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Europa: Kein Fluss strömt mehr frei

Dichte von Wehren, Dämmen und anderen Flussbarrieren ist nirgendwo so hoch wie hier

Rhone
Europäische Flüsse, hier die Rhone, werden von unzähligen Wehren, Staustufen, Schleusen und Dämmen an ihrem Lauf gehindert.© Gregory_DUBUS/ iStock.com

Trauriger Rekord: In Europa fließt kein einziger Fluss mehr ungehindert von der Quelle zur Mündung. Stattdessen stören mehr als 1,2 Millionen Wehre, Dämme oder Schleusen den Lauf der Fließgewässer. Damit kommt im Mittel auf alle 108 Meter eine Barriere – mehr als irgendwo sonst auf der Welt, wie Forscher im Fachmagazin „Nature berichten. Am stärksten ist die Fragmentierung der Flüsse im dicht besiedelten Mitteleuropa, am geringsten in den entlegenen Regionen Skandinaviens, Schottlands oder Islands.

Flüsse sind wichtige Lebensräume und bedeutende „Adern“ der globalen Stoffkreisläufe. Auf für uns Menschen sind sie unverzichtbar: Sie liefern uns Trinkwasser, treiben Wasserkraftwerke an und ermöglichen den Transport von Gütern. Doch an den Gewässern ist dies nicht spurlos vorübergegangen: Durch Staudämme, Wehre, Schleusen und andere Bauten hat der Mensch den Lauf der Flüsse gezähmt und verändert. 2019 ergab eine Studie, dass weltweit nur noch ein Drittel aller Flüsse ungehindert dahinströmt.

Europa Flüsse
Europa ist von Flüssen durchzogen. Die Farben kennzeichnen verschiedene Einzugsbecken.© EEA, Copenhagen, 2012

Daten aus 120 Datensammlungen und 36 Ländern

Doch wie sieht es damit in Europa aus? Das haben nun Barbara Belletti vom Polytechnicum in Mailand und ihre Kollegen in der bisher umfassendsten Erhebung ermittelt. Dafür sammelten sie Daten zu Wehren, Schleusen und Dämmen in 36 europäischen Ländern aus 120 regionalen, nationalen und globalen Datensammlungen. Diese Daten glichen sie untereinander ab und klassifizierten die Barrieren in sechs Kategorien.

Zusätzlich überprüften sie viele Einträge durch Besuche vor Ort. Bei diesen liefen die Forscher jeweils einen 20 Kilometer langen Flussabschnitt ab und kartierten alle Barrieren, die sie im Wasser erkennen konnten. Insgesamt erfassten die Wissenschaftler bei diesen Exkursionen 147 Flüsse und eine Gewässerlänge von 2.715 Kilometern, das entspricht rund 0,16 Prozent des gesamten europäischen Flussnetzwerks. Auf Basis aller Daten erstellten sie ein Modell, das die Fragmentierung für das gesamte europäische Flussnetzwerk von mindestens 1,65 Millionen Kilometer Länge zeigt.

1,2 Millionen Barrieren

Das Ergebnis: Kein einziger Fluss fließt auf unserem Kontinent noch auf ganzer Länge ungehindert bis ins Meer. Stattdessen stören und blockieren insgesamt rund 1,2 Millionen Barrieren den Lauf der europäischen Flüsse, wie die Studie ergab. Im Mittel liegen nur rund 108 Meter zwischen zwei Wehre, Dämme oder Schleusen. Insgesamt ist die Dichte der Barrieren damit höher als sonst irgendwo.

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„Das macht Europa zum wahrscheinlich am stärksten fragmentierten Flussnetzwerk der Welt“, konstatieren die Wissenschaftler. Den größten Anteil an dieser Fragmentierung haben jedoch nicht die großen und gut sichtbaren Staudämme und Schleusen. Stattdessen sind es vor allem kleinere Wehre und Staustufen, die den Lauf der Flüsse behindern. So machen Stufen und Sohlenschwellen rund 31,7 Prozent der Barrieren aus, Wehre rund 30 Prozent und Kanalisierungen unter Straßen rund 17 Prozent.

Mitteleuropas Flüsse sind am stärksten verbaut

Die Dichte der Flussbarrieren ist innerhalb Europas sehr unterschiedlich: Die höchste Dichte an Wehren, Dämmen und Co findet sich im dicht besiedelten Mitteleuropa. In Deutschland allein gibt es 224.658 Flussbarrieren – im Mittel 2,16 pro Flusskilometer. Noch fragmentierter sind die Flüsse in den Niederlanden: Dort sind im Schnitt 19,4 Barrieren pro Flusskilometer verbaut, wie die Wissenschaftler ermittelten.

Deutlich freier strömen dagegen Flüsse in entlegenen, weniger bevölkerten Gebieten wie Skandinavien, Schottland, Island oder auch einigen alpinen Gebieten. Auch einige Oberläufe von Flüssen im Baltikum oder Südosteuropa fließen noch relativ ungehindert. „Besorgniserregend ist allerdings, dass dies die Gebiete sind, in denen oft schon der Bau von Wasserkraftwerken geplant ist“, sagen Belletti und ihre Kollegen.

Viele Barrieren wurden übersehen

Die Ergebnisse enthüllen zudem, dass die wahre Fragmentierung der europäischen Flüsse bislang stark unterschätzt wurde. Denn die Zahl der Barrieren liegt um 61 Prozent höher als nach früheren Studien angenommen. Zum Teil liegt dies daran, dass es kein übergreifendes Register für Flussbarrieren gibt. Zudem sind viele ältere Bauwerke nicht einmal in lokalen Aufzeichnungen erfasst: „Viele Wehre beispielsweise wurden am Ende des 18. Jahrhunderts gebaut, manchmal sogar noch viel früher“, so Belletti und ihr Team.

Wehr
Viele Flussbarrieren sind nicht sehr hoch, wie dieses Wehr. © Name /CC-by-sa 4.0

Ebenfalls eine Rolle spielt, dass 68 Prozent der Flussbarrieren weniger als zwei Meter hoch sind und kaum oder gar nicht über die Wasseroberfläche hinaustragen. „In der Schweiz beispielsweise wird die Fragmentierung hauptsächlich durch rund 100.000 kleine Schwellen im Flussbett verursacht, die das erosionsbedingte Einschneiden der Flüsse in den Untergrund bremsen sollen“, erklären die Wissenschaftler. Solche Barrieren und auch niedrige Wehre werden leicht übersehen.

„Paradigmenwechsel nötig“

„Wir rufen daher zu einer besseren Kartierung vor allem dieser kleinen Barrieren auf, denn sie sind am häufigsten und die Hauptursache für die Fragmentierung“, sagen Belletti und ihre Kollegen. Dies sei auch wichtig, um die Biodiversität-Strategie der EU zu erfüllen. Denn nach dieser sollen 25.000 Kilometer der europäischen Flüsse bis zum Jahr 2030 wieder durchlässig und barrierefrei gemacht werden.

„Um dieses zu erreichen, ist aber ein Paradigmenwechsel der Flussrestaurierung nötig, der auch die Auswirkungen der kleinen Barrieren mitberücksichtigt“, konstatieren Belletti und ihr Team. „Zudem wird es für eine Wiederverbindung der Flüsse nicht ausreichen, alte Barrieren zu entfernen, wenn gleichzeitig neue Barrieren anderswo errichtet werden.“ (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-020-3005-2)

Quelle: Nature

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