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Ökologie

Klimawandel: Biodiversität schwindet stärker als gedacht

Erstmals Einfluss der globalen Erwärmung auf die genetische Vielfalt innerhalb von Arten untersucht

Köcherfliege Drusus Discolor – eine der neun untersuchten Wasserinsekten, deren zukünftige Verbreitung in de Studie modelliert wurden. © Astrid Schmidt-Kloiber und Wolfram Graf

Wenn die Klimaerwärmung wie erwartet fortschreitet, könnten weltweit nahezu ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten aussterben. Wie Wissenschaftler jetzt herausfanden, muss die Rate des tatsächlichen Biodiversitätsverlusts jedoch möglicherweise deutlich nach oben korrigiert werden: Bis zum Jahr 2080 könnte in bestimmten Organismengruppen über 80 Prozent der genetischen Vielfalt innerhalb von Arten verschwinden, so die Forscher im Fachjournal „Nature Climate Change“. Die neue Studie ist die erste weltweit, die den Verlust der biologischen Diversität auf Basis der genetischen Vielfalt quantifiziert.

Die meisten gängigen Modelle zur Auswirkung des Klimawandels auf die Tier- und Pflanzenwelt, konzentrieren sich auf „klassisch“ beschriebene Arten, also Gruppen von Organismen, die morphologisch klar voneinander getrennt sind. Bislang nicht berücksichtigt wird die so genannte kryptische Diversität, die die Vielfalt genetischer Variationen und Abweichungen innerhalb beschriebener Arten umfasst und erst seit der Entwicklung molekulargenetischer Methoden voll erfasst werden kann. Sie ist neben der Vielfalt der Ökosysteme und Arten ein zentraler Teil der globalen Biodiversität.

Verbreitung von neun Wasserinsektenarten modelliert

In einer Pionierstudie haben Wissenschaftler des Biodiversität und Klima Forschungszentrums (BiK-F) und der Senckenberg Gesellschaft für Naturkunde daher den Einfluss der Klimaerwärmung auf die genetische Vielfalt innerhalb von Arten untersucht.

Dazu modellierten sie die Verbreitung von neun europäischen Wasserinsektenarten, die heute noch in mehreren höheren Gebirgslagen Mittel- und Nordeuropas im Oberlauf von Bächen vorkommen. Diese sind bereits gut untersucht, so dass die regionale Verteilung der innerartlichen Vielfalt und das Vorkommen von morphologisch kryptischen, evolutionären Linien bekannt sind.

Über 80 Prozent der genetischen Varianten könnten aussterben

Wenn die durch den Weltklimarat IPCC prognostizierte Klimaerwärmung eintritt, werden die Wasserinsektenarten nach den Modellberechnungen der Forscher im Jahr 2080 auf wenige, kleine Inseln, beispielsweise in Skandinavien und den Alpen, zurückgedrängt. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Erwärmt sich Europa nur um bis zu zwei Grad Celsius, so überleben acht der untersuchten Arten zumindest in Teilgebieten. Bei einer Erwärmung um vier Grad können sich bis 2080 wahrscheinlich nur noch sechs Arten in Teilgebieten halten.

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Die genetische Vielfalt wird aber durch das Aussterben lokaler Populationen in weitaus dramatischerem Umfang zurückgehen, so die Ergebnisse der Wissenschaftler. In der pessimistischsten Projektion würden bis 2080 84 Prozent aller genetischen Varianten aussterben, im „günstigsten“ Fall verschwänden immerhin gut zwei Drittel aller genetischen Varianten. Die untersuchten Wasserinsekten sind repräsentativ für viele Arten der Bergregionen Mitteleuropas.

Langfristig geringere Chancen für Entstehung neuer Arten und deren Überleben

Carsten Nowak, Biodiversität und Klima Forschungszentrum (BiK-F) und Senckenberg Gesellschaft für Naturkunde, erläutert: „Unsere Modelle der zukünftigen Verbreitung zeigen, dass die ‚Art‘ als solche meist überleben wird. Ein Großteil der jeweils nur an bestimmten Orten vorkommenden genetischen Varianten wird jedoch nicht überleben. Dabei gehen eigenständige evolutionäre Linien in anderen Regionen, wie beispielsweise den Karpaten, Pyrenäen oder den deutschen Mittelgebirgen verloren. Viele dieser Linien sind derzeit dabei, sich zu eigenständigen Arten zu entwickeln, werden aber nach den Modellberechnungen bereits auf dem Weg zur Artbildung aussterben.“

Außerdem sei die genetische Variation innerhalb der Art wichtig für die Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Lebensräume und klimatische Bedingungen. Ihr Verlust reduziere damit langfristig auch die Überlebenschancen einer Art.

Neuer Ansatz für Naturschutz

Hinter dem Artensterben verbirgt sich den Forschern zufolge also ein Verlust viel größeren Ausmaßes in Form des massiven Schwunds genetischer Vielfalt. „Die Verluste der biologischen Vielfalt, die im Zuge der Klimaerwärmung zu erwarten sind, werden in den bisherigen Studien, die sich nur auf Artenzahlen beziehen, vermutlich deutlich unterschätzt“, kommentiert Steffen Pauls vom BiK-F die Ergebnisse.

Hier liege aber auch die Chance, die genetische Vielfalt zu nutzen, um den Natur- und Umweltschutz effizienter zu machen. Ein derzeit viel diskutiertes Thema sei der Umgang mit Schutzgebieten unter Klimawandelbedingungen. Die Wissenschaftler der Studie plädieren dafür, Schutzgebiete auch danach auszurichten, wo in Zukunft sowohl geeigneter Lebensraum für die Art als auch ein hohes Maß an innerartliche genetischer Diversität erhalten werden könnte.

„In jedem Fall ist es an der Zeit“, so Nowak, „Biodiversität nicht als eine starre Anhäufung von Arten zu sehen, sondern als eine Vielzahl evolutionärer Linien, die in ständiger Änderung begriffen sind. Der Verlust einer solchen Linie, egal ob sie heute als eigene ‚Art‘ definiert ist oder nicht, kann potenziell einen massiven zukünftigen Biodiversitätsverlust bedeuten“. (Nature Climate Change, 2011; doi:10.1038/NCLIMATE1191)

(Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, 23.08.2011 – DLO)

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