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Medizin

Corona: Wie der Tönnies-Ausbruch zustande kam

Ansteckungsgeschehen in der Fleischfabrik schuf neue Viren-Mutante

Fleischfabrik
Die starke Kühlung und Luftumwälzung in der Fleischfabrik ermöglichten eine Ansteckung über mehr als acht Meter hinweg. © Kutredrig/ iStock.com

Superspreader identifiziert: Forscher haben herausgefunden, wie es zu dem massiven Coronavirus-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies kam. Demnach wurde das Virus von nur einem Mitarbeiter eingeschleppt, der dann am Arbeitsplatz mehr als 60 Prozent seiner Kollegen im Acht-Meter-Umkreis ansteckte. Gleichzeitig entstand dabei eine neue Variante von SARS-CoV-2, deren acht Mutationen bislang weltweit einzigartig sind.

Fleischfabriken und Schlachthöfe sind nicht erst seit dem Ausbruch bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück potenzielle Corona-Hotspots. Schon vor Monaten gab es auch in den USA und in anderen Ländern hunderte Fälle von Covid-19 in solchen Betrieben. Seither besteht der Verdacht, dass vor allem die Kühlung der Räume und die geringen Abstände beim Arbeiten eine Virusverbreitung fördern. Denn bei Kälte können sich virushaltige Aerosole besonders lange in der Luft halten.

Spurensuche in der Fleischfabrik

Allerdings: Auch die oft beengten Wohnbedingungen der meist über Subunternehmer aus Osteuropa angeworbenen Arbeiter bei Tönnies und in anderen Fleischbetrieben könnten lokale Ausbrüche von SARS-CoV-2 begünstigen. Wo sich die Virenübertragungen in diesen Hotspots ereignet haben, blieb daher bislang unklar.

Für den Ausbruch bei Tönnies haben dies nun Forscher um Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig untersucht. Dafür werteten sie die PCR-Tests aus, die seit Mai in der Fleischfabrik Tönnies und in einem Schweinezerlegungsbetrieb im 30 Kilometer entfernt liegenden Dissen gemacht wurden, und führten ergänzende Untersuchungen vor Ort durch. Zudem analysierten und verglichen die Forscher das Erbgut der bei den infizierten Mitarbeitern gefundenen Coronaviren.

Ein Tönnies-Mitarbeiter als „Superspreader“

Das Ergebnis: Ausgangspunkt des Tönnies-Ausbruchs waren infizierte Mitarbeiter im benachbarten Schweinezerlegungsbetrieb. Dort waren schon im Mai 2020 die Tests auf SARS-CoV-2 bei 94 von 279 getesteten Arbeitern positiv ausgefallen. Zu dieser Zeit hatten zwei Mitarbeiter aus der Frühschicht von Tönnies Kontakt mit potenziell infizierten Kollegen aus dem Dissener Betrieb, wie sie der Fabrikleitung zwei Tage später meldeten. Beide wurden darauf hin getestet und erwiesen sich ebenfalls als infiziert.

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„Das Timing der Ereignisse legt nahe, dass diese beiden Mitarbeiter – B1 und B2 – der wahrscheinlichste Ausgangspunkt des frühen Infektionsclusters bei Tönnies waren“, berichten die Forscher. Genetische Analysen ergaben jedoch, dass der Mitarbeiter B1 der sogenannte Index-Fall gewesen sein muss. Von ihm als „Superspreader“ ging offenbar ein Großteil der weiteren Ansteckung aus.

Zwar gingen er und sein Kollege vier Tage nach ihrer wahrscheinlichen Ansteckung in Quarantäne, doch offenbar war es da schon zu spät. Sie hatten das Virus bereits an Kollegen ihrer Frühschicht in der Rinderzerlegung von Tönnies weitergegeben, wie Brinkmann und ihr Team feststellten.

Ansteckung über gut acht Meter hinweg

Doch wo und wie fand die Übertragung statt? Aus den Daten geht hervor, dass die Unterbringung und der gemeinsame Transport der Arbeiter zum Arbeitsplatz kaum eine Rolle für die frühe Virenausbreitung spielten. Stattdessen konnten die Forscher den Hotspot der Übertragungen auf die Rinderzerlegehalle bei Tönnies zurückverfolgen. Dort wird die Luft durch eine Klimaanlage auf zehn Grad gekühlt und fortwährend umgewälzt. Beides begünstigte die Verteilung der virenhaltigen Aerosole im Raum.

Konkret wurde das Coronavirus dadurch im Umkreis von mehr als acht Metern vom Indexfall B1 auf die umstehenden Arbeiter übertragen, wie die Forscher ermittelten. Demnach förderten die Kühlung, Luftumwälzung und geringe Frischluftzufuhr, kombiniert mit der anstrengenden körperlichen Arbeit, die Verbreitung der virenhaltigen Aerosole über diese größeren Entfernungen hinweg.

„Unter diesen Bedingungen ist ein Abstand von 1,5 bis 3 Metern alleine ganz offenbar nicht ausreichend, um eine Übertragung zu verhindern“, sagt Koautor Adam Grundhoff vom Heinrich-Pette-Institut in Hamburg.

Einzigartige Kombination von acht Mutationen

Die genetische Analysen enthüllten zudem, dass dieser Indexfall und die ersten Covid-19-Fälle im Mai auch der Ursprung für den späteren großen Ausbruch bei Tönnies waren. Denn die Vergleiche der viralen RNA ergaben, dass der zuerst infizierte Mitarbeiter einen Virentyp mit einer einzigartigen Kombination von acht Mutationen in sich trug – und diese an fast alle späteren Fälle bei Tönnies weitergab.

„Diese acht Mutationen finden sich in fast 100 Prozent aller Proben“, konstatieren die Wissenschaftler. Sechs von diesen Genveränderungen waren zuvor schon bekannt und kommen in rund 17 Prozent aller weltweit analysierten SARS-CoV-2-Isolate vor. Die beiden restlichen Mutationen jedoch sind neu. „In Kombination repräsentieren die acht Mutationen daher einen neuen Subtyp dieser Linie, die als prototypische Gensignatur diesen Infektionscluster kennzeichnet“, so Brinkmann und ihre Kollegen.

Die gleiche Kombination von Mutationen wiesen die Forscher auch in Proben aus der Zeit zwischen dem ersten Infektionscluster und dem nachfolgenden, viel größeren Ausbruch im Juni nach – eine Beobachtung, die auf ein fortlaufendes Ausbruchsgeschehen hindeutet.

Gefahr auch in anderen Branchen?

Nach Ansicht der Wissenschaftler unterstreichen diese Ergebnisse, dass gerade die Bedingungen in Fleisch- oder Fischfabriken besonders risikoträchtig für eine Übertragung von SARS-CoV-2 sind. Überall dort, wo die Luft gekühlt und umgewälzt wird, könnte demnach eine erhöhte Infektionsgefahr bestehen – und dies weit über den Sicherheitsabstand von zwei Metern hinaus.

„Es stellt sich nun die wichtige Frage, unter welchen Bedingungen Übertragungsereignisse über größere Entfernungen auch in anderen Lebensbereichen möglich sind“, sagt Brinkmann. (SSRN, Preprint)

Quelle: Heinrich-Pette-Institut – Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI)

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