bremner von der University of London wollten darum herausfinden, in welchem Alter sich diese Grundlagen der Wahrnehmungsphänomene bei sehenden Menschen herausbilden.

Dazu führten sie Versuche mit Säuglingen im Alter zwischen vier und sechs Monaten durch. Sie verabreichten den kleinen Probanden mit einem Gerät Vibrationen an den Füßen. Bei der einen Variante waren die Beine der Kinder parallel zueinander bei der anderen über Kreuz. Auf welcher Seite das Baby die Berührung wahrgenommen hatte, zeigte sich den Forschern zufolge an typischen Wackelbewegungen, die das Kind mit dem jeweiligen Bein vollführte.

„Eine fremdartige Erfahrungswelt“

Ergebnis: Die sechs Monate alten Kinder zeigten die für Erwachsene typischen Fehlinterpretationen bei überkreuzten Beinen. Sie wackelten nach der Stimulation in der Hälfte der Fälle mit dem falschen Fuß – nicht häufiger als bei einer zufälligen Verteilung. Die vier Monate alten Babys lagen im Vergleich dazu deutlich häufiger richtig, sie bewegten in 70 Prozent der Fälle den gekitzelten Fuß. Mit anderen Worten: Sie besitzen bessere Fähigkeiten, bei überkreuzten Beinen eine Berührung dem jeweiligen Körperteil korrekt zuzuordnen.

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Die Forscher interpretieren das Ergebnis so: Offenbar nehmen Neugeborene bis zum Alter von etwa vier Monaten Berührungen noch losgelöst von anderen Sinneseindrücken wahr. Einen Zusammenhang mit anderen räumlich-körperlichen Erfahrungen stellen sie noch nicht her. „Für mich hört sich das nach einer sehr fremdartigen Erfahrungswelt an – Berührungen scheinen noch komplett von anderen Sinneseindrücken losgelöst“, sagt Bremner. In weiteren Untersuchungen wollen er und seine Kollegen nun der Frage nachgehen, wie und warum Neugeborene eine räumliche Empfindung ihrer selbst entwickeln. (Current Biology, doi: 10.1016/j.cub.2015.08.055)

(Cell Press, 20.10.2015 – MVI)

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