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Genetik

Ohrläppchen verblüffen die Genetiker

Hinter freien oder angewachsenen Ohrläppchen steckt mehr als nur ein Gen

Hängt das Ohrläppchen frei (links) oder ist es angewachsen? © STephan Bormotov, Kwangmooza/ iStock.com

Angewachsen oder frei hängend? Die Form unserer Ohrläppchen galt bisher als Paradebeispiel für die dominant-rezessive Vererbung eines Gens. Doch jetzt enthüllen DNA-Analysen: An der Ausprägung der Ohrläppchen sind 49 verschiedene Gene beteiligt – mindestens. Erst ihr Zusammenwirken entscheidet, ob dieses fleischige Ende der Ohrmuschel angewachsen ist oder frei herabhängt.

Dass die Form der Ohrläppchen etwas über den Charakter ihres Trägers verrät, ist ein Mythos – auch wenn im Mittelalter Frauen mit angewachsenen Ohrläppchen sogar als Hexen verfolgt wurden. Klar ist aber, dass es zwei Varianten der Läppchenform gibt: Bei den meisten Menschen hängt der fleischige untere Teil der Ohrmuschel frei und bildet einen Lappen. Deutlich seltener ist die angewachsene Variante. Bei dieser ist der vordere Teil des Läppchens mit der Wange verbunden.

Wer welche Ohrläppchen hat, ist dabei kein Zufall, sondern eine Sache der Genetik: Nach gängiger Theorie wird die Form des Ohrläppchens im dominant-rezessiven Erbgang weitergegeben. Bei diesem schon von Gregor Mendel beobachteten Vererbungsmuster bestimmen zwei Varianten (Allele) eines Gens die Ausprägung. Der Vergleich der Ohrläppchen ist bis heute daher in vielen Schulklassen ein beliebtes Genetik-Experiment.

Freie Läppchen sind dominant

Die Variante für das freie Ohrläppchen ist dominant: Bekommt ein Kind von seinen Eltern mindestens eines dieser Allele, wird es ebenfalls freie Ohrläppchen ausbilden. Die Variante für angewachsene Ohrläppchen ist dagegen rezessiv. Sie werden nur dann ausgeprägt, wenn das Kind von beiden Eltern dieses Allel erhalten hat.

Doch stimmt dieses simple Bild überhaupt? Das haben John Shaffer von der University of Pittsburgh und seine Kollegen in der bislang umfangreichsten Fahndung nach „Ohrläppchen-Genen“ nun überprüft. Sie untersuchten dafür Ohrenform und DNA von knapp 10.000 Teilnehmern und ihren Familien. Zusätzlich werteten sie die Gendaten von 65.000 Nutzern des kommerziellen DNA-Testlabors 23andme aus.

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Klassisch dominant-rezessiver Erbgang: Das rezessive Merkmal (blau) prägt sich nur dann aus, wenn es in beiden Allelen vertrten ist. © loveless/ CC-by-sa 1.0

49 statt nur eines Gens

Das überraschende Ergebnis: Die Form der Ohrläppchen wird keineswegs nur von einem Gen mit zwei Allelen bestimmt. Stattdessen sind mehrere Gene an diesem Merkmal beteiligt. Allein in den Daten der 10.000 direkt untersuchten Teilnehmer fanden die Wissenschaftler sechs Gene, deren Varianten über frei oder angewachsen entschieden. Die Daten der 23andme-Nutzer bestätigten die Rolle dieser sechs Gene, ergänzte diese aber noch um weitere 43 Gene, die ebenfalls mit beteiligt sind.

Insgesamt wirken demnach 49 Gene zusammen, um die Form unserer Ohrläppchen zu bestimmen. „Manchmal erweist sich die Genetik hinter einem vermeintlich einfachen Merkmal als erstaunlich komplex“, sagt Shaffer. Noch ist nicht klar, wie diese 49 Gene zusammenwirken und wer welche Aufgabe hat. Das wollen die Forscher nun als nächstes herausfinden.

Ist das Schul-Experiment damit falsch?

Bedeutet dies nun, dass der alte Schulgenetik-Versuch kompletter Mumpitz ist? Nicht unbedingt, wie die Forscher erklären. Denn das Vererbungsmuster könnte durchaus dafür sprechen, dass die für das Ohrläppchen zuständigen Gene zumindest zum Teil dominant-rezessiv vererbt werden. Theoretisch wäre es zudem möglich, dass die Gene mit Vorliebe gemeinsam – sozusagen als Block – weitergegeben werden. Auch das könnte das scheinbar einfache Muster erklären.

Nach Ansicht der Forscher könne Lehrer daher die Ohrläppchen-Form durchaus nutzen, um genetische Prinzipien zu verdeutlichen. „Sie sollten aber erklären, dass hinter einem vermeintlich simplen Merkmal wie freien oder angewachsenen Ohrläppchen eine komplexe Genetik stecken kann – und dass auch Genetiker diese erst beginnen zu verstehen“, sagt Shaffers Kollegin Eleanor Feingold. (American Journal of Human Genetics, 2017; doi: 10.1016/j.ajhg.2017.10.001)

(University of Pittsburgh Schools of the Health Sciences, 01.12.2017 – NPO)

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