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Gesellschaft

Starke Götter als Kitt der Hochkulturen

Moralisierende Religionen entstanden erst nach dem Aufkommen komplexer Gesellschaften

Religion
Religionen mit strengen Moralvorgaben und Gottheiten stärkten den Zusammenhalt in komplexen, multiethnischen Hochkulturen. (Bild: imagineGolf/ iStock.com)

Warum und wann haben sich Religionen mit starken Göttern und strengen Moralregeln entwickelt? Darauf haben Forscher nun eine überraschende Antwort gefunden. Denn entgegen gängiger Annahme waren solche Religionen nicht die Triebkraft für die Entwicklung komplexer Gesellschaften, sondern eher ihr Kitt: Sie entstanden erst nach den komplexen Großreichen, sorgten dann aber dafür, dass diese Sozialgebilde auf Dauer stabil blieben, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Ob Christentum, Islam, Judentum oder Buddhismus: In vielen großen Weltreligionen gibt es strenge moralische Gebote und starke Gottheiten, die ihren Gläubigen bestimmte Regeln auch im sozialen Umgang untereinander auferlegen. Das Auffallende daran: Religionen mit starken moralisierenden Gottheiten haben sich vor allem in Hochkulturen entwickelt, aber nur selten bei Naturvölkern. Schon länger vermuten Wissenschaftler deshalb einen engen Zusammenhang zwischen der Umwelt, der gesellschaftlichen Komplexität einer Kultur und der Art ihrer Religion.

Triebkraft komplexer Kulturen?

Nach gängiger Hypothese könnte der Glaube an strenge, kontrollierende Gottheiten als Sozialkitt in den wachsenden Bevölkerungen der Hochkulturen gedient haben: Er minderte das Misstrauen zwischen sich eigentlich Fremden und schreckte „Sozialschmarotzer“ ab. Erst das könnte die Bildung großer, komplexer Gesellschaften ermöglicht haben. Ob aber die Religion wirklich die Triebkraft für Hochkulturen war, ist strittig – auch weil Studien bisher widersprüchliche Ergebnisse lieferten.

Deshalb haben nun Harvey Whitehouse von der University of Oxford und sein Team eine der bisher umfangreichsten Studien zu dieser Thematik durchgeführt. Sie werteten dafür standardisierte historische Daten für 414 Kulturen in 30 verschiedenen Regionen der Erde aus – von der Jungsteinzeit bis zum Beginn der industriellen Revolution. Aus 51 kulturellen und sozialen Parametern erstellten sie einen Index der jeweiligen gesellschaftlichen Komplexität und verglichen dann, ob und wann diese Kulturen eine moralisierende Religion entwickelten.

Erst Großreich, dann starke Götter

Das überraschende Ergebnis: Bei den zwölf Kulturen, bei denen moralisierende Religionen auftraten, gab es eine klare, aber unerwartete Abfolge: „Wir stellen fest, dass moralisierende Götter dem Entstehen komplexer Gesellschaften nicht vorangehen, sondern erst danach auftreten“, berichten Whitehouse und sein Team. „Das widerspricht den gängigen Hypothesen.“ Das Hauptwachstum der Kulturen fand im Schnitt mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen der moralisierenden Götter statt.

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Maat
Die ägyptische Gottheit Maat wog nach dem Tode die Herzen und gab strenge moralische Regeln vor. © historisch

In der Regel entwickelten sich die Religionen mit starken Gottheiten immer erst dann, wenn eine Kultur die Schwelle zur Megagesellschaft mit mehr als einer Million Menschen schon überschritten hatte. „Das erste Auftreten moralisierender Götter in unserer Probe war in Ägypten, wo das Konzept einer übernatürlichen Vollstreckung von Ordnung (Maat) um 2800 vor Christus dokumentiert ist“, berichten Whitehouse und seine Kollegen. Dem folgten weitere lokale Moral-Religionen in Mesopotamien, Anatolien und China.

Bindung in multiethnischen Reichen

„Machtvolle Götter und übernatürliche Strafen sind demnach keine Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Komplexität“, sagen Whitehouse und seine Kollegen. Stattdessen seien solche Religionen eher eine Art Kitt, der komplexe, multiethnische Gesellschaften auf Dauer zusammenhielt. „Sie könnten nötig gewesen sein, um die oft sehr unterschiedlichen Bevölkerungsteile solcher Großreiche unter einer höheren Macht zusammenzubinden“, so die Forscher.

Demnach sind komplexe Gesellschaften und starke Religionen tatsächlich verknüpft – nur etwas anders als bisher gedacht. Statt Triebkraft und Voraussetzung für die Bildung großer Reiche waren sie eher der Garant für deren Stabilität. Einen gemeinsamen Faktor allerdings gab es bei vielen Kulturen tatsächlich schon vor dem Sprung zur Hochkultur: die Existenz vorgegebener religiöser Rituale. Nach Ansicht der Forscher könnten sie eine wichtige Vorstufe für die moralisierenden Religionen gewesen sein. (Nature, 2019; doi: 10.1038/s41586-019-1043-4)

Quelle: Nature

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