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GeoUnion

Schattenwirtschaft in Megastädten

Interview über Bedeutung und Ausmaß informeller Aktivitäten

Straßenverkäufer © Frauke Kraas

Schuhputzer, Straßenverkäufer oder Müllsammler – das Überleben für die Menschen in den Megastädten der Entwicklungsländer ist ein hartes Geschäft. Schätzungsweise die Hälfte aller Einwohner bestreitet den kargen Lebensunterhalt durch Beschäftigung in der so genannten Schattenwirtschaft, ohne soziale Sicherung und Unterstützung im Krankheitsfall. Keine Arbeit – kein Überleben, so heißt in der Regel die unbarmherzige Formel im informellen Sektor.

In einem Interview schildert Frauke Kraas hierzu neueste Entwicklungen und Forschungsergebnisse. Die Vizepräsidentin der GeoUnion Alfred-Wegener-Stiftung ist Professorin für Anthropogeographie an der Universität zu Köln und hat sich auf die Erforschung von Megastädten spezialisiert.

g-o.de:

Was verstehen Sie unter dem informellen Sektor, der bei uns auch als Schattenwirtschaft bezeichnet wird?

Kraas:

Entsprechend der Definition der International Labour Organization (ILO) versteht man unter dem informellen Sektor den Teil der Wirtschaft, der sich einer ordnungsgemäßen Registrierung durch Behörden entzieht und der entsprechend ungeregelt, d.h. jenseits festgeschriebener Regeln abläuft. Je nach Art und Tiefe der Regeln und Gesetze einer Gesellschaft zählen somit eine Vielzahl von wirtschaftlichen Tätigkeiten hinzu, die von der Nachbarschafts- und Haushaltshilfe über Straßenhandel und Kleintransporte bis hin zu illegalen Tätigkeiten (Drogenhandel, ggf. Prostitution) reichen. Man darf jedoch nicht daraus schließen, dass der informelle Sektor automatisch gleichzusetzen ist mit Illegalität, denn ein Staat kann – wiederum je nach der Art der Gesetze und Regeln – informelles Agieren auch ohne offizielle Genehmigung und Registrierung dulden oder ignorieren. Entscheidende Kennzeichen für den informellen Sektor sind: Fehlende soziale Absicherung, fehlende Arbeitsrechte und –regeln, kleinbetriebliche Strukturen, geringe Kapitalverfügbarkeit, geringe und unsichere Umsätze und Gewinne.

g-o.de:

Was sind die Ursachen für diese wirtschaftliche „Parallelwelt“ mit ihren ganz eigenen Gesetzen?

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Kraas:

Die Ursachen der Informalität sind sehr vielfältig und lassen sich nicht auf eine knappe Formel bringen. Eine der Hauptursachen liegt zum einen in der Tatsache, dass für die Millionen von Menschen, die in den letzten Jahren in die Megastädte der Entwicklungsländer gewandert sind, keine ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten in der formellen Wirtschaft zur Verfügung stehen, so dass die Menschen ihr Überleben durch Annahme kurzfristiger, gering bezahlter Tätigkeiten sichern müssen. Zum anderen haben sich eine Vielzahl von nicht-registrierten, kleinen bis großen „Unternehmen“ entwickelt, die hochflexibel Arbeiten vergeben können, für die ein breites Angebot von un- und angelernten Arbeitskräften zur Verfügung stehen.

Straßenverkäufer © Frauke Kraas

g-o.de:

Warum ist diese Informalität gerade ein Phänomen der Megastädte der Entwicklungsländer und welche Bedeutung hat sie für die Stadtstrukturen?

Kraas:

Die Megastädte der Entwicklungsländer wachsen enorm schnell und gerade dort entziehen sich damit die wirtschaftlichen Entwicklungen in vielen Bereichen einer Steuerung durch eine städtische Verwaltung. Industrie und Dienstleistungen entfalten sich so enorm dynamisch, so dass die staatlichen bzw. verwaltungsbezogenen Regelwerke und die Registrierung der Arbeitskräfte nicht mit dieser Entwicklung mithalten können. Es bestehen oft ungeheure wirtschaftliche Möglichkeiten für die Zugezogenen, und sei es für einen begrenzten Zeitraum. Die Megastädte entwickeln sich infolgedessen weitgehend ungeregelt und entziehen sich entsprechend in vielen Bereichen einer Steuerung.

g-o.de:

Lange Zeit glaubte man, dass eine zunehmende Industrialisierung der Entwicklungsländer auch zu einem Rückgang der Informalität führen würde. Ist dem so?

Kraas:

Nein, denn mit der Industrialisierung in den Megastädten der Entwicklungsländer ist nicht automatisch zugleich eine zeitgleich stattfindende Entwicklung auch der Gesetze, Regelsysteme und Steuerungsformen verbunden. Im Gegenteil: Die Wirtschaften der Megastädte werden durch die hohe Flexibilität in gewisser Hinsicht den Fortbestand der wirtschaftlichen Dynamik.

g-o.de:

Wie wird sich der informelle Sektor in Zukunft entwickeln? Ist ein Trend zu erkennen?

Kraas:

Es sieht so aus, dass der informelle Sektor zur Normalität für Millionen von Menschen wird – wie er dies nicht ohnehin bereits seit langem ist. Derzeit zeichnet sich ab, dass der informelle Sektor sich in den Megastädten immer weiter entfaltet.

g-o.de:

Welche Aufgaben stellen sich der Forschung auf diesem Gebiet in Zukunft?

Kraas:

Die Komplexität und Spannbreite der Informalität ist bisher wenig untersucht. Hierzu gehört die Erweiterung des Verständnisses von Informalität sowie der Verbindungen zwischen den informellen und formellen Sektoren. Auch die Spannbreite der Informalität zwischen nicht-staatlichen, nicht-registrierten, ungeregelten bis hin zu illegalen Aktivitäten (Drogengeschäfte, Schmuggel, Landbesetzung etc.) sowie die Mehrdimensionalität des Begriffes (z.B. Sicherheit vor Gewalt, Arbeitsplatzverlust, Terrorismus, Vertreibung) ist zu klären. Die Übergänge soziokulturell unterschiedlich interpretierten Verständnisses von Legalität und Illegalität (so ist z.B. in klientelistischen Systemen Korruption legal) und die Frage konkurrierender Rechtssysteme (etwa: vorkolonial- bzw. kolonialzeitlich implementierter, ethnisch begründeter, staatlich bzw. religiös verankerter Rechtsauffassungen) sind einzuschließen. Ziel ist auch die Erarbeitung von Theorie- und Modellansätzen, die zur allgemeinen Erklärung informeller Prozesse und Strukturen in Megastädten geeignet sind und auf einer engen Verknüpfung von natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnis¬sen basieren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat vor diesem Hintergrund in diesem Jahr ein sog. Schwerpunktprogramm bewilligt, welches sich in den kommenden sechs Jahren der Erforschung dieser Forschungsdefizite widmet.

Weiterführender Link:

MegaCity TaskForce der IGU

(Frauke Kraas (Universität zu Köln), 28.11.2005 – AHE)

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