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Medizin

Corona: Was hat der Lockdown gebracht?

Analyse des Epidemieverlaufs zeigt drei klare Stufen, die den Maßnahmenschritten entsprechen

Corona-Pandemie
Was verrät der Epidemieverlauf über die Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen in Deutschland? ©ffikretow/ iStock.com

Zufall oder Folge der Maßnahmen? Die befürchtete große Welle der Coronavirus-Infektionen ist hierzulande ausgeblieben. Ob das tatsächlich an den Gegenmaßnahmen liegt, hat nun ein Forscherteam überprüft. Das Ergebnis: In den Fallzahlen sind klar drei Stufen der Abnahme zu erkennen – und diese stimmen zeitlich mit den drei in Deutschland getroffenen Maßnahmenpaketen überein, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin „Science“ berichten.

Auch wenn inzwischen das öffentliche Leben wieder langsam Fahrt aufnimmt und viele Maßnahmen gelockert wurden: Der Shutdown gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie hat erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen. Ziel der Maßnahmen war es, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu bremsen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Tatsächlich ist die befürchtete große Welle der Infektionen weitgehend ausgeblieben.

Zufall oder Folge der Maßnahmen?

Das jedoch weckt bei einigen Menschen nun Zweifel darüber, ob die harten Maßnahmen überhaupt nötig waren: Wäre die Epidemie möglicherweise ohnehin weniger dramatisch ausgefallen als es anfänglich postuliert wurde? Wissenschaftler bezeichnen diese Zweifel als Präventionsparadox: Gerade weil vorbeugende Maßnahmen greifen, gibt es keine Belege ihrer Wirksamkeit.

Doch gerade in Deutschland gibt es eine Möglichkeit, die Wirksamkeit der Maßnahmen auf den Verlauf der Coronavirus-Ausbreitung zu überprüfen: Weil das öffentliche Leben in drei zeitlich getrennten Schritten heruntergefahren wurde, kann man für jedes dieser Maßnahmenpakete nachvollziehen, ob es einen Einfluss auf die Übertragungsrate und die Zahl der Neuinfektionen hatte.

Blick zurück auf den deutschen Corona-Verlauf

Genau dies haben nun Forscher um Jonas Dehning vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen untersucht. Für ihre Studie werteten sie die Covid-19-Fallzahlen in Deutschland in vier Phasen der Epidemie aus: Vor Beginn der Maßnahmen, nach der Absage großer öffentlicher Veranstaltungen um den 8. März 2020, nach der Schließung von Bildungseinrichtungen und vielen Geschäften am 16. März und nach der weitreichenden Kontaktsperre am 22. März.

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Für ihre Auswertung berücksichtigten die Forscher eine Meldeverzögerung von im Mittel fünf bis sechs Tagen bis zum Auftreten erster Symptome sowie zwei bis drei Tagen bis zum Erhalt des Testergebnisses. Mithilfe eines epidemiologischen Modells ermittelten die Forscher dann die Ausbreitungsrate des Coronavirus in Form mehrerer Kennzahlen, darunter die Reproduktionsrate und die Wachstumsrate.

Die Reproduktionsrate gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Verlauf seiner Erkrankung ansteckt. Ist sie bei eins, steckt jeder Patient einen weiteren an und die Zahl der Fälle bleibt demnach gleich. Sinkt sie unter eins, geht die Zahl der Infizierten zurück. Die Wachstumsrate gibt die Zahl der Neuinfektionen minus der Zahl der Genesenen an. „Wenn die effektive Wachstumsrate größer ist als Null, steigen die Fallzahlen exponentiell, ist sie kleiner als Null, dominiert die Genesung und neue Fälle gehen zurück“, erklären Dehning und sein Team.

Drei Stufen der Eindämmung sichtbar

Das Ergebnis: „Wir haben klare Belege für drei Veränderungspunkte im Epidemieverlauf gefunden“, berichten die Forscher. Der erste dieser Wendepunkte ereignete sich etwa ab dem 7. März 2020 und halbierte die Wachstumsrate. „Dieses Datum stimmt mit dem Timing der ersten Regierungsmaßnahmen überein, zu denen die Absage von Großveranstaltungen gehörte, aber auch mit der erhöhten Wachsamkeit der Bevölkerung“, berichten Dehning und sein Team. Aufgeschreckt durch die dramatischen Nachrichten und Bilder aus Italien wurden viele Menschen bereits vorsichtiger.

Die zweite in den Fallzahlen erkennbare Stufe folgte um den 16. März. „Dieser zweite Change Point passt zum Timing des zweiten Maßnahmenpakets, bei dem Schulen und einige Geschäfte geschlossen wurden“, so die Forscher. Diese Maßnahmen senkten die Wachstumsrate auf nur noch ganz knapp über Null.

Den dritten Einschnitt gab es den Daten zufolge am 24. März. „Dieses Datum passt zum Inkrafttreten des dritten Maßnahmenpakets mit den Kontaktsperren und der Schließung aller nicht essenzieller Geschäfte“, sagen Dehning und sein Team. „Erst nach dieser dritten Intervention sank die mittlere Wachstumsrate unter Null und zeigte so ein Absinken der Neuinfektionen an.“

Beleg für Wirksamkeit der Maßnahmen

Nach Ansicht der Wissenschaftler sprechen ihre Ergebnisse dafür, dass die Eindämmungsmaßnahmen eine konkrete, nachvollziehbare Wirkung hatten. „Wir haben nach jeder dieser Maßnahmen und der entsprechenden Verhaltensänderung der Bevölkerung eine deutliche Reduktion der Ausbreitungsrate festgestellt“, so Dehning und sein Team. „Unsere Ergebnisse zeigen aber auch, dass das volle Ausmaß der Maßnahmen nötig war, um das exponentielle Wachstum zu stoppen.“

Das bedeutet: So schmerzhaft und beschränkend der Shutdown der letzten Wochen war – er hat gewirkt. Denn ohne diese Maßnahmen hätte sich das Coronavirus auch in Deutschland sehr viel schneller und drastischer ausgebreitet, wie die Modellrechnungen nahelegen.

Welche Folgen haben die Lockerungen?

Wie sich nun die Corona-Pandemie und die Covid-19-Fallzahlen weiter entwickeln werden, ist allerdings noch unklar. „Die ersten Effekte der Lockerungen vom 20. April sehen wir erst seit Kurzem in den Fallzahlen“, erklärt Dehnings Kollege Michael Wilczek. „Und bis wir die Lockerungen vom 11. Mai bewerten können, müssen wir ebenfalls zwei bis drei Wochen warten.“

Die Forschenden beobachten deswegen die Situation weiterhin ganz genau. Täglich werten sie die neuen Fallzahlen aus um abzuschätzen, ob eine zweite Welle zu erwarten ist. „Wie genau sich die Zahlen in Zukunft entwickeln, hängt entscheidend von unserem Verhalten, dem Einhalten von Abstandsempfehlungen und den Hygienemaßnahmen ab“, ergänzt Viola Priesemann. (Science, 2020; doi: 10.1126/science.abb9789)

Quelle: Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

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