Unser Langzeitgedächtnis ist weitaus fragiler als bislang angenommen: Denn es wird nicht als dauerhafte physikalische Veränderung in der Hirnstruktur gespeichert, sondern über eine kontinuierlich laufende, chemische „Gedächtnis-Maschine“ erhalten. Dieses Ergebnis einer jetzt in „Science“ veröffentlichten Studie widerspricht damit allen gängigen Vorstellungen über die Mechanismen unserer Erinnerung.
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Beruht unser Gedächtnis tatsächlich auf physikalischen Veränderungen der Gehirnstruktur, ähnlich dauerhaft wie die Inschriften auf einer Tontafel? Bisher war genau dies die gängige Ansicht in der Neurobiologie: Einmal abgespeichert, geht eine Information im Langzeit-Gedächtnis nicht mehr verloren. Doch diese Vorstellung scheint jetzt widerlegt. Denn Professor Yadin Dudai, Leiter der Neurobiologie am Weizmann Institute, und seine Kollegen haben in Versuchen an Ratten jetzt einen ganz anderen, weitaus dynamischeren Mechanismus aufgedeckt.
Enzym als Erinnerungsmolekül?
Die Forscher trainierten die Tiere zunächst darauf, Futter mit einem bestimmten Geschmack zu meiden. Dann injizierten sie ein Protein in den Gehirnteil, in dem die Verarbeitung von Geschmacksreizen stattfindet. Bereits zuvor hatte Todd Sacktor, einer der an der Studie beteiligten Wissenschaftler, ein Enzym mit der Bezeichnung PKMzeta in den Synapsen des Gehirns entdeckt und identifiziert. An diesen Verbindungsstellen der Nervenzellen werden die Signale von einem Neuron zum nächsten übertragen. Jetzt wollten die Forscher testen, ob dieses Enzym möglicherweise nicht nur einige Aspekte der synaptischen Struktur verändert, wie dies vorherige Studie bereits gezeigt hatten, sondern ob dieses auch eine Rolle in der Speicherung von Erinnerungen spielt.
Das den Ratten injizierte Protein blockiert die Funktion des Enzyms PKMzeta – und sollte, wenn letzteres wirklich eine Rolle für das Gedächtnis spielt, auch die Erinnerungsfähigkeit der Ratten beeinträchtigen. Und tatsächlich: Schon eine einzige Injektion des Blockade-Proteins reichte, um den Tieren jegliche Erinnerung an das erlernte Vermeidungsverhalten zu nehmen. Dieses Verfahren funktionierte auch dann, wenn die Injektion erst einen Monat nach dem Erlernen des Verhaltens gegeben wurde – umgerechnet auf die menschliche Lebenszeit entspricht dies immerhin einigen Jahren.
Schraubenschlüssel im Getriebe
Nach Ansicht der Wissenschaftler belegt dieses plötzliche Vergessen nicht nur, dass die von dem Enzym bewirkten Veränderungen in der Synapse eine Rolle bei der Gedächtnisspeicherung spielen, sondern auch, dass diese Veränderungen nur so lange anhalten, wie auch das Enzym aktiv ist. „Dieser Wirkstoff ist eine molekulare Version eines Schraubenschlüssels, der in einen laufenden Motor geworfen wird“, erklärt Dudai. „Wenn die Maschine stoppt, stoppt auch die Erinnerung.“
Mit anderen Worten: das Langzeit-Gedächtnis besteht nicht aus einer einmaligen, dauerhaften „Inschrift“ in das Netzwerk des Gehirns, sondern ist ein anhaltender Prozess, der vom Gehirn laufend aufrechterhalten werden muss. Das könnte auch bedeuten, dass zukünftig vielleicht Wirkstoffe entwickelt werden, die entweder das Gedächtnis verbessern – oder aber es löschen.
(Weizmann Institute of Science, 17.08.2007 – NPO)