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Psychologie

Milgram-Experiment funktioniert heute noch

90 Prozent der Probanden verabreichten Elektroschocks – trotz Schmerzensschreien

Das Milgram-Experiment belegte: Schon die Anweisungen eines vermeintlichen Versuchsleiters reichen, um Menschen zu unmenschlichen Handlungen zu bewegen. © Rian Jackson/ iStock.com

Schockierend autoritätshörig: Die Mehrheit der Menschen ist offenbar dazu bereit, einem anderen Schmerz zuzufügen, wenn sie von einer vermeintlichen Autorität die Anweisung dazu bekommen. Das belegt eine Wiederholung des berüchtigten Milgram-Experiments durch polnische Forscher. 90 Prozent der Probanden gaben bereitwillig vermeintliche Elektroschocks – trotz sich steigernder Schmerzensschreie aus dem Nebenraum.

Vor mehr als 50 Jahren führte der US-Psychologe Stanley Milgram ein Experiment durch, das in die Geschichte einging. Er testete, wie weit Probanden darin gehen würden, einem anderen Menschen Elektroschocks zu verabreichen – und welche Rolle die Anweisungen einer „Autoritätsperson“ im weißen Kittel dafür spielte. Hintergrund dafür waren die damals die Nürnberger Prozesse und die Gräuel der Nazizeit.

Es zeigte sich: Selbst wenn aus dem Nebenraum laute Schmerzensschreie erschollen oder der Stromschlag sogar vermeintlich tödlich war, machten zwei Drittel der Probanden bis zum Ende weiter – obwohl ihnen anfangs gesagt worden war, dass sie jederzeit abbrechen können. „Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen“, schrieb Milgram dazu.

Wie ist das Verhalten heute?

Das Ergebnis des Milgram-Experiments schockierte. Doch würden sich Menschen heute noch genauso verhalten? Ist die Autoritätshörigkeit noch immer so groß? „Die große Mehrheit der Menschen würde heute wohl von sich sagen, dass sie sich niemals so verhalten würden wie im Milgram-Experiment“, sagt Tomasz Grzyb von der Universität Wrocław.

Ob das stimmt, haben Grzyb und seine Kollegen nun überprüft. Für ihre Studie rekrutierten sie 40 Männer und 40 Frauen verschiedenen Alters und Hintergrunds. Für die Teilnahme an einem „Lernversuch“ versprachen sie ihnen eine Belohnung von umgerechnet zwölf Euro. Vorgeblich ging es darum zu testen, wie gut Strafen das Gedächtnis und Lernen fördern. Alle Teilnehmer wurden darüber aufgeklärt, dass sie jederzeit abbrechen und das Geld trotzdem behalten konnten.

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Prinzip des Milgram-Experiments: Der Proband (L) soll den Schüler (S) mit einem Stromschlag bestrafen, wenn dieser falsch antwortet. Der Versuchsleiter (V) bestärkt den Probanden darin, weiterzumachen. © Wapcaplet/ CC-by-sa 3.0

Schmerzensschreie aus dem Nebenraum

Im Labor wurde dann ein vermeintlich zufällig ausgewählter „Schüler“ im Beisein der Versuchsperson an Elektroden angeschlossen. Dann nahm die Versuchsperson im Nebenraum vor einem Pult mit zehn Knöpfen Platz. Jeder verabreichte dem „Schüler“ angeblich einen Stromschlag steigender Spannung – von 15 bis 450 Volt. Die Teilnehmer erhielten nun die Anweisung, bei jeder falschen Antwort des „Schülers“ einen Knopf zu drücken und die Dosis jedes Mal zu erhöhen.

Verabreichten die Probanden einen vermeintlichen Stromschlag, ertönte aus den Nebenraum ein Schmerzensschrei – je stärker der Elektroschock, desto lauter und schmerzerfüllter der Schrei. Zögerte daraufhin die Versuchsperson vor dem nächsten Stromschlag, forderte ein mit weißem Kittel bekleideter „Versuchsleiter“ sie auf, weiterzumachen: „Bitte machen sie weiter!“, „Es ist absolut essenziell, dass sie fortsetzen!“.

