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Archäologie

Rätsel um kopflose Skelette

Archäologen entdecken ungewöhnliche Bestattungspraktiken bei jungsteinzeitlichen Toten

Skelette
Nur einer dieser drei Toten aus der Jungsteinzeit wurde mit Kopf bestattet, den anderen beiden fehlt der Schädel. © Till Kühl/ Universität Kiel

Postmortal geköpft: In der Slowakei haben Archäologen einen ungewöhnlichen Fund gemacht. Im Graben rund um eine jungsteinzeitliche Siedlung entdeckten sie mehrere kopflose Skelette, denen zum Teil auch Hände und Füße fehlten. Offenbar wurden die fehlenden Schädel und Leichenteile aber erst einige Zeit nach dem Tod abgetrennt und die Toten dann an bestimmten Stellen des Ringgrabens bestattet. Warum, ist bislang rätselhaft.

Die Menschen der Jungsteinzeit waren beim Umgang mit ihren Toten nicht gerade zimperlich: Einige Kulturen gruben die Gebeine nach der Bestattung wieder aus, andere enthaupteten die Leichen und stellten die Schädel rituell zu Schau, spießten sie auf oder opferten sie in Steinzeitheiligtümern wie Göbekli Tepe. „Schädelkult und Leichenzerstückelung sind in der Jungsteinzeit weit verbreitet und mit magischen oder religiösen Vorstellungen verknüpft“, erklärt Johannes Müller von der Universität Kiel.

Doch welcher Sinn hinter den ungewöhnlichen und teils grausig erscheinenden Bestattungsritualen steckte, ist oft schwer nachzuvollziehen.

AUsgrabung
Ausgrabungen im slowakischen Vráble. © Sebastian Schultrich/ Universität Kiel

Skelette im Siedlungsgraben

Ein solches archäologisches Rätsel haben Müller und seine Kollegen bei Ausgrabungen in der Slowakei entdeckt. In der Nähe von Vráble liegen die Überreste von drei jungsteinzeitliche Siedlungen aus der Zeit vor rund 7.100 Jahren. Diese Ortschaften bestanden aus bis zu 69 Häusern und könnten von knapp 600 Menschen bewohnt gewesen sein – für diese Zeit und Region war dies viel, wie das Team erklärt. Eine der Siedlungen war zudem mit einem umlaufenden Graben und einer Palisade gegen Angriffe und Eindringlinge befestigt.

In diesem Graben stießen die Archäologen auf zahlreiche Skelette, die in mehrerer Hinsicht auffällig waren. So war ein Teil dieser Toten zwar in gehockter Haltung und mit Tongefäßen als Grabbeigaben begraben worden – durchaus im Einklang mit den Bestattungspraktiken der Linearbandkeramik-Kultur der Jungsteinzeit. Die Deponierung dieser Toten im Graben der Siedlung war jedoch ungewöhnlich. Zudem schienen diese Toten immer nur an bestimmten Stellen des Grabens bestattet worden zu sein: dort, wo dieser durch Durchgänge unterbrochen war.

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Vier Tote ohne Kopf

Noch rätselhafter jedoch: Vier dieser Toten waren in nicht typischer Hockstellung beerdigt, sondern lagen scheinbar achtlos entsorgt im Graben. Zudem fehlte diesen Skeletten der Schädel und auch Hände und Füße waren zum Teil entfernt worden. Nähere Analysen enthüllten, dass Kopf und Gliedmaßen bei diesen Toten erst einige Zeit nach dem Tode und nach Einsetzen der Verwesung abgenommen worden waren. „Da der Modus operandi bei diesen Skeletten identisch war, scheint klar, dass diese Behandlung Teil einer rituellen Praxis in der Vráble-Gemeinschaft gewesen sein muss“, konstatieren Müller und seine Kollegen.

Auffallend auch: Die Gebeine von vielen in Vráble gefundenen Toten weisen Bisspuren und andere Knochenschäden auf, wie sie typischerweise durch kleine, aasfressende Tiere auftreten. „Dies legt nahe, dass die Leichen einige Zeit unbedeckt liegen gelassen wurden oder nur in einer flachen Grube unter einer sehr dünnen Decke lagen“, berichten die Archäologen. Ihrer Ansicht nach waren die Zwischenlagerung der Körper, ihre Bestattung im Graben und die gezielte Entnahme bestimmter Körperteile bewusste Akte, die definierten Regeln folgten.

Waren es Außenseiter ihrer Gemeinschaft?

Doch warum wurden die Toten auf diese Weise behandelt? „Um zu einer Erklärung zu gelangen, mussten wir den Fall ganz ausrollen, wie in einem Kriminalfall jedes Detail betrachten“, erläutert Teamleiter Martin Furholt von der Universität Kiel. Eine Möglichkeit wäre, dass die Bestattung der Toten im Siedlungsgraben Ausdruck ihrer sozialen Stellung war: Es könnte sich um Außenseiter, Verbrecher oder auch Angehörige rivalisierender Gruppen gehandelt haben, wie die Archäologen erklären.

Tatsächlich stellten die Wissenschaftler eine Gemeinsamkeit bei drei der vier kopflosen Gebeine fest: Alle drei Toten schienen zu Lebzeiten unter Fehlbildungen der Wirbelsäule gelitten zu haben. Bei einem war der Rückenmarkskanal im unteren Rücken nicht vollständig geschlossen, was auf eine Spina bifida – einen offenen Rücken – hindeuten könnte. Der zweite hatte fehlgebildete Wirbel im Brustkorb und beim dritten fand sich eine Verschmelzung mehrerer Wirbel im Halsbereich.

Möglicherweise, so die Hypothese der Archäologen, waren diese Menschen körperlich und vielleicht auch geistig behindert und daher Außenseiter in ihrer Gemeinschaft. Das könnte erklären, warum sie in anderer Position und ohne Kopf beerdigt worden waren.

Oder steckten Schutzrituale dahinter?

Hinzu kommt, dass die Bestattungen der Toten in einer Zeit erheblicher kultureller Umwälzungen stattfanden: „Um 5000 vor unserer Zeitrechnung haben die Menschen lange genutzte Siedlungen aufgegeben und neue gegründet. Architekturen, Werkzeuge und überregionale Kommunikationsstrukturen veränderten sich erheblich“, erklärt Ivan Cheben von der slowakischen Akademie der Wissenschaften in Nitra. Dabei wurden auch die Toten- und Bestattungsrituale vielfältiger und regionaler.

Die Archäologen halten es daher auch für möglich, dass die kopflosen Toten von Vráble eine spezielle Bedeutung für die Siedlungsgemeinschaft hatten und dass ihr Tod und ihre Bestattung rituell-religiöse Zwecke erfüllte. „Das Deponieren der Körper in den Gräben kann als Ausdruck einer Botschaft an die Natur oder Gottheiten erachtet werden. Mit ihren rituellen Akten haben sie versucht, ihrer Umwelt Struktur zu verleihen und diese zu beeinflussen“, erklärt Furholt. Die Position der Toten in den Durchgängen des Siedlungsgrabens könnte daher auch einem rituellen Schutz der Dorfgemeinschaft gedient haben. (Archaeology in the Žitava valley I; Scales of Transformation in Prehistoric and Archaic Societies 09)

Quelle: Universität Kiel

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