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Paläontologie

Artensterben durch Kettenreaktion

Neues mathematisches Modell erklärt Zusammenhänge zwischen Arten im Ökosystem

Die im Meer lebenden Ammoniten haben mehrere Massenaussterben überlebt, bei denen bis zu 90 Prozent aller Tierarten ausgestorben sind. Endgültig verschwunden sind diese Tiere erst bei dem letzten Massenaussterben vor rund 65 Millionen Jahren. © freeimages

Wie verläuft ein Massenaussterben? Löscht eine Katastrophe schlagartig ein ganzes Ökosystem aus, oder genügt der Tod einiger weniger Arten, um ein massenhaftes Artensterben zu verursachen? Mit einem neuen Modell beantworten Wissenschaftler aus Deutschland und der Schweiz diese Frage: Einzelne Arten sind demnach entscheidend für die Stabilität ganzer Ökosysteme, berichten die Wissenschaftler im Magazin „Physical Review Letters“. Auch zukünftige Massenaussterben sollen sich mit dem Modell erforschen lassen.

Fünfmal haben katastrophale Ereignisse in der Erdgeschichte bereits ein nachweisbares Massenaussterben verursacht, bei dem mehr als drei Viertel aller Arten von Lebewesen untergingen. Jedes Mal jedoch erholte sich die Artenvielfalt danach wieder. Ursachen sind vermutlich Naturkatastrophen von globaler Größenordnung, wie große Meteoriteneinschläge und Ausbrüche von Supervulkanen. Aber nicht jede derartige Katastrophe zieht – zum Glück – ein massenhaftes Artensterben nach sich. Umgekehrt wird allerdings auch nicht zwangsläufig jedes Massenaussterben durch ein globales Katastrophenereignis eingeleitet.

Schlüsselarten lösen Kettenreaktion aus

Wissenschaftler um Frank Stollmeier vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation haben ein mathematisches Modell entwickelt, um den Verlauf solcher Ereignisse zu rekonstruieren. Dieses Modell geht von zwei Ursachen für das Aussterben einer einzelnen Art aus: Entweder, Umweltbedingungen wie Temperatur oder Niederschlagsmenge ändern sich und machen ein Überleben unmöglich, oder eine andere unentbehrliche Art, etwa eine Futterpflanze, ein Wirtsorganismus oder ein bestäubendes Insekt, stirbt aus.

Besonders der zweite Fall, die Abhängigkeit von anderen Arten, wirkt sich Ökosystem haben: „Wenn es viele Arten gibt, die von wenigen Arten abhängig sind, ist das Ökosystem instabil“, erklärt Stollmeier. „Wenn dann wichtige „Schlüsselarten“ durch veränderte Umweltbedingungen aussterben, kann das eine Kettenreaktion auslösen und zu einem Massenaussterben vieler Arten führen.“ Wenn es dagegen wenige Arten gibt, die von vielen verschiedenen Arten abhängig sind, ist das Ökosystem stabil. Veränderte Umweltbedingungen könnten dann zwar viele einzelne Arten auslöschen, aber nicht innerhalb einer großen Kettenreaktion.

Entwicklung der Tier- und Pflanzenfamilien im Meer und an Land in den letzten 600 Millionen Jahren. Die Pfeile zeigen an, wann die fünf größten Massenaussterben stattfanden. Da in der Grafik anstatt einzelner Arten Tierfamilien aufgetragen sind, sind die Massenaussterben nur als kleinere Einbrüche zu erkennen. Denn dabei sind zwar drei Viertel aller Tier- und Pflanzenarten ausgestorben, aber nur wenige Familien mit sämtlichen Vertretern komplett verschwunden. © MPIDS / Frank Stollmeier

Unterschied zwischen Meer und Land

Das Modell der Wissenschaftler hilft auch bei einem großen Unterschied in der Entwicklung der Artenvielfalt zwischen Meer und Land: Im Meer stieg die Artenvielfalt bis vor 450 Millionen Jahren zunächst stark an, blieb dann aber lange Zeit konstant. Erst nach einem Massenaussterben vor etwa 200 Millionen Jahren nahm sie wieder rasant zu. Anders der Verlauf an Land: Hier begann der Anstieg zu der Zeit, während er im Meer stagnierte. Seither ist die kontinentale Artenvielfalt weiter gewachsen und hat die Vielfalt im Meer sogar übertroffen.

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Diesen Unterschied kann das neue Modell erklären: Eine zentrale Rolle im Modell spielt das Verhältnis zwischen der Wahrscheinlichkeit, dass eine Art durch Umwelteinflüsse ausstirbt, und der Wahrscheinlichkeit, dass eine neue Art entsteht. Dieses Verhältnis sollte laut dem Modell im Meer höher sein – und in der Tat: Eine Analyse von Fossilien-Datenbanken hat ergeben, dass Arten im Meer tatsächlich eher aussterben als an Land.

Instabile Ökosysteme – auch heute

Ein Grund dafür könnte sein, dass es im Meer weniger verschiedene Lebensräume gibt als an Land: „Wenn im Meer eine neue Art entsteht, die nicht ideal an die Umwelt angepasst ist, hat sie kaum eine Chance, einen neuen Lebensraum zu finden, in dem sie überleben könnte“, erklärt Studienleiter Jan Nagler von der ETH Zürich. „An Land ist das eher möglich, da es dort sehr viele unterschiedliche Lebensräume gibt.“ Wenn nun die Aussterbewahrscheinlichkeit deutlich kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit, dass neue Arten entstehen, bleibt das Ökosystem stabil und die Artenvielfalt wächst schnell.

Im umgekehrten Fall wächst die Artenvielfalt langsamer und das Ökosystem wird häufiger instabil. Dies war wahrscheinlich auch in den Ozeanen vor 450 Millionen Jahren der Fall: Es hatten sich zu viele Arten entwickelt, die von wenigen Schlüsselarten abhängig waren. Schon das Aussterben von einigen wenigen Arten führte zu einer fatalen Kettenreaktion. Somit wurde die Flora und Fauna anfällig für Massenaussterben, die das Wachstum verhinderten. Erst als das Ökosystem einen stabilen Zustand erreicht hatte, in dem weniger Arten von vielen abhingen, konnte die Vielfalt wieder ansteigen.

Mit ihrem Modell wollen die Wissenschaftler zwar hauptsächlich die Entwicklung der Artenvielfalt in der Vergangenheit erklären. Heutige und zukünftige Artensterben können sich damit jedoch ebenfalls besser verstehen lassen. Es gibt Anzeichen dafür, dass ein neues Massenaussterben begonnen hat – und wahrscheinlich ist der Mensch maßgeblich verantwortlich. Schon 20 bis 40 Prozent der heute bekannten Arten gelten als vom Aussterben bedroht. Leider ist bislang wenig erforscht, wie sie voneinander abhängen und welche Folgen das Aussterben einer bestimmten Art auf ganze Systeme hat. Diese Zusammenhänge soll das mathematische Modell ebenfalls wiedergeben können, um die Prinzipien des aktuellen Artensterbens zu verstehen.

(Physical Review Letters, 2014; doi: 10.1103/PhysRevLett.112.228101)

(Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, 18.06.2014 – AKR)

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