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Umwelt

Pestizide selbst in Naturschutzgebieten

Insekten in Schutzgebieten sind mit bis zu 27 verschiedenen Chemikalien belastet

Libelle
Insekten wie diese seltene Blauflügelige Prachtlibelle sind selbst in deutschen Naturschutzgebieten nicht vor Pestiziden geschützt. © alekseystemmer/ Getty images

Kein Schutz vor Chemie: Selbst in deutschen Naturschutzgebieten sind Insekten mit Pestiziden kontaminiert – kein einziges der untersuchten Schutzgebiete war unbelastet, wie nun eine Studie enthüllt. Pro Tier fanden sich dabei im Schnitt 16 verschiedene Spritzmittel, darunter Herbizide, Insektizide und Fungizide. Die Insekten hatten diese Chemikalien von Feldern aufgenommen, die bis zu zwei Kilometer von der Grenze des Naturschutzgebiets entfernt lagen.

Der Schwund ist unübersehbar: In den letzten Jahrzehnten sind die Bestände der Insekten weltweit stark zurückgegangen. In Deutschland hat sich durch diesen Schwund die Biomasse fliegender Insekten in 27 Jahren um gut 75 Prozent reduziert und auch andere Arthropoden sind messbar weniger geworden. Als Folge schwindet auch die Zahl der Vögel immer mehr – selbst ihre Gesänge sind schon ausgedünnt.

Doch was ist der Grund? Schon lange haben Wissenschaftler neben dem Verlust von Lebensräumen durch die Landwirtschaft auch die Pestizide im Verdacht. Denn einige von ihnen, wie die Neonicotinoide, können trotz zunächst anderslautender Angaben auch Insekten schädigen.

Malaisefalle
In solchen für Fluginsekten optimierten Netzfallen, sogenannten Malaisefallen, wurden die Insekten gefangen. © EVK /CC-by-sa 4.0

Probenanalyse in Naturschutzgebieten

Weitere Argumente für diesen Verdacht liefern nun die Daten von Carsten Brühl von der Universität Koblenz-Landau und seinen Kollegen. Für ihre Studie hatten sie über zwei Jahre hinweg untersucht, ob und wie stark in 21 deutschen Naturschutzgebieten gefangenen Insekten mit Pestiziden belastet sind. Erstmals ermittelte das Team dies nicht nur indirekt, über die Belastung von Luft und Boden, sondern analysierte direkt die in den Insekten selbst enthaltenen Chemikalien .

Möglich wurde dies, weil die Insekten für das Langzeitprojekt in sogenannten Malaisefallen gefangen werden. Dabei fliegen die Tiere in eine Art Netzkäfig und fallen dort in einen Behälter mit Alkohol. Dieser konserviert sie nicht nur, er wirkt auch als Lösungsmittel für die Pestizide. „Mit unserer Methode können 92 aktuell in Deutschland zugelassene Pestizide gleichzeitig in geringen Mengen analysiert werden“, erklärt Brühls Kollege Nikita Bakanov. Ausgewertet wurden im Zwei-Wochen-Abstand genommene Proben aus dem Jahr 2020.

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Bis zu 27 Pestizide auf einmal

Die Analysen enthüllten: In keinem einzigen der 21 untersuchten Naturschutzgebiete waren die Insekten frei von Pestiziden. Stattdessen fanden die Forschenden im Schnitt 16,7 verschiedene Chemikalien in den Tieren – die Spanne reichte von sieben bis 27 gemeinsam nachgewiesenen Pestiziden. „Unsere Daten zeigen deutlich, dass Insekten in Naturschutzgebieten mit einem Cocktail aus Pestiziden belastet sind“, sagt Brühl.

Dieses Ergebnis stützt die Befürchtung, dass Insekten und andere Tiere oft mehrere Pestizide aufnehmen und in ihren Geweben anreichern. Durch Wechselwirkungen der Mittel untereinander und sich gegenseitig verstärkende biologische Effekte kann dies dann die Schadwirkung erhöhen. Schon länger vermuten Wissenschaftler daher, dass dieser kumulative Effekt der Pestizide entscheidend für den Insektenrückgang sein könnte.

