Die Hochgeschwindigkeits-Wüstenameisen der Art Cataglyphis fortis gehören zu den faszinierendsten Navigatoren des Tierreiches. Sie orientieren sich mit einem Kompass und einem Entfernungsmesser. Forscher der Universität Zürich haben nun herausgefunden, wie der Entfernungsmesser funktioniert: Die Ameisen zählen ihre Schritte. Diese Entdeckung könnte auch neue Impulse in der Entwicklung von technischen Navigationssystemen für Laufroboter geben.
In den Chotts und Salztonebenen der Sahara gehören die Wüstenameisen der Art Cataglyphis fortis zu den faszinierendsten Navigatoren des Tierreichs. Auf windungsreichen Beutesuchläufen jagen sie oft mehr als hundert Meter weit über strukturloses Wüstengelände, um dann geradlinig auf kürzestem Weg zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Auf menschliche Dimensionen übertragen hieße dies, nach 50 Kilometern
Hin- und Herlaufen in der Wüste ohne technische Hilfsmittel in Sekundenschnelle die Richtung und Entfernung zum Startpunkt angeben zu können.
Kompass und Entfernungsmesser
Für diese Wegintegration benötigen die Wüstenameisen sowohl einen Kompass, um die eingeschlagenen Richtungen, als auch einen Entfernungsmesser, um die zurückgelegten Distanzen zu messen. Wie Professor Rüdiger Wehner und seine Mitarbeiter in jahrelangen Arbeiten an ihrer Feldstation in Maharès/Tunesien und im Zürcher Labor zeigen konnten, bedient sich der Kompass eines für uns Menschen unsichtbaren Lichtphänomens am Himmel, das sich als Polarisationsmuster großflächig über die ganze Himmelhalbkugel spannt.
Jetzt ist es einem Team aus Zürcher und Ulmer Biologen gelungen, in raffinierten Verhaltensversuchen auch den Entfernungsmesser aufzuklären. In einer soeben in "Science" erschienenen Arbeit zeigen sie, dass Cataglyphis die Länge zurückgelegter Strecken über die Integration der Schritte misst, die sie beim Lauf ausführt, also gewissermaßen Schritte zählt. Der Entfernungsmesser funktioniert demnach als Schrittintegrator.
Stelzentiere und Stummelbeine
Dem Doktoranden Matthias Wittlinger ist es gelungen, den Wüstenameisen vor dem Zurücklaufen von einer Futterstelle zum Nest die Beinlänge operativ zu verändern, das heißt die Beine künstlich zu verlängern oder zu verkürzen. Die Folge war, dass die derart manipulierten Tiere die Rücklaufdistanz über- beziehungsweise unterschätzten – und zwar genau um den Betrag, um den die Tiere aufgrund der Manipulation ihrer Beine ihre Schrittlänge verändert hatten.
Anhand von Hochfrequenz- Videoaufnahmen ließ sich dies unmittelbar beweisen: Tiere mit verlängerten beziehungsweise verkürzten Beinen – "Stelzentiere" beziehungsweise "Stummelbeintiere" – machten entsprechend längere beziehungsweise kürzere Schritte. Der Schrittintegrator-Hypothese zufolge sollte sich dann das Ausmaß, um das die manipulierten Tiere ihre Rücklaufdistanz über- oder unterschätzen, aus der operativ bedingten Verlängerung beziehungsweise Verkürzung ihrer Schrittlängen quantitativ voraussagen lassen. Das gelang in der Tat: Die aus den Videoanalysen errechneten Erwartungswerte stimmten mit den beobachteten Rücklaufdistanzen der Tiere verblüffend gut überein.
Bedeutung für technische Navigationssysteme
Als nächstes wollen die Autoren untersuchen, wie die Schrittzahl sinnesphysiologisch gemessen und neurophysiologisch verrechnet wird. Welche Rolle spielen dabei die mechanorezeptorischen Sinnesorgane an und in den Beingelenken sowie die neuronalen motorischen Schrittgeneratoren?
Darüber hinaus dürfte der Nachweis eines distanzkodierenden Schrittintegrators nicht nur für die Grundlagenforschung, sondern auch für die Entwicklung technischer Navigationssysteme von Bedeutung sein. Denn Radfahrzeuge und Laufroboter sehen sich in unebenem Gelände ähnlichen Schwierigkeiten der Odometrie ausgesetzt wie die auf schlanken Beinen rennenden Wüstenameisen. Doch die Cataglyphen haben den Forschern schon gezeigt, dass sie mit ihrem Schrittintegrator relativ exakte Navigationsleistungen erbringen können.
(Universität Zürich, 30.06.2006 – AHE)