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Physik

W-Boson widerspricht dem Standardmodell

Masse des Elementarteilchens ist deutlich höher als sie sein dürfte

Teilchenspuren
Aus Teilchenzerfällen im Tevatron-Beschleuniger haben physiker die Masse des W-Bosons neu ermittelt – so genau wie nie zuvor (Illustration). © Petrovich9/ Getty images

Mysteriöse Diskrepanz: Physiker haben die Masse des W-Bosons so genau wie nie zuvor bestimmt – und klare Abweichungen vom Standardmodell der Physik gefunden. Das Trägerteilchen der schwachen Kernkraft ist demnach signifikant schwerer als es der Theorie nach sein dürfte, wie das Team in „Science“ berichtet. Diese Abweichung könnte darauf hindeuten, dass das Standardmodell unvollständig ist und dass es Kräfte oder Teilchen jenseits der bekannten Physik gibt.

Das 1983 entdeckte W-Boson ist eines der fundamentalen Elementarteilchen im Standardmodell der Physik. Denn es gehört zu den Trägerteilchen der physikalischen Grundkräfte und vermittelt zusammen mit dem Z-Boson die schwache Kernkraft. Diese wirkt immer dann, wenn Atome zerfallen oder miteinander verschmelzen – beispielsweise beim radioaktiven Betazerfall oder der Fusion von Wasserstoffkernen in der Sonne.

Teilchenmodell
Das W-Boson gehört im Standardmodell zu den Trägerteilchen der Grundkräfte und ist der Mittler der schwachen Kernkraft. © Fermilab

Dem Standardmodell der Physik nach muss das W-Boson ein echtes Schwergeweicht sein und etwa 80-mal mehr Masse aufweisen ein Proton. Dies ergibt sich aus theoretischen Berechnungen zu seiner Interaktion mit anderen Teilchen wie dem Higgs-Boson, dem Top-Quark und auch der Ladung des Elektrons. Treffen diese zu, müsste das W-Boson eine Masse von 80,357 Megaelektronenvolt besitzen – aber tut es das auch?

4,2 Millionen Zerfälle als Datenbasis

Das haben nun Physiker der CDF-Kollaboration am Fermi National Accelerator Laboratory in den USA überprüft. Ihre Messung beruht auf Daten des Tevatron-Teilchenbeschleunigers, in dem Protonen und Antiprotonen mit hoher Geschwindigkeit zur Kollision gebracht wurden. Bei diesen Kollisionen entstehen W-Bosonen, die nach kurzer Zeit entweder in ein Elektron und Neutrino oder ein Myon und Neutrino zerfallen. Aus der Flugrichtung und Energie dieser Zerfallsprodukte lässt sich ermitteln, wie schwer das W-Boson gewesen sein muss.

Für ihre Studie haben die Wissenschaftler mehr als 4,2 Millionen solcher Zerfälle ausgewertet, die im Tevatron zwischen 1985 und 2011 registriert worden waren. „Dieser Datensatz ist viermal so groß wie bei früheren Messungen und hat eine doppelt so hohe statistische Genauigkeit“, erklärt CDF-Physiker Ashutosh Kotwal von der Duke University. „Wir haben unser Ergebnis einer enormen Menge an Überprüfungen und Tests unterzogen.“ Dazu gehörte auch, dass die Auswertung blind erfolgte – die beteiligten Wissenschaftler wussten nicht, welchen Wert sie da überprüften.

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Schwerer als das Standardmodell erlaubt

Das überraschende Ergebnis: Den Tevatron-Messungen zufolge hat das W-Boson eine Masse von 80,4335 Megaelektronenvolt – und ist damit deutlich schwerer als es sein dürfte. Die Diskrepanz zwischen dem neuen, bisher präzisesten Messwert und der vom Standardmodell vorhergesagten Masse entspricht einer Signifikanz von sieben Sigma, wie die Physiker berichten. Sie liegt damit weit über den in der Teilchenphysik für eine Entdeckung geforderten fünf Sigma.

Boson-Massen
Bisher gemessene Massen für das W-Boson im Vergleich zur Standardmodell-Vorhersage. © CDF collaboration

Diese Messung stellt damit das Standardmodell der Physik in Frage und bestätigt gleichzeitig frühere Messungen. Denn einige der dabei ermittelten Massen für das W-Boson lagen ebenfalls höher als die vom Standardmodell vorhergesagten Werte. Allerdings gab es auch einige wenige Messungen, darunter eine vom ATLAS-Detektor am Large Hadron Collider (LHC) des CERN, die keine signifikanten Abweichungen feststellen konnten.

Hinweis auf neue Physik?

Das aktuelle Resultat wirft damit einige Fragen auf. „Der überraschend hohe Wert für die W-Boson-Masse steht im Widerspruch zu einem fundamentalen Element im Herzen des Standardmodells“, schreiben Claudio Campagnari von der University of California und Martijn Mulders vom CERN in einem begleitenden Kommentar in „Science“. „Er betrifft theoretische Vorhersagen und experimentell beobachtete Daten, die bisher als etabliert und gut verstanden galten.“

Das könnte bedeuten, dass das Standardmodell nicht vollständig ist und korrigiert werden muss. „Jetzt müssen die theoretischen Physiker sowie andere Experimente dies weiter verfolgen und Licht auf dieses Mysterium werfen“, sagt CDF- Sprecher David Toback von der Texas A&M University. Das sehen auch Campagnari und Mulders so: „Außergewöhnliche Thesen erfordern auch außergewöhnlich gute Beweise. Daher müssen die Resultate der CDF-Kollaboration erst durch weitere Experimente unabhängig bestätigt werden.“

Doch sollte sich die höhere Masse des W-Bosons bestätigen, dann wäre dies ein mögliches Indiz für noch unerkannte, über das Standardmodell hinausgehende physikalische Prozesse. „Wenn die Diskrepanzen zwischen erwartetem und gemessenem Wert auf ein neues Teilchen oder eine noch unbekannte subatomare Wechselwirkung zurückgehen, dann besteht eine gute Chance, dass sie in künftigen Experimenten entdeckt werden“, so Toback. (Science, 2022; doi: 10.1126/science.abk1781)

Quelle: DOE/ Fermi National Accelerator Laboratory

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