„Wenn man bedenkt, dass die Risikobewertung im Rahmen der Zulassungsverfahren von Pestiziden davon ausgeht, dass Insekten mit nur einem Pestizid in Kontakt kommen, liegt auf der Hand, wie realitätsfern diese Bewertungspraxis ist“, sagt Brühl.

Verbotenes Neonicotinoid

Unter den insgesamt 47 nachgewiesenen Spritzmitteln waren 13 Herbizide, 28 gegen Pilzbefall eingesetzte Fungizide und sechs Insektizide. Die drei Unkrautvernichtungsmittel Metolachlor-S, Prosulfocarb und Terbuthylazin, sowie die Fungizide Azoxystrobin und Fluopyram kamen an allen Probenstellen und in allen 21 untersuchten Schutzgebieten vor. Wie die Forschenden erklären, gehören diese Mittel zu den in Deutschland meistverkauften Pestiziden.

Sogar das Neonicotinoid Thiacloprid wiesen die Wissenschaftler in Insekten aus 16 der 21 Naturschutzgebiete nach. Dieses Insektizid ist seit Sommer 2020 in der EU für den Einsatz im Freiland verboten, weil es Bienen und andere Bestäuberinsekten schädigt. „Das häufige Vorkommen von Thiacloprid in unseren Proben spiegelt wahrscheinlich wider, dass die Bauern die letzte Chance genutzt haben, ihre Vorräte dieses Mittels noch zu verspritzen“, erklären Brühl und seine Kollegen.

Um Bauern genau dies zu ermöglichen, wurde ihnen noch bis Februar 2021 eine Übergangsperiode für das „Ausschleichen“ des Mittels eingeräumt. Doch wie die Studie zeigt, hat genau dies dazu geführt, dass besonders viel des schädlichen Thiacloprids ausgebracht wurde. „Es erscheint daher ratsam, keine solchen Übergangsperioden mehr einzuräumen und die Vorräte lieber zu vernichten, als sie trotz erwiesener Schadwirkung noch freizusetzen“, konstatieren die Forscher.

Belastung durch umliegende Felder

Die Belastung der Insekten mitten in Naturschutzgebieten wirft die Frage auf, woher ihre Belastung kommt. Denn innerhalb von Schutzgebieten ist ein Einsatz von Spritzmitteln in Deutschland verboten. Das Forschungsteam hat deshalb seine Daten mit einer ökologischen Raumanalyse kombiniert. „Wir wollten herausfinden, wo die Insekten die Pestizide aufnehmen“, erklärt Koautorin Lisa Eichler vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden.

Die Auswertung ergab: Quelle der Kontamination sind nicht die Schutzgebiete selbst, sondern die umliegenden Felder. „Die Flugstrecken von Insekten variieren von weniger als hundert Metern bis zu mehreren Kilometern“, erklären die Forschenden. Ihren Daten zufolge lag der Flugradius der untersuchten Insekten im Schnitt bei zwei Kilometern – und reichen damit weit in die konventionell bewirtschaftete Landschaft hinein.

Pufferzonen nötig

Nach Ansicht von Brühl und seinen Kollegen demonstriert dies, dass beim Zuschnitt der Naturschutzgebiete dringend nachgebessert werden muss. Denn bisher sind die meisten Naturschutzgebiete in Deutschland eher klein und weisen keinerlei Pufferzone zu gespritzten Feldern auf – oft grenzen solche Felder direkt an die Schutzgebiete. Ausgehend von ihren Ergebnissen fordern die Wissenschaftler, zum besseren Schutz der Insekten künftig zwei Kilometer breite Pufferzonen um die Schutzgebiete auszuweisen.

„Streng geschützte Lebensräume nach EU-Recht würden dann auch in der Realität vor Pestizideinflüssen geschützt“, sagt Brühl. In solchen Pufferzonen dürfte dann zwar Landwirtschaft betrieben werden, aber nur nach den Richtlinien des Ökolandbaus und damit ohne Pestizide. Da bis zum Jahr 2030 nach EU-Regelung ohnehin 25 Prozent der Agrarfläche ökologisch bewirtschaftet werden sollen, nach Beschlüssen der Ampelkoalition sogar 30 Prozent, könnte man dies für solche Pufferzonen nutzen. (Scientific Reports, 2021; doi: 10.1038/s41598-021-03366-w)

Quelle: Universität Koblenz-Landau

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