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Medizin

Nervenbrücke flickt durchtrenntes Rückenmark

Neues Wachstum von Nervenzellen gibt Ratten die Kontrolle über ihre Blasenfunktion zurück

Querschnitt durch das menschliche Rückenmark © Time3000 / CC-by-sa 2.5 us

Hoffnung für viele Querschnittsgelähmte: US-Forschern ist es erstmals gelungen, bei Ratten ein durchtrenntes Rückenmark zumindest teilweise zu reparieren. Mit einem speziellen Enzymcocktail brachten sie ein eingepflanztes Nervenstück dazu, die Lücke zu überbrücken. Dadurch konnten die Tiere zwar nicht wieder laufen, sie konnten aber zumindest ihre Blasenfunktion wieder kontrollieren. Für viele Gelähmte wäre schon dies eine große Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Während sich fast alle Gewebe unseres Körpers nach einer Verletzung wieder regenerieren und nachwachsen können, gilt dies für viele Nervenfasern nicht. Das stellten Forscher schon vor fast hundert Jahren fest. Damals versuchten sie bereits, durchtrennte Rückenmarksnerven durch eingesetzte Nervenstücke aus Armen oder Beinen zu überbrücken. Aber die implantierten Nervenbrücken wuchsen nicht ein und leiteten keine Signale aus dem Gehirn in die unteren Körperregionen weiter.

In jüngster Zeit haben Studien auch gezeigt, woran das unter anderem liegt: Eine spezielle, an der Verletzungsstelle ausgeschüttete Substanz verhindert, dass Nervenzellen der Brücke lange Ausläufer bilden und sich über diese Fasern mit dem Rückenmark verbinden. Stattdessen sorgt sie dafür, dass Narbengewebe entsteht, welches Entzündungen verhindert, aber auch das Wachstum der Nerven.

Nervenstück und Substanzcocktail

Um dieses Hindernis zu überwinden, kombinierten Yu-Shang Lee und seine Kollegen von der Case Western Reserve University in Cleveland nun mehrere Behandlungsansätze. In ihrem Experiment durchtrennten sie zunächst bei Ratten das Rückenmark auf Höhe des achten Brustwirbels. Als Folge waren die Tiere gelähmt und verloren auch die Kontrolle über ihre Blase. „Denn die Speicherung und Abgabe des Urins ist bei den meisten Tieren und dem Menschen komplex und erfordert Informationen sowohl von der Blase und den Harngängen als auch vom Gehirn“, erklären die Forscher. Mit durchtrenntem Rückenmark funktioniert dies nicht mehr.

Als nächstes pflanzten Lee und seine Kollegen den Tieren ein kleines Stück aus einem Rippennerv an die zerstörte Rückenmarksstelle. Um die Narbenbildung zu verhindern und das Wachstum der Nerven zu fördern, spritzten sie dann einen Cocktail aus einem Enzym, der sogenannten Chondroitinase, und einem Wachstumsfaktor an die Nervenenden. Zur Kontrolle erhielten einige weitere gelähmte Ratten jeweils nur eine Komponente dieses Cocktails oder nur eine Salzlösung.

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Versuchstier Ratte © IMSI MasterClips

Neue Nervenverbindungen überbrücken Lücke

Drei Monate nach dieser Behandlung zeigte sich ein erster Effekt, wie die Forscher berichten: „Die Tiere, die die Dreier-Kombination erhalten hatten, konnten zwar nicht wieder laufen, sie erhielten aber allmählich wieder eine bemerkenswerte Kontrolle über ihre Blasenfunktion“, berichtet Lee. Nach sechs Monaten gaben die mit Nervenflicken und Substanzcocktail behandelten Ratten fast wieder genauso viel Urin ab wie gesunde Kontrolltiere. Das sei das erste Mal, dass man mittels Nervenregeneration die Blasenfunktion nach einem solchen Rückenmarksschaden wiederhergestellt habe, so der Forscher.

Nähere Untersuchungen enthüllten, dass neue Nervenverbindungen zwischen Rückenmark und der eingepflanzten Nervenbrücke entstanden waren. Wie die Wissenschaftler erklären, regte der Wachstumsfaktor die Bildung langer, unverzweigter Nervenausläufer an, das Enzym Chondroitinase verhinderte die Bildung blockierender Narben und trug zudem dazu bei, die Axone gerade wachsen zu lassen.

Regeneration von Nervenfasern aus dem Hirnstamm

„Besonders überraschend und spannend war dabei, dass eine Sorte von Nervenzellen des Hirnstamms unter diesen günstigen Bedingungen bis weit ins Rückenmark hinein wuchs“, erklärt Studienleiter Jerry Silver von der Case Western Reserve University in Cleveland. Die Ausläufer dieser Zellen überwanden dabei nicht nur die durchtrennte Stelle und die Nervenbrücke, sondern erstreckten sich noch darüber hinaus.

Warum ausgerechnet diese Neuronen eine solche Regenerationsfähigkeit besitzen, sei noch unklar. „Aber das herauszufinden wird eine besonders wichtige Frage für die Zukunft sein“, erklärt Silver. Denn wenn man das weiß, könnte man vielleicht diese Fähigkeit eines Tages auch auf andere Nervenzelltypen übertragen – beispielsweise auf diejenigen, die die Signale für Bewegungen der Beine übermitteln. Zunächst allerdings sind erst mal weitere Studien nötig, um das Verfahren soweit zu verbessern, dass damit auch die Blasenfunktion bei Menschen wiederhergestellt werden kann. (The Journal of Neuroscience, 2013;

doi: 10.1523/JNEUROSCI.1116-12.2013)

(Journal of Neuroscience, 26.06.2013 – NPO)

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