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Neurobiologie

Sind wir schlauer als unsere Vorfahren?

Kognitive Leistungsfähigkeit verändert sich im Lebensverlauf und über Generationen hinweg

Schach
Schachpartien können etwas darüber verraten, ob und wie sich die geistige Leistungsfähigkeit des Menschen in den letzten 100 Jahren verändert hat. © Halfpoint/ iStock.com

Schach als Messlatte: Forscher haben mithilfe von Schachpartien untersucht, in welchem Alter wir Menschen die höchsten geistigen Leistungen vollbringen und welche Unterschiede es zwischen den Generationen gibt. Demnach nimmt die kognitive Leistung bis etwa zum 35. Lebensjahr zu und fällt ab dem 45. Lebensjahr langsam wieder ab. Über Generationen hinweg hat die Leistungsstärke zugenommen, wie die Wissenschaftler ermittelten.

Als Maß der Intelligenz gilt üblicherweise der Intelligenzquotient (IQ). Berechnet wird dieser auf Basis von IQ-Tests, die verschiedene kognitive Fähigkeiten abfragen. Studien zufolge steigt der durchschnittliche IQ seit 100 Jahren an – was aber nicht unbedingt bedeuten muss, dass die Menschen tatsächlich schlauer geworden sind. Einen Einfluss auf den ermittelten Wert hat offenbar unter anderem die Schulbildung. Außerdem hat sich gezeigt, dass der IQ im Laufe der Pubertät stark schwankt.

IQ-Tests sind allerdings umstritten, da sie nur einzelne Fähigkeiten abfragen, die oft wenig mit dem Alltagsleben der Probanden zu tun haben. Außerdem finden die Erhebungen meist nicht zu wiederholten Zeitpunkten im Leben statt, sodass es schwierig ist, daraus abzuleiten, wie sich die kognitive Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter entwickelt.

Schachpartien seit 1890 analysiert

Um die Intelligenz verschiedener Generation unabhängig von IQ-Tests zu untersuchen, haben sich Forscher um Anthony Strittmatter vom Institut Polytechnique Paris für einen anderen Ansatz entschieden: „In unserem empirischen Modell greifen wir auf Daten aus dem professionellen Schachspiel zurück, das paradigmatisch für Kopfarbeit ist“, erklärt Strittmatters Kollege Uwe Sundern von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dabei nutzten sie Datenbanken, in denen sämtliche Turniere der Schachweltmeister aus 125 Jahren gespeichert sind.

Insgesamt analysierten die Forscher über 1,6 Millionen Züge aus mehr als 24.000 Partien der Jahre 1890 bis 2014. Um die Leistung der Spieler objektiv zu ermitteln, verglichen sie jeden Zug der menschlichen Spieler mit dem von einem Schachcomputer berechneten optimalen Zug. Anhand dessen konnten sie die kognitive Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Spielers während seiner gesamten aktiven Zeit berechnen.

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Steiler Anstieg in jungen Jahren

Dabei zeigte sich: Bis Anfang 20 steigerte sich die Leistungsfähigkeit der untersuchten Schachspieler deutlich, erreichte mit etwa 35 Jahren ein Plateau und nahm ungefähr ab einem Alter von 45 Jahren etwas ab. Gerade für höhere Altersstufen müssen die Daten aber mit Vorsicht interpretiert werden, sagt Sundern: „Das Problem besteht darin, dass professionelle Schachspieler ab einem gewissen Alter aufhören, öffentlich bei Turnieren zu spielen, weil sie nicht mehr gut genug sind.“

Durch diesen Selektionseffekt konnte die Studie nur die Daten der mutmaßlich fittesten älteren Spieler erfassen. „Wahrscheinlich würde die Kurve der kognitiven Leistungsfähigkeit etwas stärker abfallen, wenn wir weniger Selektion hätten, also die Spieler ihr Leben lang öffentlich Spiele absolvierten“, so Sundern.

Schlauer als frühere Generationen?

Zusätzlich zum individuellen Leistungsverlauf untersuchten die Forscher die Leistungsfähigkeit verschiedener Geburtsjahrgänge – und damit die Frage, ob heutige Menschen intelligenter sind als ihre Vorfahren. Es zeigte sich: Personen, die später geboren sind, spielen im Schnitt stärker als frühere Generationen. „Für die später geborenen Jahrgänge ist das Leistungsprofil insgesamt höher, außerdem nimmt ihre Leistung in jungem Alter steiler zu“, berichten die Wissenschaftler.

Warum aber sind heutige 30-Jährige besser im Schach als ihre altersgleichen Vorfahren vor 100 Jahren? „Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass die Rahmenbedingungen, unter denen wir aufwachsen, für die kognitive Entwicklung entscheidend sind. Und dazu gehört natürlich auch das technologische Umfeld“, erklärt Sundern. Ein besonders deutlicher Effekt zeigt sich beispielsweise seit den 1990er Jahren, als professionelle Schachcomputer für die breite Bevölkerung verfügbar wurden. Diese ermöglichten gerade jungen Spielern, sehr früh viel Erfahrung zu sammeln.

Ob aber die Menschen innerhalb der letzten 125 Jahre tatsächlich schlauer geworden sind, lässt sich aus den Daten nicht mit Sicherheit ableiten, wie auch die Wissenschaftler einräumen. Doch technische Möglichkeiten und verbessertes Training haben es uns offenbar ermöglicht, immer stärkere kognitive Leistungen abzurufen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.2006653117)

Quelle: Ludwig-Maximilians-Universität München

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