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Neurobiologie

Säuglinge: Mehr als nur instinktive Reflexe

Erste Armbewegungen von Neugeborenen könnten bewusste "Lernhilfen" sein

Säugling
Neugeborenen rudern oft unkoordiniert mit den Armen und Beinen – aber dahinter könnte System stecken. © miodrag ignjatovic/ Getty images

Bewusster als gedacht: Wenn Säuglinge scheinbar unkontrolliert mit ihren Armen fuchteln, ist dies mehr als nur instinktiver Bewegungsdrang, wie nun Beobachtungen nahelegen. Demnach erzeugen Neugeborene mit ihren Armbewegungen visuelle Reize, mit denen sie allmählich lernen ihre Arme gezielt zu steuern. Bekommen Säuglinge die Möglichkeit, ihre Arme frei zu bewegen, könnte das ihre Gehirnentwicklung fördern, so die Forschenden.

Säuglinge gelten als hilfsbedürftige Wesen: Sie können ohne einen Erwachsenen nicht überleben. Denn sie sind weder in der Lage ihre Gefühle noch ihren Körper bewusst zu steuern, weil ihre Großhirnrinde noch nicht ausgereift genug ist. Zwar versuchen Säuglinge, die Eindrücke ihrer Umwelt einzuordnen, können manchmal sogar falsche Silbenkombinationen erkennen und haben einen Sinn für Mengen und Physik. Gesten, Sprache und Bewegungen müssen sie aber dennoch erst lernen.

Hand ans Ohr

Aber sind die Bewegungen von Neugeborenen wirklich nur Reflexe? Oder könnten die sie bewusster gesteuert sein als bisher angenommen? Audrey van der Meer von der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens (NTNU) hält dies auf Basis ihrer bisherigen Forschungen für sehr wahrscheinlich. Messungen von Hirnströmen belegen beispielsweise, dass schon das Gehirn Neugeborener spezifische Erregungsmuster bei Annäherung von Objekten und auch seiner eigenen Arme zeigt.

Zudem beobachtete die Wissenschaftlerin, dass blinde Säuglinge ihre Arme zumindest in Teilen bewusst zu bewegen scheinen: Sie bringen ihre Arme immer dann zu ihrem Ohr, wenn sie die Stimme ihrer Mutter aus einem kleinen Lautsprecher an ihrem Handgelenk hörten. „Dieses Experiment lieferte starke Beweise dafür, dass Neugeborene in der Lage sind, ihre Arme bewusst in Richtung ihrer Ohren zu bewegen“, so van der Meer.

Erstes Training für die Auge-Hand-Koordination

Säuglinge könnten ihre scheinbar chaotischen Armbewegungen möglicherweise bewusster einsetzen als bislang angenommen, so die Überzeugung der Wissenschaftlerin. Demnach erzeugt der Säugling durch das Rudern mit den Armen einen visuellen Reiz, der ihm allmählich hilft zu verstehen, dass seine Arme tatsächlich an seinem Körper befestigt sind und als Werkzeuge zum Berühren und Fühlen seiner Umgebung verwendet werden können.

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„Kinder werden nicht mit einem detaillierten Wissen über sich selbst geboren. Nach der Geburt muss das Baby lernen, die Bewegung der Arme mit dem Sehen in Verbindung zu bringen – und die Auge-Hand-Koordination entwickelt sich von Anfang an langsam und kontinuierlich“, erklärt van der Meer. „Auch Kinder müssen sich einen Bezugsrahmen für ihr Handeln schaffen. Sie nehmen die Umwelt in Relation zu ihrem Körper wahr.“

Allmählicher Lernprozess

Bis die Kinder die Bewegung ganz bewusst koordinieren können, durchlaufen sie einen schrittweisen Lernprozess: „Die ersten Bewegungen eines Babys mögen unbeholfen aussehen, aber das liegt nicht nur daran, dass das Baby ein unreifes Gehirn hat“, sagt van der Meer. „Vielmehr liegt es an rein biologischen Faktoren: dass wir mit einem großen und schweren Kopf geboren werden, der ein großes menschliches Gehirn beherbergt, und dass wir nach neun Monaten im Fruchtwasser noch nicht genug Muskelkraft aufgebaut haben, um mit der Schwerkraft umgehen zu können.“

„Wir hoffen zu zeigen, dass es nicht die primitiven Bereiche des Gehirns sind, die aktiv sind, wenn der Säugling seine Arme bewegt“, so van der Meer. Belegen soll das ein Experiment, bei dem Armbewegungen und Hirnaktivität von 25 drei Wochen alten Säuglingen parallel aufgezeichnet werden. Dafür befestigt das Forschungsteam Infrarotkameras an den Handgelenken der Kinder und zeichnet über eine Elektrodenkappe auf den Köpfen der Neugeborenen deren Hirnaktivität in Form eines Elektroenzephalogramms (EEG) auf.

In jedem Fall plädiert die Wissenschaftlerin dafür, dass Neugeborene früh die Möglichkeit bekommen sollten, ihre Arme frei zu bewegen und ihren Körper zu erkunden, um ihre Gehirnentwicklung zu fördern. Das Ausmaß und die Art des Umherruderns mit den Ärmchen könnte zudem verraten, ob sich Säuglinge und vor allem Frühgeborenen richtig entwickeln. Das könnte dabei helfen, bedürftige Kinder schon früh gezielt zu fördern.

Quelle: The Norwegian University of Science and Technology (NTNU)

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