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Paläontologie

Mysteriöses Urzeit-Monster enträtselt

300 Millionen Jahre altes "Tully-Monster" entpuppt sich als frühes Wirbeltier

Neue Rekonstruktion von Tullimonstrum gregarium: Der Wirbeltier-Ahne hatte eine Zangenschnauze und Stielaugen. © Sean McMahon/ Yale University

Nach 50 Jahren Rätselraten ist sein Geheimnis nun gelüftet: Forscher haben endlich herausgefunden, worum es sich bei dem mysteriösen Tully-Monster handelt – einem 300 Millionen Jahre alten Fossil, das massenhaft in einer Gesteinsformation in Illinois gefunden wurde. Demnach ist dieses bizarr aussehende Wesen weder Wurm, Schnecke noch Gliedertier, sondern stattdessen eine frühe Vorform der Wirbeltiere, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.

Die Mazon Creek Formation im US-Bundesstaat Illinois ist eine besonders ergiebige Fossilien-Fundstätte. Denn vor rund 300 Millionen Jahren, im Zeitalter des Karbon, lag hier ein tropisches Flussdelta, in dessen sumpfigen Ablagerungen viele Pflanzen und Tiere der damaligen Zeit begraben und als Fossilien bis heute konserviert wurden. Unter ihnen ist auch das „Tully-Monster“. Dieses offiziell Tullimonstrum gregarium getaufte Wesen wurde dort in Massen gefunden – aber worum es sich dabei handelt, blieb bis heute rätselhaft.

Stielaugen und eine Zange als Mund

Erstaunlich ist dies nicht, sieht dieses Fossil doch reichlich bizarr aus: Das rund zehn Zentimeter große Tully-Monster trägt an seinem Vorderende keine Mund, sondern nur einen langen Arm mit einer zahnbewehrten Zange am Ende. Die Augen dieses Tieres sitzen an den Enden zweier dünner, seitlich abstehender Augenstiele und der länglich-ovale, flossenbesetzte Körper scheint segmentartig gegliedert zu sein.

Wegen des offenbar gegliederten Körpers ordneten einige Paläontologen das Tully-Monster den Borstenwürmern zu, andere hielten es eher für eine Frühform der Meeresschnecken oder einen späten Nachfahren des im Kambrium lebenden Arthropoden-Vorfahren Opabinia. Dieser besitzt ebenfalls einen langen Rüssel mit Greifapparat am Vorderende.

300 Millionen Jahre altes Fossil des "Tully-Monsters", dieses gut erhaltene Exemplar gilt als Holotypus der Art. © Paul Mayer / Field Museum of Natural History

Was es wirklich mit dem mysteriösen Tully-Monster auf sich hat und wohin im Tierstammbaum es gehört, haben nun Victoria McCoy von der Yale University und ihre Kollegen erneut untersucht. Sie analysierten dafür mehr als 1.200 Fossilien dieses Rätseltieres aus dem Karbonzeitalter.

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Chorda statt Darm

Ihre Ergebnisse entlarven gleich mehrere vorherige Annahmen als Fehlinterpretationen. Eine davon ist der vermeintliche Darm des Monsters: In einigen Fossilien ist eine dünne, helle Linie zu erkennen, die sich an der Rückenseite des Tieres von einem Ende zum anderen zieht. Doch wie McCoy und ihre Kollegen nun belegen, handelt es sich dabei nicht um den Darm, sondern um eine Chorda – eine als elastischer Stab ausgebildete Vorform der Wirbelsäule, wie sie beispielsweise Neunaugen noch besitzen.

Bei Tullimonstrum beginnt diese Chorda an einer dreiteiligen, hirnähnlichen Struktur in der Augenregion der Tiere. Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass es sich um ein dem Nervensystem zugeordnetes Organ handelt. Zudem entdeckten die Forscher einige Fossilien, in denen zusätzlich zu der hellen Linie eine dunkle, kürzere Linie weiter bauchwärts erhalten war – der echte Darm.

Muskelpakete statt Segmente

Auch die vermeintlichen Körpersegmente, die frühere Paläontologen beim Tully-Monster zu erkennen glaubten, sind keine, wie die Forscher feststellten. Stattdessen handelt es sich um 20 bis 25 nacheinander angeordnete Muskelpakete, die sich bei der Fossilbildung zusammengezogen haben. Sie ziehen sich bis in den kurzen, von Flossen gesäumten Schwanz und könnten das Tully-Monster beim Schwimmen angetrieben haben.

Solche Muskelsegmente besitzen auch wir Menschen beispielsweise im „Six-Pack“ der Bauchmuskeln. Besonders ausgeprägt sind solche Myomere aber bei Neunaugen und anderen primitiven Chordatieren, wie McCoy und ihre Kollegen anführen.

Tullimonstrum besaß eine Chorda und gehörte daher zu den frühen Verwandten des Neunauges. © Sean McMahon/ Yale University

Mund mit Zähnen statt Greifzange

Und noch etwas enthüllte die nähere Untersuchung der Fossilien: Die Zange an ihrem Vorderende ist kein umgebildetes Bein, sondern eher eine zu einem Rüssel ausgezogene Schnauze. Denn bei einigen Exemplaren ist zu erkennen, dass der Darm vorne bis zur Greifzange reicht. An der Basis der Zange entdeckten die Forscher zudem eine dunkle, elliptische Struktur aus Knorpel oder Muskeln, die der Zunge der Neunaugen ähnelt.

Die Greifzange selbst erscheint nun ebenfalls in neuem Licht. Denn statt eines klauenbewehrten Anhangs scheint es sich um die Kiefer und Kauwerkzeuge des Tully-Monsters zu handeln. „Die Zähne sind denen von Neunaugen und Schleimaalen sehr ähnlich“, erklärt McCoy. „Sie bestehen meist aus einfachen, leicht nach hinten geneigten Keratin-Kegeln, die von weichem Gewebe umgeben in einer knorpeligen Basis stecken.“

„Ganz klar ein Wirbeltier“

Nach Ansicht von McCoy und ihren Kollegen lassen all diese Merkmale nur einen Schluss zu: Das Tully-Monster war weder Schnecke noch Gliedertier, sondern ein sehr früher Vertreter der Wirbeltiere. „Unsere phylogenetische Analyse platziert Tullimonstrum an der Basis der Linie, die zu den Neunaugen führt“, so die Paläontologen.

Nach 50 Jahren des Rätselratens ist damit endlich geklärt, was es mit dem mysteriösen Tully-Monster auf sich hat. Die Zuordnung des Rätseltieres bietet außerdem wertvolle neue Einblicke in die Evolution der Chordatiere und im Speziellen der Neunaugen. (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature16992)

(Nature, 17.03.2016 – NPO)

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