Unsere Vorfahren besiedelten den Norden Europas mindestens 80.000 Jahre früher als bisher angenommen. Das belegt ein jetzt in „Nature“ veröffentlichter Fund von mehr als 800.000 Jahre alten Steinwerkzeugen in Großbritannien. Es handelt sich um den ersten Nachweis menschlicher Präsenz aus dieser Zeit nördlich des 45. Breitengrads. Die Vorgänger des Homo sapiens müssen sich demnach schneller und besser an die damals herrschende Kälte angepasst haben als bisher gedacht.
Die ersten Menschen kamen vor rund 1,8 Millionen Jahren aus Afrika nach Europa. An warmes Klima angepasst, waren sie hier mit immer kälteren und damit für sie ungewohnten Bedingungen konfrontiert, je weiter nördlich sie kamen. Anthropologen gingen daher bisher davon aus, dass die Frühmenschen nicht viel weiter als bis zum 45. Breitengrad gelangten – und damit vorwiegend südlich der Alpen und Pyrenäen blieben. Höchstens in kurzzeitigen wärmeren Perioden könnten sie auch weiter nach Norden vorgedrungen sein.
Steinwerkzeuge im Flusssediment
Doch diese Vorstellung muss jetzt komplett revidiert werden: Ein Team britischer Archäologen ist nahe dem Ort Happisburgh im britischen Norfolk auf Spuren von frühen Menschen gestoßen, die sehr viel älter sind als alles zuvor in dieser Region gefundene. Die in erst kürzlich freigelegten Flussablagerungen entdeckten Funde umfassen 78 grob bearbeitete Steinwerkzeuge und Bearbeitungsartefakte. Die Wissenschaftler, unter ihnen Nick Ashton vom British Museum und Chris Stringer vom Natural History Museum in London gehen davon aus, dass sie einst von den frühen Jägern und Sammlern zum Zerschneiden von Fleisch oder Holz eingesetzt wurden.
Polumkehr als Datierungshilfe
Aber wie alt waren die Relikte? Diese Frage ließ sich nicht an den Steinfunden selbst beantworten. Einen Hinweis gab die Magnetisierung der umlagernden Sedimente, da diese entgegen der Richtung des heutigen Magnetfelds magnetisiert waren. Das könnte bedeuten, so die Forscher, dass das Gestein aus der Zeit vor der letzten großen Polumkehr des irdischen Magnetfelds stammt. Sie ereignete sich vor 780.000 Jahren. Aus diesen geologischen Daten und der Datierung von Pflanzen- und Tierfossilien aus gleichen Schichten schließen die Forscher, dass die Funde 840.000 oder sogar 950.000 Jahre alt sind.
Klima wie in Nordskandinavien
Die frühen Menschen müssen damit die Region um Happisburgh während des letzten Teils einer zwischeneiszeitlichen Warmperiode besiedelt haben. Das Klima war – trotz „Eiszeitpause“ dennoch sehr kühl, vergleichbar dem im nördlichen Teil Skandinaviens heute. „Diese frühen Menschen ertrugen ein schwieriges Klima in einer harschem Nadelwaldumgebung“, so Ashton in einem Begleitartikel auf der Nature-Website. „Wir dachten nicht, dass die frühen Menschen mit diesen Umweltbedingungen klarkamen.“
Anpassungsstrategie des „Pioniermenschen“ unklar
„Wir wissen nicht viel über diesen frühen Menschen, aber wir spekulieren, dass es sich um die ausgestorbene Art Homo antecessor gehandelt haben könnte, den ‘Pioniermenschen’”, erklärt Stringer. „Denn er ist die einzige Menschenart, die bekanntermaßen zu dieser Zeit in Europa lebte.“
Noch ist nicht klar, wie sich die ursprünglich an sehr viel wärmere Bedingungen gewöhnten Frühmenschen an das raue Klima so weit im Norden anpassten – ob sie Feuer machten, Kleidung trugen oder Schutzbauten besaßen. Da an der Fundstelle bisher keine menschlichen Knochen gefunden wurden, geht der Paläontologe Stringer davon aus, dass sie nicht dort siedelten, sondern die Gegend vermutlich nur auf der Jagd oder einem Sammelzug durchzogen. Entsprechend schwierig ist es daher für die Forscher auch, Schlussfolgerungen über die Populationsgröße oder Sozialstruktur dieser Menschen zu ziehen.
Ein Video zum Fund der „ersten Briten“ findet sich auf der nature-website
(Nature, 08.07.2010 – NPO)