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Medizin

Amnesie-Fall verblüfft selbst Neurologen

Ein Mann lebt den gleichen Tag immer wieder und vergisst alles nach 90 Minuten

Rätselhafte Amnesie: Nach 90 Minuten hat der Patient alles vorherige vergessen © Anilakkus/ iStock.com

Ein solcher Fall war selbst Forschern bisher unbekannt: Ein 38-Jähriger Mann entwickelt nach einer normalen Wurzelbehandlung eine Gedächtnisstörung, die ihn nach 90 Minuten alles Erfahrene wieder vergessen lässt. Und nicht nur das: Er wacht seit zehn Jahren jeden Morgen auf und glaubt, es wäre der Tag seines Zahnarzt-Termins. Was an Filme wie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert, ist für den Mann jedoch traurige Realität.

Fälle von Menschen, die sich nichts Neues mehr merken können, gibt es gerade nach Hirnschädigungen häufiger. Ist beispielsweise der Hippocampus geschädigt, dann können die Betroffenen keine Erinnerungen mehr ins Langzeitgedächtnis übertragen. Nach wenigen Sekunden bis Minuten vergessen sie alles wieder. Doch Fälle, bei denen eine solche Störung des Gedächtnisses ohne manifestierte Hirnschäden auftritt, sind extrem selten.

„So etwas haben wir noch nie zuvor gesehen“

Einen solchen Fall stellt Gerald Burgess von der University of Leicester nun vor – in der Hoffnung, von Kollegen oder möglichen weiteren Betroffenen etwas über ähnliche Fälle und deren mögliche Ursache zu erfahren. „Wir haben so etwas noch nie zuvor gesehen und wissen schlicht nicht, was wir tun sollen“, so der Neurologe.

Die Geschichte beginnt vor zehn Jahren: Der 38-jährige Mann ging damals zu einem Termin beim Zahnarzt, um sich einer Wurzelbehandlung zu unterziehen. Er bekam eine Lokalanästhesie und nach einer Stunde war die Behandlung abgeschlossen. Doch der Patient war blass, benommen, konnte nicht selbst aufstehen und sprach langsam und verwaschen. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, ohne dass dort jedoch ein körperliches Leiden oder eine Auffälligkeit am Gehirn festgestellt werden konnte.

Nach 90 Minuten ist Schluss

Nach einigen Stunden zeigte sich, dass der Mann unter einer anterograden Amnesie leidet: Er kann sich seither Dinge nur noch rund 90 Minuten lang merken. „Er kann durchaus Neues lernen, aber wenn diese Informationen nicht innerhalb dieser Zeitspanne rekapituliert werden, verliert er sie für immer“, erklärt Burgess. „Seinen Alltag bewältigt der Patient seither nur noch mit Hilfe von ständigem Nachschauen in einem elektronischen Tagebuch und Notizen.“

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Bei Fällen ähnlicher Amnesie ist oft der Hippocampus geschädigt oder zerstört - nicht so bei diesem Patienten. © gemeinfrei

Das Seltsame daran: Diese Zeitspanne ist eigentlich zu lang. Denn wenn die Übertragung von Informationen vom Arbeitsgedächtnis an das Langzeitgedächtnis nicht funktioniert, müsste die Merkspanne nur wenige Sekunden bis Minuten anhalten. Hinzu kommt: Patienten mit solchen Gedächtnisstörungen können sich normalerweise zwar keine expliziten Informationen mehr merken, aber sehr wohl noch neue Bewegungsabläufe und andere implizite Fertigkeiten erlernen – nicht jedoch dieser Patient.

Immer im gleichen Tag gefangen

Seltsam auch: Der Mann scheint wie in einer Zeitschleife gefangen, in jeder Nacht wird alles, was er am Tag zuvor erlebt hat, ausgelöscht. „Jeden Morgen denkt er, es wäre der Tag seines Zahnarzt-Termins“, berichtet Burgess. „Er weiß sehr wohl, wer er ist und kennt seine Familienmitglieder, aber er erwartet, dass jeder noch das Alter hat, das er im März 2005 hatte.“

Auffallend ist allerdings, dass der Patient sich in zwei Ausnahmefällen Dinge länger merken konnte: Er weiß, dass sei Vater gestorben ist, obwohl dies kurz nach Beginn seiner Amnesie geschah. Und er konnte sich die Geburt des Kindes eines engen Verwandten immerhin 24 Stunden lang merken, bevor er auch das wieder vergaß.

Ursache rätselhaft

Die Neurologen stehen vor einem Rätsel, denn weder im Gehirn des Mannes noch in seiner Vorgeschichte lassen sich Hinweise auf eine körperliche oder psychische Ursache dieser Amnesie finden. „Ohne bilaterale Schäden am Hippocampus oder dem Diencephalon, die normalerweise solche schweren Amnesien hervorrufen, können wir über die Ursachen dieses Falles nur spekulieren.“

Einen Zusammenhang mit der Wurzelbehandlung und der Lokalanästhesie können die Wissenschaftler zwar nicht ausschließen, sie halten es aber für sehr unwahrscheinlich. „Der Behandlung die Schuld zu geben, wäre an diesem Punkt unethisch und eine grundlose Panikmache – es gibt einfach nicht genügend Belege“, betont Burgess. „Ich denke, der wahre Grund liegt anderswo.“

Eine mögliche Erklärung wäre ein Fehler in der Synthese der Proteine, die für den Umbau der Synapsen im Gehirn und damit für das permanente Speichern der Erinnerungen im Langzeitgedächtnis gebraucht werden. „Die 90-Minuten-Zeitspanne bei diesem Patienten stimmt gut mit der Zeit überein, zu der diese Proteinsynthese stattfindet“, sagt Burgess. „Hinzu kommt, dass ein solcher Fehler sowohl das episodische als auch das prozedurale Gedächtnis stören würde – und das ist bei diesem Patienten der Fall.“

Aber auch das ist im Moment nicht viel mehr als eine Hypothese, wie die Forscher betonen. Sie hoffen nun, dass sich auf die Vorstellung dieses Falles hin Menschen melden, die ähnliche Fälle kennen oder Kollegen, die zur Aufklärung dieses rätselhaften Falles beitragen können. (Neurocase: The Neural Basis of Cognition, 2015; doi: 10.1080/13554794.2015.1046885)

(University of Leicester, 15.07.2015 – NPO)

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