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Medizin

Neue Therapie bremst Blutvergiftung aus

Bekannter Wirkstoff gegen Vergiftungen stoppt Entzündung bei Sepsis

200.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an einer Blutvergiftung – ein Drittel stirbt an den Folgen der außer Kontrolle geratenen Infektion. Eine neue Methode, eine solche Sepsis einzudämmen, haben jetzt Heidelberger Wissenschaftler entwickelt: Ein Wirkstoff, der sonst bei anderen Vergiftungen zum Einsatz kommt, unterbricht auch hier die Entzündungsreaktion effektiv, verursacht dabei aber weniger Nebenwirkungen und ist kostengünstiger als die bekannten Therapien.

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Die Sepsis – in Deutschland die dritthäufigste Todesursache, auf den Intensivstationen die Nummer eins – entwickelt sich infolge schwerer Erkrankungen, einer infizierten Verletzung oder nach großen Operationen. Ausgehend vom Krankheitsherd verteilen sich Erreger im ganzen Körper. Es kommt zu einer fatalen Kettenreaktion mit hohem Tempo: Entzündungen breiten sich im ganzen Körper aus, der Kreislauf kollabiert und der Organismus gerät in einen Schockzustand, die Blutgerinnung wird überaktiv und die Adern verstopfen. Schließlich versagen Nieren, Lunge, Leber und Herz.

„Seit einigen Jahren weiß man, dass Entzündungen vom vegetativen Nervensystem beeinflusst werden“, erklärt Privatdozent Dr. Markus Weigand vom Universitätsklinikum Heidelberg in der Fachzeitschrift „Critical Care Medicine“. Der Teil des vegetativen Systems, das den Körper in den Ruhezustand versetzt (Parasympathikus), kontrolliert über einen Regelmechanismus auch die Ausschüttung entzündungsfördernder Stoffe, der Zytokine. Der Regler ist der neuronale Botenstoff Acetylcholin: Je mehr Acetylcholin freigesetzt wird, desto weniger Zytokine gelangen in die Blutbahn – die Entzündung bleibt unter Kontrolle.

Körpereigenen Regelmechanismus in Gang setzen

„Bisher verabreichen wir bei einer Sepsis zum Beispiel Nikotin“, so Weigand. Es verhält sich ähnlich wie Acetylcholin und verhindert das weitere Voranschreiten der Entzündung. Gleichzeitig müssen die Mediziner den Erreger identifizieren, der die Entzündung verursacht. Das ist die Voraussetzung für die lebensrettende Antibiotika-Therapie.

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Doch Nikotin hat Nachteile: Das Gift der Tabakpflanze kann in den erforderlichen Mengen schwere Nebenwirkungen – wie Herzrasen bis hin zu Herzrhythmusstörungen – auslösen. Auch alternative Therapien bei septischem Schock beeinträchtigen stark Stoffwechselfunktionen oder Blutgerinnung.

Entzündungsreaktion effektiv gedrosselt

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe suchte deshalb Alternativen, den entzündungshemmenden Mechanismus in Gang zu setzen, und wurde bei bereits bekannten Wirkstoffen fündig: Physostigmin – bekannt als „Anticholium“ – und Neostigmin lindern Vergiftungserscheinungen unter anderem durch überdosierte Beruhigungsmittel oder Antidepressiva sowie durch den Verzehr giftiger Pflanzen aus der Familie der Nachtschattengewächse.

„Physostigmin und Neostigmin verhindern, dass Acetylcholin durch das Enzym Cholinesterase abgebaut wird“, erklärt Dr. Stefan Hofer, der Erstautor der Studie. „So steht mehr Acetylcholin zur Verfügung.“

In der aktuellen Studie an Mäusen drosselten die beiden Cholinesterase-Hemmer die Ausschüttung von Zytokinen und damit die Entzündungsreaktion ebenso effektiv wie Nikotin: Im Vergleich zu unbehandelten Mäusen hatten Tiere, die mit Physostigmin, Neostigmin oder Nikotin behandelt wurden, mehr als doppelt so hohe Überlebenschancen.

Neue Wirkstoffe mit weniger Nebenwirkungen

„Die Cholinesterase-Hemmer haben ein überschaubares Nebenwirkungsprofil und wir wissen genau, in welchen Fällen wir es ohne Risiko für den Patienten einsetzen können“, erklären Hofer und Mitautor Dr. Christoph Eisenbach.

Das Medikament kann problemlos über eine Infusion verabreicht werden. Außerdem ist die Behandlung mit dem Hemmstoff deutlich kostengünstiger: „Bisher kostet die Behandlung der Sepsis mehrere Tausend Euro; eine 24-stündige Behandlung mit einem Cholinesterase-Hemmer läge bei klinischer Anwendbarkeit der Therapie bei circa 200 Euro“, so der Anästhesist.

Therapieansatz im Praxistest

Im nächsten Schritt wird der neue Therapieansatz klinisch geprüft, eine entsprechende Studie durch das interdisziplinäre Studienzentrum der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg ist für Ende 2008 geplant. Hält die Therapie mit Anticholium, was sie verspricht, kann sie in den „Heidelberg Sepsis Pathway“ integriert werden – eine Therapieempfehlung mit Checklisten, die Weigand mit seiner Arbeitsgruppe entwickelt hat. Sie setzt internationale Behandlungsleitlinien um.

(idw – Universitätsklinikum Heidelberg, 25.04.2008 – DLO)

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