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Klima

Lebende Brücken für die Stadt

Bauwerke aus Luftwurzeln könnten urbane Zentren klimafreundlicher machen

Meghalaya-Brücke
Brücken aus den verschlungenen Luftwurzeln des Gummibaums Ficus elastica sind mechanisch äußerst stabil. © Ferdinand Ludwig

Alte Bautechnik: Brücken und andere Bauwerke aus lebenden Baumwurzeln könnten Städte besser gegen die Folgen der Erderwärmung wappnen. Denn sie sorgen für Kühlung und ein angenehmeres Klima, wie Forscher berichten. Abgeschaut haben sie sich die Technik in Indien. Dort bauen indigene Völker seit jeher Brücken aus den Luftwurzeln des Gummibaums – lebende Konstruktionen, die mechanisch äußerst stabil sind.

Vom nordindischen Meghalaya-Plateau führen unzugängliche Täler und Schluchten in die weiten Flächen Bangladeschs. In den Monsunmonaten schwellen die Gebirgsbäche in den Wäldern zu wilden Strömen an. Um diese überwinden zu können, bauten schon die indigenen Khasi- und Jaintia-Völker ihre Brücken aus den lebenden Luftwurzeln des Gummibaums Ficus elastica. „Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere hundert Jahre alt werden“, erklärt Ferdinand Ludwig von der Technischen Universität München.

Doch wie genau entstehen diese lebenden Brücken? Wie Ludwig und seine Kollegen erklären, war das Wissen um die alten Bautechniken bislang kaum schriftlich dokumentiert und auch wissenschaftliche Untersuchungen dazu gab es nur wenige. Um mehr über den Bauprozess herauszufinden, haben die Forscher nun Interviews mit indischen Brückenbauern geführt und die komplexe Wurzelstruktur von 74 solcher Brücken mithilfe tausender Fotos und 3D-Modellen unter die Lupe genommen. Außerdem kartierte das Team die Pflanzenbrücken erstmals.

Verknotete Luftwurzeln
Eine junge und eine etwas ältere Luftwurzel wurden zu einem Netzwerk verknotet, wodurch sie sich verkürzen und straffen. Später werden die Wurzeln an dieser Stelle miteinander verwachsen. © Ferdinand Ludwig

Stabil und hochkomplex

Die Auswertungen ergaben: „Üblicherweise beginnt der Bauprozess mit einer Pflanzung: Wer eine Brücke plant, pflanzt einen Setzling des Ficus elastica an einem Flussufer oder am Rand einer Schlucht ein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Wachstums entwickelt die Pflanze Luftwurzeln“, sagt Mitautor Thomas Speck von der Universität Freiburg. Diese Luftwurzeln werden dann um eine Hilfskonstruktion aus Bambusstangen oder Palmenstämmen geschlungen und horizontal über den Fluss geleitet.

Wenn die Wurzeln bis ans andere Ufer gewachsen sind, werden sie dort eingepflanzt. Sie entwickeln kleinere Tochterwurzeln, die ebenfalls an das Ufer gelenkt werden. Durch das stetige Pflanzenwachstum und unterschiedliche Schlingtechniken bilden die Wurzeln des Ficus elastica hochkomplexe Strukturen aus, die den Brücken eine große mechanische Stabilität verleihen. Immer wieder werden die neu wachsenden Wurzeln in die bereits bestehende Struktur eingearbeitet.

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Besondere Wurzeleigenschaften

Eine wichtige Rolle spielen dabei die Eigenschaften des Ficus elastica, wie die Wissenschaftler berichten: „Die Wurzeln reagieren auf mechanische Belastungen mit einem sekundären Wurzelwachstum. Außerdem sind die Luftwurzeln zu Verwachsungen fähig: Bei Verletzungen kommt es zur sogenannten Überwallung und Kallusbildung, ein Prozess, den man auch vom Wundverschluss bei Bäumen kennt. So können sich zum Beispiel zwei Wurzeln, die zusammengepresst werden, miteinander verbinden und verwachsen“, erläutert Speck.

Gebaut und instandgehalten werden die Brücken von Einzelpersonen, Familien oder auch mehreren Dorfgemeinschaften, die die Brücke nutzen. „Die lebenden Brücken sind also zum einen eine menschengemachte Technik, zum anderen aber auch eine ganz spezielle Form der Kultivierung einer Pflanze“, sagt der Forscher.

Bauwerk aus Pflanzen
In der Stadt Nagold wurde bereits ein Projekt der Baubotanik umgesetzt: Das Gebäude tritt durch die Platanenfassade weniger als Gebäude denn als Baum in Erscheinung. © ludwig.schönle

Nutzen für moderne Städte

Bis eine lebende Brücke aus Ficus elastica fertig ist, vergehen Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. An ihrem Bau beteiligen sich oftmals mehrere Generationen. Die Wissenschaftler sind überzeugt, dass diese traditionelle Bautechnik auch auf moderne Städte übertragen werden könnte. „Die Brücken sind ein einmaliges Beispiel für vorausschauendes Bauen. Davon können wir viel lernen: Wir stehen heute vor Umweltproblemen, die nicht nur uns betreffen, sondern vor allem nachfolgende Generationen. Dieses Thema sollten wir angehen wie die Khasi“, konstatiert Ludwig, der selbst Architekt ist.

Seiner Ansicht nach könnten die Erkenntnisse über die alten Techniken der indigenen Völker dabei helfen, die Architektur weiterzuentwickeln – vor allem im Hinblick auf klimafreundliche Stadtkonzepte. Denn indem Pflanzen ins Bauen integriert werden, sind urbane Zentren besser gegen die Folgen des Klimawandels gewappnet.

„Stein, Beton und Asphalt heizen sich bei hohen Temperaturen schnell auf, besonders in den Städten entsteht Hitzestress. Pflanzen sorgen für Kühlung und ein besseres Klima in der Stadt. Mit der Baubotanik muss nicht extra Raum für die Pflanzen geschaffen werden. Sie sind integraler Bestandteil der Bauwerke“, schließt Ludwig. (Scientific Reports, 2019; doi: 10.1038/s41598-019-48652-w)

Quelle: Technische Universität München

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