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Neurobiologie

Rätsel des „Umschaltens“ beim Sehen gelöst

Entwicklung des Sehzentrums entschlüsselt

Karte der Orientierungspräferenz. Nervenzellen in der Sehrinde reagieren bevorzugt auf Kantenverläufe in einer bestimmten Richtung. Zellen, die auf die gleiche Richtung reagieren, sind in dieser Darstellung jeweils mit einer Farbe eingefärbt. © Bernstein Netzwerk

Bei neugeborenen Säugetieren verarbeitet jede Hirnhälfte nur Bilder aus dem jeweils gegenüberliegenden Auge. Erst im Laufe der Entwicklung werden die Aufgaben umverteilt. Jede Hirnhälfte verarbeitet dann Informationen aus beiden Augen. Für dieses nachträchliche Umschalten hatten Wissenschaftler keine Erklärung – bis jetzt. Eine in den „Physical Review Letters“ erschienene Studie enthüllt das Geheimnis.

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Handelt es sich bei dem nachträglichen Umschaltvorgang um ein Überbleibsel der Evolution – ähnlich der Ausbildung von Kiemen in der menschlichen Embryonalentwicklung? Denn immerhin behalten Fische beispielsweise diese „gegenäugige Sichtweise ihr Leben lang bei. Welche Bedeutung hat diese Entwicklung? Diese Fragen konnten jetzt Wissenschaftler vom Max- Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, vom Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Göttingen und von der Universität Jena klären. „Denn nur so kann die Architektur des Sehzentrums im Gehirn korrekt entstehen“, sagt Fred Wolf, der Leiter der Studie. (, 18. Mai 2009)

Auch Sehzellen bilden Karten

Zellen in der Sehrinde reagieren auf definierte Bildelemente wie Kanten und Konturen. Jede Zelle hat dabei eine „Orientierungspräferenz“ – das heißt, dass sie ist auf Kantenverläufe in einem bestimmten Winkel spezialisiert ist. Würde man Zellen gleicher Spezialisierung jeweils mit einer Farbe einfärben, bekäme man eine so genannte „Karte der Orientierungspräferenz“. Zellen ähnlicher Orientierungspräferenz liegen in der Regel nebeneinander.

Aber es gibt Ausnahmen, so genannte „Pinwheels“: Regionen, in denen ganz unterschiedliche Zellen zusammentreffen, wie im Zentrum eines Windrädchens. Diese Zellanordnung gewährleistet eine optimale Funktion des Gehirns bei möglichst kurzen Verarbeitungsstrecken – denn es muss sowohl Nervenzellen geben, die mit Zellen gleicher Orientierungspräferenz verschaltet sind, als auch solche, die mit Zellen anderer Orientierungspräferenz in Verbindung stehen.

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Rätsel der konkurrierenden Karten

Darüber hinaus antworten Zellen der Sehrinde bevorzugt auf Reize, die jeweils nur eines der beiden Augen sieht. Die entsprechende Karte der „Okulardominanz“ ändert sich im Laufe der frühen Entwicklung. Schon lange haben sich Wissenschaftler deshalb gefragt, wie diese verschiedenen Karten zustande kommen. „Es steht kein Ingenieur dahinter, der sie plant, sondern sie müssen durch Selbstorganisation während der Entwicklung entstehen“, sagt Fred Wolf vom Max-Planck- Institut für Dynamik und Selbstorganisation und dem Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience in Göttingen.

Viele Modelle für die Selbstorganisation des Gehirns konnten zwar die Entstehung der Karte der Orientierungspräferenz erklären, nicht aber deren Stabilität: Pinwheels unterschiedlicher Orientierung schienen sich gegenseitig auszulöschen. Um die Stabilität dieser Pinwheels zu verstehen, zogen die Wissenschaftler die Möglichkeit in Betracht, dass unterschiedliche Karten sich gegenseitig beeinflussen. In ihrem Modell halten Pinwheels einen möglichst großen Abstand zu den Grenzen in den Okulardominanz-Karten.

Vermeintlich „primitive“ Sehweise stabilisiert Sehkarten

Computersimulationen zeigten, dass unter diesen Voraussetzungen Pinwheels bestehen bleiben. Die Karte der Okulardominanz stabilisiert also die Karte der Orientierungspräferenz. Allerdings geschieht dies nur unter einer Bedingung: Entscheidend bei dem Prozess ist eine anfängliche Asymmetrie in der Karte der Okulardominanz – eben jener Eigenschaft, in der das Säugerhirn dem von Fischen ähnelt. Bei neugeborenen Säugern antwortet die Mehrzahl der Zellen in der Sehrinde bevorzugt auf Reize aus dem gegenüberliegenden Auge, Informationen aus dem anderen Auge gewinnen erst später an Einfluss. Wie die Wissenschaftler zeigten, hat dieser archetypische Entwicklungsverlauf auch heute noch eine

entscheidende Funktion: Nur so entsteht die Karte der Okulardominanz korrekt und kann somit auch die Entstehung der Karte der Orientierungspräferenz richtig steuern.

Ähnlich wie Okulardominanz und Orientierungspräferenz in der Sehrinde müssen vermutlich auch in anderen Gebieten der Großhirnrinde, die für die Verarbeitung komplexerer Informationen zuständig sind, unterschiedliche Repräsentationen in Einklang gebracht werden. Nur so können wir Bilder und

Worte oder akustische und visuelle Informationen zusammenbringen. Die Untersuchungen, wie sich Okulardominanz und Orientierungspräferenz gegenseitig beeinflussen, stellen vermutlich ein gut zugängliches Modell dieser allgemeineren Vorgänge dar.

(Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience, 25.05.2009 – NPO)

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