90 Prozent machen bis zum Ende mit

Das schockierende Ergebnis: 90 Prozent der Versuchspersonen brachen nicht ab, sondern drückten sogar noch den zehnten Knopf – trotz der Schmerzensschreie aus dem Nebenraum. Und das, obwohl die Probanden davon überzeugt waren, dass sie tatsächlich einem „Schüler“ Schmerzen zufügten, wie anschließende Befragungen ergaben.

„Trotz der vielen Jahre, die seit Milgrams Original-Experiment vergangen sind, ist der Anteil der Menschen, die sich von einer Autorität zu so etwas bringen lassen, noch genauso hoch“, konstatieren die Forscher. „Das illustriert die extreme Macht dieser Situation und zeigt, mit welcher Leichtigkeit sich Menschen zu etwas bringen lassen, dass ihnen eigentlich widerstrebt.“

Der Anteil der vorzeitigen „Aussteiger“ war in diesem Experiment sogar so gering, dass die Forscher kaum feststellen konnten, ob eine Frau als „Schüler“ eher Skrupel weckt als ein männlicher. Zwar brachen die Versuchspersonen tendenziell etwas früher ab, wenn sie glaubten, einer Frau die Elektroschocks zu versetzen. Doch für eine statistische Signifikanz reichte die Zahl der „Abbrecher“ nicht, wie die Wissenschaftler berichten.

Typisch nur für Polen?

Wie ist dieses Verhalten der Probanden zu erklären? Ist die Autoritätsgläubigkeit bei uns tatsächlich noch immer so hoch, dass sie selbst moralische Skrupel überwindet? Den Ergebnissen des Experiments nach zu urteilen, gilt dies zumindest für die polnischen Versuchspersonen durchaus. „Man sollte betonen, dass das Milgram-Paradigma noch nie zuvor in Mitteleuropa getestet worden ist“, sagen die Forscher.

Nach Ansicht von Grzyb und seinen Kollegen könnte die Geschichte gerade Polens zumindest einen Teil der Probanden-Reaktionen erklären. Denn das politische System in Polen war bis 1989 von Zentralismus, Zensur und einem eher autoritären Regierungsstil geprägt. Erst dann begann auch in Polen eine westlich geprägte Demokratisierung. Möglicherweise wirkte die frühere Prägung zumindest in den älteren Probanden noch nach und förderte deren Neigung, den Anweisungen der vermeintlichen Autorität zu folgen.

Oder doch ein allgemeines Phänomen?

Allerdings: Auch die jüngeren Probanden, die nach 1989 geboren wurden, führten die Elektroschocks bereitwillig bis zum Ende durch, wie das Experiment zeigte. Das spräche eher gegen eine „typisch polnische“ Eigenheit und für eine grundlegende Neigung zur Autoritätshörigkeit zumindest bei Europäern und Amerikanern.

Das Milgram-Experiment enthüllte in den 1960er Jahren, wie authoritätshörig Menschen sein können.© Facemannn

Gestützt wird dies von einem 2016 in England durchgeführten Experiment nach ähnlichem Muster wie der Milgram-Test. Dabei stellten Forscher fest, dass beim Erteilen von Elektroschocks auf „Befehl“ bestimmte Hirnreaktionen gedämpfter ausfielen – genau die Signale, die normalerweise beim Nachdenken über die Folgen unserer Handlungen aktiv werden.

„Auch wenn sich die Gesellschaft geändert hat, ist selbst ein halbes Jahrhundert nach Milgrams Experiment noch immer eine erstaunliche Mehrheit von Versuchspersonen dazu bereit, einem hilflosen Mitmenschen Elektroschocks zu verabreichen“, so das Fazit von Grzyb. (Social Psychological and Personality Science, 2017; doi: 10.1177/1948550617693060)

(Society for Personality and Social Psychology, 15.03.2017 – NPO)

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