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Neurologie

Der Mann, der keine Zahlen sieht

Ungewöhnliche Hirnstörung verhindert Wahrnehmung von Ziffern, nicht aber von Buchstaben

Zahlenblind
Zeigt man dem Patienten R.F.S. diese orangefarbene 8, sieht er nur schwarze "Spaghetti" auf orangenem Grund. © Johns Hopkins University

Mysteriöse „Zahlenblindheit“: Neuroforscher berichten von einem einzigartigen Phänomen – einem Mann, der trotz intaktem Sehsinn die Ziffern 2 bis 9 nicht erkennen kann. Sie erscheinen ihm als chaotische „Spaghetti“. Doch Buchstaben, die Ziffern 0 und 1 und auch römische Ziffern sieht er völlig normal. Dieser Fall und seine neurologischen Hintergründe werfen ein ganz neues Licht auf unsere visuelle Wahrnehmung, wie die Forscher berichten.

Langläufiger Meinung nach funktioniert unser Sehen ähnlich wie eine Kamera: Unser Auge registriert visuelle Reize und sendet sie ans Gehirn weiter – fertig. Doch in Wirklichkeit fängt in diesem Moment der Sehprozess erst richtig an. Denn in unserem Gehirn beginnt nun eine komplexe Kaskade von Interpretationen und Assoziationen, durch die wir erkennen, ob wir eine Blume, ein bekanntes Gesicht oder einen Text vor uns haben.

Und nicht nur das: Unser Sehsinn kann uns auf vielfältige Weise täuschen. Er kann uns Seheindrücke vorgaukeln, die nicht da sind, wie beispielsweise bei Halluzinationen. Umgekehrt gibt es Menschen, deren Sehfähigkeit völlig intakt ist, die aber trotzdem nichts sehen. Bei „Blindsehern“ wiederum ist das primäre Sehzentrum stark geschädigt, dennoch nehmen sie unbewusst Dinge wahr.

Zahlen 2 bis 9 erscheinen als „schwarze Spaghetti“

Doch nun berichten Forscher um Teresa Schubert von der Harvard University von einem Fall, der all diese Phänomene noch weit übertrifft. Es handelt sich um einen 60-jährigen Mann, der vor acht Jahren mit einer seltsamen Sehstörung bei den Neurologen vorstellig wurde. Nach einer Art Anfall, gefolgt von fortschreitenden Schäden in verschiedenen Hirnarealen, konnte er plötzlich die Zahlen 2 bis 9 nicht mehr erkennen.

„Wenn man ihm eine Zahl zwischen 2 und 9 zeigte, war R.F.S. außerstande, diese Ziffer oder auch nur ihre Form zu erkennen“, berichten die Forscher. „Er sah stattdessen nur ein Knäuel schwarzer Linien – ähnlich wie Spaghetti.“ Das galt für kleine gedruckte Ziffern genauso wie für riesige Schaumstoff-Zahlen. Und auch Zahlenkombinationen erscheinen dem Mann seither nur noch als chaotische Knäuel. Weil diese „Spaghetti“ selbst bei der gleichen Ziffer jedes Mal anders aussehen, ist er praktisch zahlenblind.

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Buchstaben sowie 0 und 1 sind nicht betroffen

Das Merkwürdige jedoch: „Der Patient hat keinerlei Schwierigkeiten, die Ziffern 0 und 1 zu erkennen, zu kopieren oder zu verstehen“, berichten Schubert und ihr Team. Und auch Buchstaben oder typografische Zeichen wie #, $ oder + sind von seiner Zahlenblindheit offenbar nicht betroffen, wie Tests ergaben. Selbst rechnen kann der Mann – sofern er die Zahlen statt in arabischen Ziffern als römische Ziffern oder ausgeschriebene Zahlenwörter schreibt.

