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Biologie

Misteln: „Unmögliche“ Atmung

Der Pflanze fehlt ein eigentlich überlebenswichtiger Enzymkomplex

Die Mistel verblüfft durch eine scheinbar unmögliche Zellatmung. © Hans-Peter Braun/ Leibniz Universität Hannover

Verblüffende Entdeckung: Der Mistelpflanze gedeiht problemlos, obwohl ihr ein eigentlich überlebenswichtiger Enzymkomplex fehlt, wie nun Gen- und Proteinanalysen enthüllen. Doch ohne diese Enzyme der Atmungskette kann kein höherer Organismus Energie für seinen Zellstoffwechsel erzeugen – so dachte man bisher. Die Mistel aber belehrt nun die Biologen eines Besseren. Wie ihr dieses „unmögliche“ Kunststück gelingt, muss nun erforscht werden.

Schon im Altertum schrieben Menschen der Mistel (Viscum album) besondere Fähigkeiten zu. Die selbst im Winter grüne Pflanze galt als potentes Heilmittel, spielte in der Mythologie eine wichtige Rolle und wurde von keltischen Druiden bei vielen Zeremonien genutzt. Heute weiß man, dass die Mistel tatsächlich heilsame Inhaltsstoffe enthält. Sie werden unter anderem bei Krebstherapien eingesetzt.

Wo sind die Gene hin?

Doch die Mistel hat noch eine entscheidende Besonderheit: Sie ist ein Halbparasit. Obwohl die Mistel selbst Fotosynthese betreibt, zehrt sie auch von ihren Wirtspflanzen. Von ihnen bezieht sie Wasser und Mineralien. „An Parasiten und Halbparasiten kann man viel lernen, da sie nicht alle Lebensprozesse selbst ausführen müssen“, erläutert Hans-Peter Braun von der Leibniz Universität Hannover.

In dieser Hinsicht allerdings gibt die Mistel Rätsel auf. Denn frühere Genanalysen deuteten darauf hin, dass in den Mitochondrien der Mistelpflanze einige wichtige Gene fehlen. Diese kodieren normalerweise Teile eines Enzymkomplexes, der für die Energieproduktion der Zellen entscheidend ist. Erst die Reaktionen der Atmungskette ermöglichen den höheren Zellen die Bildung der energiereichen Verbindung Adenosintriphosphat (ATP).

„Man dachte bislang, dass höheres Leben ohne diesen Komplex I nicht möglich ist“, sagt Braun. Forscher vermuteten deshalb bisher, dass die Mistel diese Enzymgene nur verschoben hat – vom den Mitochondrien ins Erbgut des Zellkerns. Ob das stimmt, nun gleich zwei Forscherteams unabhängig voneinander untersucht.

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Die Mistel ist ein Halbparasit - bezieht sie vielleicht doch mehr als nur Wasser und Minerale von ihren Wirtspflanzen? © Hans-Peter Braun/ Leibniz Universität Hannover

Einmalig bei einem Mehrzeller

Das überraschende Ergebnis: Die Mistel hat tatsächlich den gesamten Komplex I aus ihrem Genom gelöscht. Zwei weitere Bauanleitungen für wichtige Enzymkomplexe der Atmungskette sind zudem stark reduziert. Das Team um Etienne Meyer vom Max-Planck-Institut für Pflanzenphysiologie in Potsdam-Golm wies zudem nach, dass auch die von diesen Genen kodierten Proteine bei der Mistel nicht nachweisbar sind.

„Ein solcher Verlust wurde zuvor nur bei einzelligen Eukaryoten beobachtet“, sagt Meyer. „Dies ist der erste Fall eines mehrzelligen Organismus, der auf diese Weise einen Großteil seiner Zellatmung verloren hat.“ Braun ergänzt: Wir waren daher definitiv überrascht, dass die Mistel ohne diese Komplex überleben kann.“

Überlebenstrick bisher rätselhaft

Damit scheint klar: Die Mistel atmet grundlegend anders als andere Pflanzen und Tiere. Weil ihr der Enzymkomplex 1 fehlt, produzieren ihre Zellen deutlich weniger ATP als normal – und damit auch weniger Energie für den Zellstoffwechsel. Vor allem die Produktion von Zuckern, ein für Pflanzen entscheidender Teil des Wachstums, müsste dadurch eigentlich an Mangel leiden. Doch die Pflanze scheint dies problemlos zu überleben.

Warum, darüber können auch die Forscher bisher nur spekulieren. „Möglicherweise benötigt die Mistel weniger Zucker, weil sie langsam wächst und kein eigenes Wurzelsystem unterhalten muss“, vermuten Braun und seine Kollegen. Denkbar sei auch, dass die Mistel entgegen bisherigen Annahmen doch Zucker und andere Nährstoffe von ihren Wirtspflanzen übernimmt. „Unser Verständnis der Mistelpflanze und ihres Parasitismus ist bisher noch unvollständig“, so die Forscher. (Current Biology, 2018; doi: 10.1016/j.cub.2018.03.050; doi: 10.1016/j.cub.2018.03.036)

(Leibniz Universität Hannover, 07.05.2018 – NPO)

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