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Medizin

Fasten gegen chronische Schmerzen?

Hunger verdrängt Schmerzreize bei Mäusen

Chronische Schmerzen können den Alltag zur Hölle machen. © Pixologic/ iStock.com

Statt Schmerzmittel: Hunger wirkt offenbar gegen chronische Schmerzen – zumindest bei Mäusen. Eine Studie zeigt: Sind sie hungrig, nehmen die Tiere schmerzhafte Entzündungen weniger stark wahr. Durch diesen Trick stellt das Gehirn sicher, dass die Nager trotz Schmerzen auf Futtersuche gehen – und überleben können, wie Forscher im Fachmagazin „Cell“ berichten. Sollte ein ähnlicher Schaltkreis beim Menschen existieren, könnten sich daraus neue Therapien gegen chronische Schmerzen ergeben.

Kaum eine Empfindung ist quälender als Schmerz – doch das Gefühl kann überlebenswichtig sein. Es lehrt uns, unsere Hand nicht auf eine heiße Herdplatte zu legen oder signalisiert, wenn der Körper Schonung braucht. Gleichzeitig kann Schmerz allerdings auch schaden: Wenn er über längere Zeit zu sehr in den Vordergrund rückt. Dann hindert er uns daran, unseren Alltag normal zu gestalten und führt womöglich sogar dazu, dass wir andere wichtige Bedürfnisse vernachlässigen.

Für Tiere gilt dies ebenso: Bei ihnen könnte chronischer Schmerz sogar das Überleben gefährden, zum Beispiel wenn sie deshalb nicht mehr auf Futtersuche gehen. Wissenschaftler um Amber Alhadeff von der University of Pennsylvania wollten daher wissen: Wie geht der Körper mit diesem Dilemma um? „Uns interessierte, wie das Gehirn konkurrierende Bedürfnisse verarbeitet, um ein optimales Verhalten auszulösen“, sagt Alhadeffs Kollege Nicholas Betley.

Hunger überdeckt Schmerz

Um das herauszufinden, setzten die Forscher Mäuse auf eine 24-stündige Fastenkur. Wie würden die Nager im Vergleich zu nicht hungrigen Tieren auf akuten Schmerz oder dumpferen, chronischen Entzündungsschmerz reagieren, wie er beispielsweise noch längere Zeit nach einer Verletzung auftritt?

Das erstaunliche Ergebnis: Auf akute Schmerzreize, unter anderem ausgelöst durch eine heiße Heizplatte, reagierten die hungrigen Mäuse genauso wie ihre Artgenossen. Doch der chronische Entzündungsschmerz, den das Team durch eine Injektion bestimmter Wirkstoffe in die Pfote der Tiere verursachte, ließ sie verhältnismäßig kalt. So leckten die Nager ihre entzündete Pfote seltener ab. Zudem mieden sie im Gegensatz zu ihren satten Kumpanen auch nicht den Ort, an dem ihnen der Schmerz zugefügt worden war.

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Was ist wichtiger: Schmerz oder Hunger? © Sam Alhadeff

Wie ein Schmerzmittel

Damit verhielten sich die Mäuse genauso wie Nager, die gegen den Schmerz ein Medikament verabreicht bekommen hatten. Kurzum: Hunger schien eine ähnliche Wirkung zu entfalten wie ein potentes Schmerzmittel. „Dass Hunger die Schmerzwahrnehmung derart deutlich verändert, hätten wir nicht erwartet“, sagt Alhadeff.

Die Frage war nun: Welcher Schaltkreis im Gehirn steckt hinter diesem verblüffenden Phänomen? Die Forscher wussten schon, dass sogenannte AgRP-Neuronen bei Hunger aktiv sind. Deshalb schauten sie sich diese Neuronen genauer an und aktivierten sie künstlich. Es zeigte sich: Die Mäuse legten in diesem Fall das bereits bekannte Verhalten an den Tag – obwohl sie eigentlich gar nicht hungrig waren.

Gesteuert von 300 Neuronen

Um herauszufinden, welche Subpopulation der AgRP-Neuronen für den Einfluss von Hunger- auf Schmerzsignale verantwortlich ist, schaltete das Team die unterschiedlichen Gruppen von Neuronen im Experiment nacheinander an. Dabei stellten sie fest: Die Stimulation einer winzigen Population von Hirnzellen im sogenannten parabrachialen Nucleus unterdrückte den Entzündungsschmerz offenbar deutlich.

„Nur rund 300 von Milliarden Neuronen im Gehirn steuern dieses spezifische Verhalten“, berichtet Betley. Weitere Experimente zeigten schließlich, dass ein Neurotransmitter namens NPY die Weiterleitung von Schmerzsignalen bei diesen Neuronen unterdrückt. Blockierten die Forscher Rezeptoren für diesen Botenstoff, kam der Schmerz trotz Hunger zurück.

Hierarchie sichert Überleben

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass es im Gehirn eine Art Hierarchie gibt, nach dem Verhalten priorisiert wird“, konstatiert Betley. „Es entsteht eine Konkurrenzsituation zwischen unterschiedlichen Reizen, bevor so etwas wie Schmerz überhaupt wahrgenommen wird.“

Die Natur hat auf diese Weise eine geschickte Strategie implementiert: Sie stellt sicher, dass Tiere nach Futter suchen, auch wenn sie chronische Schmerzen haben – und dabei trotzdem noch sinnvoll auf akute Schmerzreize reagieren. Oder anders ausgedrückt: Dass sie das tun, was für ihr Überleben am wichtigsten ist.

Neuer Ansatz für Therapien?

Auf lange Sicht könnten sich diese Erkenntnisse auch auf den Umgang mit Schmerzen beim Menschen auswirken, hoffen die Wissenschaftler. „Gibt es einen ähnlichen Schaltkreis bei uns, eröffnen sich dadurch womöglich neue Ansätze für die Therapie von chronischen Schmerzen“, schließen sie. (Cell, 2018; doi: 10.1016/j.cell.2018.02.057)

(Cell Press/ University of Pennsylvania, 26.03.2018 – DAL)

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