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Psychologie

Sind Atheisten unmoralischer?

Vorurteil gegenüber Nichtgläubigen grassiert sogar unter Atheisten selbst

Neigen Menschen ohne Glauben an eine höhere Macht eher zu unmoralischem Handeln? Dem gängigen Vorurteil nach ist dies so. © ValoValo/ iStock.com

Tiefverwurzeltes Vorurteil: Menschen trauen einem Atheisten eher einen Mord oder eine andere unmoralische Tat zu als einem Gläubigen – und dies nahezu weltweit, wie eine Studie enthüllt. Die Forscher fanden dieses Vorurteil nicht nur in christlichen oder islamischen Ländern, sondern auch in hinduistischen, animistischen und stark säkular geprägten Kulturen. Besonders verblüffend: Selbst Atheisten schreiben ihresgleichen eher ein unmoralisches Verhalten zu.

Was bestimmt, ob wir moralisch denken und handeln? Ist es ein tiefverwurzelter menschlicher Instinkt? Oder eine Folge der Erziehung und Religion? Eine endgültige Antwort dafür ist bisher nicht gefunden. Studien zeigen aber, dass ein religiöses Umfeld längst nicht immer Garant für soziales und moralisches Handeln ist – sogar eher im Gegenteil. Zudem können Befehle unsere moralischen Überzeugungen untergraben und sogar die Tageszeit spielt für unser moralisches Verhalten eine Rolle.

Unbewusste Vorurteile im Test

Trotz solcher Erkenntnisse gilt landläufig die Religion noch immer als wichtige Richtschnur für die Moral. Im Umkehrschluss halten viele Menschen Atheisten eher zu unmoralischem Verhalten für fähig. Wie verbreitet dieses Vorurteil gegenüber Atheisten ist, haben Gervais und seine Kollegen nun erstmals kultur-, religions- und länderübergreifend ermittelt. Für ihre Studie befragten sie jeweils mehr als 100 Menschen in 13 verschiedenen Ländern auf fünf Kontinenten. Isngesamt waren es 3.256 Teilnehmner.

Alle Teilnehmer erhielten dabei zunächst die fiktive Beschreibung eines Mannes, der als Kind Tiere gequält hatte und als Erwachsener den Mord und die Verstümmelung von fünf Obdachlosen beging. Anschließend sollten sie angeben, wem sie dies eher zutrauten: einem Lehrer oder einem gläubigen Lehrer? In einer zweiten Fragevariante gab es die Wahl zwischen einem Lehrer und einem atheistischen Lehrer. „Auf diese Weise wurde keiner direkt danach gefragt, ob der Täter eher gläubig oder ungläubig ist“, erklären die Forscher.

War der Täter Atheist oder religiös? © gacolerichards/ iStock.com

Unmoral als „typisch“ atheistisch

Das Ergebnis: Das Bild des unmoralischeren Atheisten ist offenbar tiefer verwurzelt als bisher angenommen. Denn 58 Prozent der Teilnehmer hielten den Täter eher für einen Atheisten, nur 30 Prozent für einen religiösen Menschen. „Demnach halten Menschen extreme Unmoral bei einem Atheisten für doppelt so wahrscheinlich als bei einem Gläubigen“, so die Forscher.

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Wie tiefverwurzelt dieses Vorurteil ist, belegte ein Zusatzexperiment, in dem es um den sexuellen Missbrauch eines Priesters an einem Jungen ging. „Die Menschen gingen intuitiv davon aus, dass dieser Priester eher gar nicht an Gott glaubt, als dass er wirklich gläubig ist“, berichten die Wissenschaftler.

Vorurteil selbst unter Atheisten

Interessanterweise scheint dieses Vorurteil nur wenig von Kultur, der Religion oder dem Land beeinflusst. Denn unabhängig davon, ob die Befragten in christlich, moslemisch, hinduistisch oder säkular geprägten Ländern lebten, hielten sie den Täter mehrheitlich für einen Atheisten. „Dieser Effekt tritt selbst in stark säkularen Ländern wie China, Tschechien und den Niederlanden auf“, berichten Gervais und seine Kollegen.

Überraschend dabei: Selbst Atheisten halten ihresgleichen offenbar eher für unmoralisch. Als die Forscher gezielt nachschauten, wie die Atheisten unter ihren Teilnehmern geantwortet hatten, zeigte sich: Einem Atheisten schrieben 58 Prozent die Täterschaft zu, einem Gläubigen nur 28 Prozent. „Diese tief verwurzelte Misstrauen gegenüber der Moral von Atheisten deutet darauf hin, dass der Einfluss der Religion weiterhin dominiert, selbst unter Nichtgläubigen in säkularen Gesellschaften“, so die Forscher.

Prägt die Vorstellung einer strafenden Macht unser moralisches Verhalten? Studien sagen: eher nein, die meisten Menschen glauben: eher ja. © Michael Höefner / CC-by-sa 3.0

„Höhere Macht“ entscheidend

Der Hang zur Unmoral wird dabei nicht Skeptikern und Ungläubigen im Allgemeinen zugeschrieben, sondern spezifisch nur Menschen, die nicht an eine höhere Macht glauben, wie Zusatzexperimente ergaben. Darin hielten die Teilnehmer Evolutionsleugner, Horoskop-Gläubige oder Klimaskeptiker seltener für den Täter als einen Atheisten. Der mögliche Grund dafür: Weil Atheisten nicht an eine übernatürliche, regulierende Macht glauben, halte Menschen sie intuitiv eher für unkontrolliert und eine potenzielle Gefahr für die soziale Gemeinschaft.

„Damit enthüllen unsere Ergebnisse eine große Kluft zwischen der wissenschaftlichen Sicht zum Zusammenhang von Religion und Moral und dem, was Laien darüber annehmen“, konstatieren Gervais und seine Kollegen. Denn psychologischen Studien nach kann Religion zwar möglicherweise einige moralische Entscheidungen beeinflussen. Die moralischen Grundinstinkte jedoch sind davon unabhängig. (Nature Human Behaviour, 2017; doi: 10.1038/s41562-017-0151)

(Nature, 08.08.2017 – NPO)

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