Demnach ist die Zahlenblindheit von R.F.S. hoch selektiv – was sie umso rätselhafter macht: „Wenn er eine Zahl ansieht, muss sein Gehirn ja zunächst feststellen können, dass es sich um eine der betroffenen Ziffern handelt und nicht um etwas anderes – das ist wirklich ein Paradox“, sagt Seniorautor Michael McCloskey von der Johns Hopkins University in Baltimore. Dies Befunde legten nahe, dass der Sehsinn des Mannes intakt sein muss, aber dass die Zahlen aus irgendeinem Grund nur verzerrt in sein Bewusstsein vordringen.

Gehirn sieht, aber das Bewusstsein nicht

Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, haben die Neurowissenschaftler den rätselhaften Patienten im Verlauf der letzten acht Jahre begleitet und einer Reihe neurologischer Tests unterzogen. „Wir wollten wissen, welche Verarbeitungsprozesse außerhalb seiner Wahrnehmung ablaufen“, so McCloskey. Dafür zeichneten sie unter anderem die Hirnströme von R.F.S. auf, während er Zahlen mit und ohne eingebettete Wörter oder Bilder anschaute.

Zahlenblind 2
Obwohl 6 und G sehr ähnlich aussehen, erkennt R.F.S. zwar die im Buchstaben eingebettete Nase, nicht aber die Zahl mit der Birne. © Schubert et al. /PNAS

Dabei zeigte sich ein weiterer erstaunlicher Effekt: Die Zahlenblindheit überträgt sich auch auf Formen direkt auf oder neben den Ziffern. So blieb ein in eine der blinden Ziffern eingebettetes Gesicht für den Mann unsichtbar. Das Überraschende jedoch: Seine Hirnströme enthüllten, dass sein Gehirn auf das Gesicht reagierte. Es erzeugte das gleiche Signal wie beim Anblick eines normalen, in einen Buchstaben oder solo gezeigten Gesichts.

Einen ähnlichen Effekt beobachteten die Neurologen, als sie kleine Wörter in große Buchstaben oder Zahlen integrierten. Auch dann verrieten die Hirnströme des Patienten, dass sein Gehirn alle Komponenten sah – obwohl R.F.S bei den in Ziffern eingebetteten Wörtern nur Spaghetti sah. „Er konnte sie nicht erkennen, obwohl sein Gehirn nicht nur die Präsenz eines Wortes detektierte, sondern sogar identifizierte, welches Wort es war“, so Schubert.

Integration gestört

Wie aber ist dieses Phänomen neurologisch zu erklären? Und warum ist es so hochgradig selektiv? Die Neurologen vermuten, dass das Problem in der Integration der visuellen Informationen liegt. „Normalerweise sehen wir die Welt schon in Form interpretierter Objekte – eine ‚8‘ erscheint uns direkt als schwarze Acht und nicht als Sammlung roher Seheindrücke wie ’schwarz‘ und ‚kurvig'“, erklären die Forscher. „Die Identität eines Symbols oder Worts ist schon mit seinen physikalischen Merkmalen wie Farbe, Größe und Form verknüpft.“

Doch bei R.F.S. scheint genau diese Integration nicht zu funktionieren. Sein Gehirn kann zwar anhand der Merkmale noch zwischen Ziffern und Buchstaben unterscheiden und auch die darin eingebetteten Objekte. „Demnach kann das Gehirn solche komplexen Formen wie Gesichter oder Wörter auch unterbewusst identifizieren“, so Schubert und ihre Kollegen. Doch die Signale, die danach ins Bewusstsein weitergeschickt werden, sind bei den Ziffern offenbar verzerrt und fehlerhaft.

Das aber wirft ein ganz neues Licht auf die Verarbeitung komplexer Seheindrücke, wie die Wissenschaftler erklären. Denn bisher ging man davon aus, dass diese höhere Wahrnehmung untrennbar mit dem Bewusstsein verknüpft ist. Doch der einzigartige Fall des zahlenblinden Mannes belegt nun, das dem offenbar nicht so ist. (Proceedings of National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.2000424117)

Quelle: Johns Hopkins University

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